Dekonstruktionen der Heimat

„Es lebe Bonn!
Es lebe Deutschland!
Es lebe die deutsch-französische Freundschaft!“

Charles de Gaulle

 

Mein Vater, Theo Schnarhelt, geboren 1908 auf einem Bauernhof in einem damals kleinen Dorf im Südoldenburgischen, (in der Nähe von Bremen in Norddeutschland) war der Zweitälteste von sieben Kindern. Als ältester Junge war er somit der Hoferbe. Als der II. Weltkrieg ausbrach, blieb er als Bauer auf dem Hof, zusammen mit den Großeltern und seinen beiden Schwestern. Die Brüder waren in Norwegen, Russland und Nordfrankreich im Kriegseinsatz.

Erst gegen Ende des Krieges wurde auch mein Vater eingezogen, er war damals schon über 40. Allerdings kam er nur bis Augsburg – also nach Bayern. Dort wurde er von den französischen Truppen gefangen genommen und als Gefangener nach Frankreich transportiert. Die erste Station war dabei Toulon. Dort wurde er in einem Gefangenenlager interniert. Mit ihm zusammen auch ein Junge aus Schleswig-Holstein, der war gerade 17 Jahre alt, und mein Vater nahm ihn sofort unter seine Fittiche. Die beiden waren danach bis zum Tod meines Vaters befreundet und die Familien besuchten sich regelmäßig.

Dabei erzählten sie natürlich von ihren Erlebnissen während der Gefangenschaft. Tagsüber arbeiteten sie in einer Palmengärtnerei, ansonsten waren sie in einem Lager untergebracht, von Stacheldraht umzäunt. Die Arbeit war hart, das Essen mager, aber mein Vater fand immer wieder eine Gelegenheit, Eier zu besorgen oder auch ab und zu ein Huhn, Zigaretten und Wein. Die nächste Station war Hyères. Inzwischen hatte er schon ein paar Brocken Französisch gelernt, mit dem Akzent des Midi. Die dritte Station war dann Figanières, und ich glaube fast, mein Vater wäre am liebsten für immer dort geblieben. In meiner Kindheit und Jugend zu Hause, gab es kaum einen Tag, an dem mein Vater nicht von seiner Zeit in Frankreich erzählte. Von Madame Salomon, die in ihrer Jugend nach Paris ausgebüchst war und später ihren wesentlich älteren Mann heiratete, von ihren rot lackierten Fingernägeln und dem Baby, Bernadette, die geboren wurde oder gerade zur Welt gekommen war, als mein Vater in Figanières war.

Ich habe sie später alle kennen gelernt, als ich in der siebten oder achten Klasse war und mein Vater den Kontakt zu der französischen Familie wieder aufnahm. Bernadette war damals 21 und kam uns mit ihrem Mann und ihrem damals einjährigen Sohn besuchen. Mein Vater war so stolz und zeigte ihnen alles, was es in unserer nicht besonders attraktiven Gegend zu sehen gab. Und er sprach immer noch Französisch. Ein Jahr darauf kamen Bernadette, Jean-Claude und ihre beiden Kinder wieder zu uns. 14 Tage Regen, Eintopf, Braten und Kartoffeln. Den französischen Wein, den sie eigentlich fürs Mittagessen mitgebracht hatten, tranken wir abends. Dann kamen die Nachbarn und die Leute aus dem Dorf und erzählten, die einen auf Platt, die anderen auf Französisch. Mein Vater hatte die ausgebrannte Pfeife im Mund, meine Tanten kochten Tee und ich saß da und hörte ihnen neugierig zu.
Dann nahmen Bernadette meine Cousine und mich mit nach Frankreich, nach Figanières, dorthin, wo mein Vater drei Jahre als Kriegsgefangener gelebt hatte.

Es war heiß, man trank Pastis als Aperitif, Wein zum Essen, Oliven (die ich damals noch nicht mochte, ebenso wenig wie Kaninchen-Braten und Ziegenkäse). Ich lernte auch Madame Salomon kennen, deren Augen strahlten, als sie von meinem Vater Théo erzählte, dem Besitzer des Bar-Tabac, der sich noch sehr gut an meinen Vater erinnerte („Ah, Théo, c ́etait un bon homme et un filou!“). Das war 1974, ein Jahr bevor mein Vater starb. Sainte Marie, das kleine Haus in den Weinfeldern, in dem mein Vater damals schlief. Ich ging mit Madame Salomon, ihr Mann war längst gestorben, in die Weinfelder, zu den Olivenbäumen, mit Bernadette und Jean-Claude abends zum Dégustif in die Bar, wo wir draußen unter den Platanen saßen und Bernadette eine Royale nach der anderen rauchte und Espresso trank. Morgens, wenn ihr Mann zur Arbeit gefahren war nach Draguignan in die Crédit Agricole, kamen die ersten Freundinnen, tranken einen Café noir und erzählten den neuesten Klatsch.

Meistens zogen sie über jemanden her, regten sich auf, palaverten über dies und das. Mittags gingen wir zu Madame Salomon: Die ganze Familie und wir zwei Besucherinnen.

Wie gesagt, ich musste mich zuerst an das Essen gewöhnen. An manchen Tagen fuhr Bernadette mit uns an den Strand nach Ste. Maxime oder Saint Raphael, am Wochende nach Nizza, Ventimiglia oder Saint Tropez. Am 14. Juli war Fete de l`Aioli. Das ganze Dorf stellt die Tische nach draußen. Jeder brachte etwas zum Essen mit, betteraves rouges, Karotten und anderes Gemüse. Dazu die Aioli. Die beiden Häuser von Madame Salomon und Bernadette lagen mitten im Dorf, davor der Dorfbrunnen, der tagsüber etwas Kühle spendete und den man in der Nacht laut plätschern hörte. Unten in dem jahrhundertealten Steinhaus war die Diele mit den Gerätschaften für die Felder, aber auch das große Essiggefäß aus Ton, in dem alle Weinreste auf eine mère gegossen wurden, das selbst gepresste Olivenöl und die eingemachten Gläser. Bernadette zeigte uns, wie man aus Eigelb, Knoblauch und Olivenöl eine richtige Aioli machte, in einem großen Steinmörser und wo das Holz gestapelt lag. Und ich erinnerte mich an meinen Vater, der der schwangerern Madame Salomon das Holz für den Kamin geholt hatte. Ich erinnere mich an die Großmutter und die damals schon über 90-jährige Großtante, die tagsüber auf einem Stuhl hinter dem Haus saß mit Blick auf die Weinfelder. Die beiden alten Frauen waren immer schwarz angezogen und trugen einen Strohhut. Sie sprachen nur Provenzalisch und waren in ihrem Leben noch nie an der Cote gewesen.

Figanieres, das war in den Siebzigern noch ein Dorf mit 500 Einwohnern und Treppen, die zur höher gelegenen Kirche führten. Jahr für Jahr wurden es mehr, immer mehr Pariser bauten Wochenendhäuser oder zogen ganz in das nur 40 Kilometer von der Küste gelegene Dorf mit seinem unvergleichlichen provenzalischen Charme. Ich liebte das Dorf, die Menschen, die Sprache, das Essen, das ruhige Leben, überhaupt alles in Süd-Frankreich. Ich wollte in dem darauf folgenden Jahr mit meinem Vater dorthin fahren, mit dem Auto. Aber mein Vater starb. Sein größtes Geschenk, das er mir hinterließ, war meine Liebe zu diesem wunderbaren Land, der Sprache, deren Klang ich von Kindesbeinen auf gehört hatte und zu den Menschen.

Später studierte ich Französisch, lebte in Niort und jahrelang in Paris und fuhr in den Ferien immer wieder dorthin, wo mein Vater die wohl glücklichsten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Ich glaube, er hat es Zeit seines Lebens bereut, dass er zurück kommen und den Bauernhof in Norddeutschland weiterführen musste.

Wie passt das alles zu Rivesaltes, einem Lager für die unterschiedlichsten Opfergruppen im 20. Jahrhundert?

Auf den ersten Blick gar nicht. Bis auf die vergleichbar kurze Zeit in dem Lager in Toulon, hat mein Vater ein freies, selbstbestimmtes und , man möchte fast sagen „paradiesisches Leben“ geführt, angesichts all der Zerstörung, Zerbombung, Feindschaft, der Gräueltaten, der Flucht, dem Tod, dem Elend, Hunger… Er wurde in seiner französischen Umgebung als das angesehen, was er war: ein Mensch, ein Bauer, ein Mann, der eine andere Sprache sprach, aber die ihre lernen wollte, mit dem man lachen konnte und über das sprechen, was die Menschen auf dem Lande immer und zu jeder Zeit beschäftigt hatte und wofür es nur weniger Worte bedurfte: das Wetter, die Ernte, das Essen oder die Familie. Ein Gefangener? Ein Feind – ein Gegner? Nein. Ein Deutscher? Nur ein einfacher Mensch, der für eine Zeit mit ihnen lebte und den man auch 30 Jahre später nicht vergessen hatte und der sie niemals vergaß. In dessen Erinnerung die Jahre in Figanières kostbare waren, so kostbar, dass er immer und immer wieder davon erzählte und die Liebe zu diesem Land, den Menschen und ihrer Kultur in das Herz seiner Tochter pflanzte.

 

Voila – mes souvenirs toujours si présents
qui m’ont accompagnée toute ma vie.

Je vous embrasse!
Margaretha Schnarhelt

 

 

 

Postwertzeichen erschienen zum 20. Jahrestag der DDR. Entwertet am 9. November 1989

Weiterführend → Auf der vom Netz gegangenen Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus.