Was gibt es in der Kunst zu ‚verstehen‘?

1.

In seinem 1973 erschienenen Aufsatz ‚Thick Description: Toward an Interpretative Theory of Culture‘ (dt. Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur) benennt der amerikanische Ethnologe Clifford Geertz ein seiner Ansicht nach grundlegendes Problem der im weitesten Sinne zur Kulturwissenschaft zählenden Disziplinen: „Die Gewohnheitssünde vieler deutender Ansätze – sei es zur Untersuchung von Literatur, von Träumen, Symptomen oder Kulturen – besteht darin, daß es ihnen an begrifflicher Präzision fehlt“ (Geertz 1987: 34). Ein Sachverhalt, auf das auch der Spiritus Rector der ‚Cambridge School‘ der Ideengeschichte, der Historiker Quentin Skinner, aufmerksam macht, wenn er in seinem Aufsatz ‚Über Interpretation‘ anmahnt, dass eine genauere Begriffsbestimmung dringend erforderlich sei, werden doch zentrale Begriffe „von den verschiedenen Fraktionen (…) mit fast schon verbrecherischer Ungenauigkeit benutzt“ (Skinner 2009a: 8). Es mag in der einen oder anderen kulturwissenschaftlichen Disziplin in den letzten 30, 40 Jahren mittlerweile erfreuliche Fortschritte in dieser Hinsicht gegeben haben – im Bereich der Disziplinen, die sich mit den verschiedenen Künsten in der einen oder anderen Form beschäftigen, scheint es jedoch noch etwas Nachholbedarf zu geben. Dies beginnt bei dem schlechthin grundlegenden Begriff all dieser Disziplinen – ‚Kunst‘[1] – und führt, wenn wir uns mit dem beschäftigen, was so unbefangen ‚Kunst‘ genannt wird, geradewegs zu einem Begriff, mit dem im Kunstkontext ähnlich sorglos umgegangen wird: ‚verstehen‘.

Wenn wir davon sprechen, ein Werk, welcher Kunstgattung auch immer, ‚verstehen‘ zu wollen, müssen wir uns zunächst einmal vor Augen halten, dass wir als je Einzelner nicht als Solitär monadisch in einer Blase existieren. Wir sind als je Einzelner vielmehr stets in eine Epoche, eine Kultur, Gesellschaft, soziale Gruppe, Sprachgemeinschaft, Ethnie eingebettet: in eben die spezifische Lebenswelt, in der wir sozialisiert wurden. Aus ihrer Haut können wir niemals ganz raus, können niemals ganz von ihr abstrahieren. Auch können wir sie niemals zur Gänze explizieren und ihren je spezifischen Einfluss auf das einzelne Individuen genau bemessen (so mag etwa in Kleinstgesellschaften der Einzelne in seinem Verhalten und Denken in weiten Teilen determiniert sein, in größeren Gesellschaften, zumindest in abendländisch geprägten, besitzt er demgegenüber jedoch einen mehr oder weniger großen Freiraum zur Entscheidungsfindung. Was leider nicht zwingend positive Konsequenzen hat. Wusste doch schon Kant nur zu gut, dass mit der durch unsere Vernunft gewonnenen ‚Freiheit zu‘ noch nichts gewonnen ist. Denn sie bedeutet erst einmal nur die Freiheit zum Anrichten des größtmöglichen Schadens[2]). Ebenso wenig können wir aus der Haut der Sprache (der Sprache: als nicht zählbares Substantiv[3] [mass noun], nicht unserer jeweiligen Einzelsprache – das wäre purer Whorfismus[4]) heraus, wenn wir unsere Gedanken verfassen. Insofern gilt diese Beschränkung generell bei all unseren Bemühungen, etwas ‚verstehen‘ zu wollen. Und damit eben auch bei allen kulturellen Phänomenen.

Was nun für die Rezipienten und Interpreten gilt, gilt ganz ähnlich für die, von denen die Rezipienten und Interpreten gerne annehmen, dass sie etwas zu ‚verstehen‘ geben: die künstlerisch Schaffenden. Sie existieren mit ihren Ambitionen und Intentionen, mit ihrem künstlerischen Konzept und Gestaltungswillen ebenso wenig monadisch in einer Blase, sondern sind ihrerseits ebenso eingebettet in ihre jeweilige Epoche, Kultur, Gesellschaft, soziale Gruppe, Sprachgemeinschaft, Ethnie: in eben die spezifische Lebenswelt, in der sie sozialisiert wurden. Was die Frage aufwirft, ob Rezipienten und Interpreten die Ergebnisse des Kunstschaffens, die Artefakte (ob nun physischer, mentaler oder transitorischer Art) unabhängig von dieser Art kontextueller Gebundenheit ‚verstehen‘ können. Wie soll nun aber der Rezipient oder Interpret, der nicht aus seiner kulturellen und sprachlichen Haut kann, die künstlerisch Schaffenden resp. deren Werke ‚verstehen‘ können, die womöglich aus einer Epoche, Kultur, Gesellschaft, sozialen Gruppe, Sprachgemeinschaft, spezifischen Lebenswelt stammen, die nicht die ist, in der er sozialisiert wurde? Darüber hinaus hat der derart gehandicapte Rezipient und Interpret auch noch die undankbare Aufgabe, die zeit-, kultur-und sozialisationsvarianten Faktoren, die Denken und Handeln der künstlerisch Schaffenden je individuell spezifisch beeinflussen, extrahieren, explizieren, analysieren und individuell bemessen zu müssen, um zu einer möglicherweise bestehenden Künstlerintention, zum künstlerischen Konzept und individuellem Gestaltungswillen vorzudringen. Wer mag den Anspruch erheben, diese diversen Herkulesaufgaben auch nur ansatzweise befriedigend bewältigen zu können[5]?

Eine andere, prinzipielle Frage ist: Vorausgesetzt, es gibt etwas zu ‚verstehen‘ – was gibt es in welcher künstlerischen Gattung zu ‚verstehen‘? Und falls es in der jeweiligen künstlerischen Gattung etwas zu ‚verstehen‘ gibt: Ist das, was es zu ‚verstehen‘ gibt, in allen künstlerischen Gattungen gleich? Ist es bei allen Werken einer künstlerischen Gattung gleich? Auch bei allen Werken eines Künstlers/einer Künstlerin einer künstlerischen Gattung? Also: Ist der Begriff ‚verstehen‘, den wir gerne so unbefangen verwenden, wenn wir von Eugen Gomringers oder Erich Jandls Lyrik sprechen, der Gleiche wie der (rekurriert er auf das gleiche Phänomen?), den wir bezogen auf Alfred Döblins Roman ‚Berlin Alexanderplatz‘ verwenden? Wenden wir den gleichen Begriff ‚verstehen‘ an, wenn wir von Aristophanes, Shakespeare, Murasaki Shikibu oder Kalidasa, von Francois Villons Lyrik oder von Lennon/McCartneys Song ‚Let it be‘ sprechen? Ist der Begriff ‚verstehen‘, der in der Literatur Anwendung findet, der, der in den Gattungen Ballett, Theater, Oper, bildende Kunst oder Performance Anwendung findet? Wenn ich das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch ‚verstehen‘ will – geht es dann um das gleiche ‚verstehen‘ wie bei Salvator Dali oder Marcel Duchamp? Will uns Ulrich Erben mit seiner Malerei etwas zu ‚verstehen‘ geben? Und wenn ja (oder: wenn nicht): Wie ist dann dieses Verstehen zu ‚verstehen‘? Können wir Gerhard Richters Farbflächen ‚verstehen‘ und wenn ja: wie – und was genau haben wir dann ‚verstanden‘? Was ist mit Imi Knoebels oder Blinky Palermos Minimal Art? Nutze ich den gleichen Begriff ‚verstehen‘, wenn ich Pablo Picassos Guernica auf der einen Seite und seine vielen tausend Keramiken auf der anderen Seite ‚verstehen‘ will? Was ist mit den Werken, die namenlose indigene ‚Künstler‘ auf Bali, in Australien oder Amazonien gemacht haben? Ist für diese der gleiche Begriff ‚verstehen‘ (und auch: ‚Kunst‘) anwendbar wie für die Arbeiten eines Ulrich Rückriem? Und wie sieht die Sache bei Phidias oder Lysistratos und/oder ihren Skulpturen aus? Wie bei der Wandmalerei in der Höhle von Altamira?

Es handelt sich hierbei um die ganz grundsätzliche Frage, ob der Begriff ‚verstehen‘ nicht zumindest entsprechend der jeweiligen Kunstgattungen, der jeweiligen Kulturen (ist der Kunstwissenschaftler da nicht eher Ethnologe oder Anthropologe?) oder der jeweiligen Epochen (ist der Kunstwissenschaftler da nicht eher Historiker oder Anthropologe?) aufgeschlüsselt werden muss: Was ‚verstehen‘ wir eigentlich, wenn wir einen Roman, ein Theaterstück, eine Komödie oder visuelle Poesie ‚verstehen‘? Was, wenn wir eine Jazz-Komposition ‚verstehen‘, einen Madrigal, Alban Berg, Richard Wagner, Erik Satie, einen Pop-Song, Jimi Hendrix, John Cage oder Khöömej, den mongolischen Kehlgesang? Kann man Kind of Blue von Miles Davis ‚verstehen‘? Und wenn ja: Was heißt das? Was heißt: Ich ‚verstehe‘ Der Nussknacker oder Schwanensee; was, ich ‚verstehe‘ Pina Bausch? Oder Michelangelo, Caravaggio, Rembrandt, Goya, Ensor, Degas, Arp, Marc, Moore, Polke, Helmut Schweizer? Ja: Geben die künstlerisch Schaffenden in ihren Werken immer etwas zu ‚verstehen‘? Gibt es in ihren Werken immer etwas zu ‚verstehen‘[6]? Und falls ja: Handelt es sich dabei durchgängig um das gleiche Phänomen? Oder verwenden wir lediglich stets das gleiche Wort ‚verstehen‘ für gänzlich unterschiedliche Dinge? Einmal angenommen, künstlerisch Schaf-fende würden weder die Intention verfolgen, mit ihrem Werk etwas beim Rezipienten zu bewirken[7], ihn also zu etwas Bestimmten zu bewegen[8] (perlocutionary force) noch mit den Artefakten, im Sinne Quentin Skinners gedeutet als diskursive Beiträge in Form illokutionärer Akte, in kulturelle Kontexte zu intervenieren – kann es bei künstlerischen Werken dann überhaupt um Deutung gehen, um etwas aus dem Kosmos des Begriffs ‚verstehen‘? Gibt es also bei den Dingen, denen der Einzelne die Bezeichnung ‚Kunstwerk‘ zuschreibt oder die wir in Übereinstimmung mit der allgemein akzeptierten Zuschreibung – „der intersubjektive Konsens einzelner oder mehrerer Sprachgemeinschaften“ (Schmücker 2001: 17) – ‚Kunstwerk‘ nennen, stets in irgendeiner noch zu bestimmenden Weise etwas zu ‚verstehen‘? Oder ist das nicht auch schon eine jener Projektionen, gespeist aus der jeweiligen Lebenswelt, der jeweils relativen, zeit-, kultur- und  sozialisationsvarianten Perspektive, die Quentin Skinner als ‚mythology of doctrines‘ bezeichnete?

2.

Es ist nicht abzusehen, wie diesem ungenauen, undifferenzierten Gebrauch des Begriffs ‚verstehen‘ im Kontext künstlerischer Werke Einhalt geboten werden kann. Vielleicht wäre in einem ersten Schritt eine grundsätzliche Reflexion über den Gegenstand der Betrachtung angebracht, bevor dieser in den Fokus tritt. In einem Rahmen, der weiter gefasst ist als die engen Grenzen, die uns die Sichtweise der Kunstwelt setzt: den der Kultur resp. des kulturellen Systems. Ein solches Modell liefert der Ethnologe Clifford Geertz. Sein Kulturbegriff „ist ein semiotischer“ (Geertz 1987: 9). Angelehnt an Überlegungen von Max Weber vertritt er die Auffassung, „daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist“ (ebd.: 9), wobei er „Kultur als dieses Gewebe“ (ebd.: 9) betrachtet. So gesehen ist Kultur, und damit alle kulturellen Phänomene, zu denen naturgemäß unsere Sprache ebenso gehört wie das, was von uns so unbefangen ‚Kunst‘ genannt wird, demnach die Gesamtheit „gesellschaftlicher Ausdrucksformen“ (ebd.: 9), die es zu deuten gilt.

Konsequenterweise wird von Geertz im Rahmen seines semiotischen Ansatzes „menschliches Verhalten als symbolisches Handeln“ (Geertz 1987: 16; Kunst ist für ihn als ein kulturelles System eine der „symbolischen Dimensionen sozialen Handelns“ [ebd.: 43]) beschrieben. Ziel dieses Ansatzes ist es, „daß er uns einen Zugang zur Gedankenwelt der von uns untersuchten Subjekte erschließt, so daß wir – in einem weiterem Sinne des Wortes – ein Gespräch[9]mit ihnen führen können“ (ebd.: 35, Hervorhebung S.O.). Solche ‚Gespräche‘ sind als soziale Interaktionen „im Grunde ein sozialer Diskurs“ (ebd.: 27). Mit Paul Ricoeur sagt Geertz, dass „wir unter dem beim Sprechen ‚Gesagten‘ jene intentionale Veräußerlichung verstehen, die für das Ziel des Diskurses konstitutiv ist; sie bewirkt, daß das Sagen zur Aus-sage werden will“ (ebd.: 28). Allerdings ist der Gegenstand der Betrachtung „kein unbearbeiteter sozialer Diskurs“ (ebd.: 29). Wir haben als Interpreten und Rezipienten „keinen direkten Zugang zu diesem Diskurs“ (ebd.: 29). Als Beobachter, ja selbst als teilnehmender Beobachter, muss der Ethnologe[10], der in unserem Fall als Literatur- oder Kunstwissenschaftler, Kulturphilosoph oder Kunstkritiker etc. auftritt, sich immer seiner „eigenen, ganz spezifischen, kulturell bedingten Rolle“ (ebd.: 29) bewusst sein und darf sich nicht „für etwas anderes (…) halten als einen interessierten Beobachter“ (ebd.: 29). Unsere Interpretationen sind also keine Interpretationen erster Ordnung. Die liefert nur der, der in der jeweiligen Epoche, Kultur, Gesellschaft, soziale Gruppe, Sprachgemeinschaft, Ethnie, in eben der spezifischen Lebenswelt sozialisiert wurde. Die Interpretationen hingegen, die wir als Beobachter, selbst als teilnehmender Beobachter, liefern, sind stets „Fiktionen, und zwar in dem Sinn, daß sie ‚etwas Gemachtes‘ sind, ‚etwas Hergestelltes‘ – die ursprüngliche Bedeutung von fictio“ (ebd.: 23).

Die Kulturtheorie soll, im Rahmen dieser grundsätzlichen, niemals zu eliminierenden Einschränkungen, „das ‚Gesagte’ des sozialen Diskurses“ aufdecken (ebd.: 39) und damit die „Vorstellungsstrukturen, die die Handlungen unserer Subjekte bestimmen“ (ebd.: 39). „Eine gute Interpretation von was auch immer (…) versetzt uns mitten hinein in das, was interpretiert wird“ (ebd.: 26). Eine gute Interpretation ist aber immer das, was Geertz in Anlehnung an den britischen Sprachphilosophen Gilbert Ryle „das komplizierte intellektuelle Wagnis der ‚dichten Beschreibung‘“ (ebd.: 10) nennt. Kern dieser ‚dichten Beschreibung‘ ist „das Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen (…) und das Bestimmen ihrer gesellschaftlichen Grundlage und Tragweite“ (ebd.: 15). Eine wahre Kärrnerarbeit, bei der der Interpret „eine Vielfalt komplexer, oft übereinander gelagerter oder ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen, die fremdartig und zugleich ungeordnet und verborgen sind“ (ebd.: 15), erfassen muss. Und das eingedenk des Umstands, dass das, „was wir als unsere Daten bezeichnen, in Wirklichkeit unsere Auslegungen davon sind, wie andere Menschen ihr eigenes Tun und das ihrer Mitmenschen auslegen“ (ebd.: 14, Hervorhebung S.O.). Wir gehen also immer schon in gewisser Weise mit einem Vor-Urteil, mit einer impliziten, uns zumeist gar nicht explizit bewussten und oft auch gar nicht von uns explizierbaren Interpretation an die Dinge heran: „(W)as wir zum Verständnis (…) brauchen, (schleicht) sich als Hintergrundinformation (ein), bevor die Sache selbst untersucht wird“ (ebd.: 14). Mit anderen Worten: „Schon auf der Ebene der Fakten (…) erklären wir, schlimmer noch: erklären wir Erklärungen“ (ebd.: 14).

Kultur besteht, so Geertz, „aus sozial festgelegten Bedeutungsstrukturen“ (ebd.: 19), also aus „öffentlichen Code(s)“ (ebd.: 11). Nun sind aber, und dies muss kritisch ergänzend angemerkt werden, solche Bedeutungsfestlegungen nicht vom Himmel gefallen, sind solche öffentlichen Codes nicht einfach per se gegeben. Sie wurden vielmehr in einem Prozess sozialer Interaktion[11] generiert, der strukturell stets von der intentionalen singulären Gebrauchsweise eines Wortes (der Sprecher-Bedeutung[12]), eines Zeichens oder Codes ausgeht. Über den perpetuierten Gebrauch des Sprechers kann sie sich zur Regularität auswachsen. Und weil sich andere, ohne dass sie dies beabsichtigt haben und ohne dass es ihnen bewusst ist, vielleicht eines schönen Tages dieser Gebrauchsweise anschließen, wird sie so à la longue als kollektives Resultat ihrer unzähligen, zumindest partiell gleichgerichteten individuellen Handlungen von jedem Einzelnen gänzlich unbeabsichtigt zur episodalen Regel des Gebrauchs eines Wortes, zu einem sozial festgelegten Zeichen oder Code. Dies beschreibt den Weg von der singulären Sprecher-Bedeutung über die etablierte Bedeutung hin zur konventionellen Bedeutung eines Äußerungstyps. Diese in diesem Sinne sozialen Festlegungen sind aber durchaus nicht in Stein gemeißelt. Sie unterliegen, wie wohl alle soziokulturellen Phänomene, einem steten Wandel. Und dieser stete Wandel erfolgt ebenfalls in einem Prozess sozialer Interaktion unzähliger intentional handelnder Akteure, deren individuelle Handlungen in toto ungeplante, nicht-intendierte Handlungsfolgen zeitigen, die von keinem der am Prozess beteiligten Akteure so intendiert waren – am Beispiel des Sprachwandels hat dies der Linguist Rudi Keller[13] exemplarisch aufgezeigt. Ein Epiphänomen der Beteiligung der Sprecher an diesen Prozessen sozialer Interaktion ist das implizite Wissen um die Regeln des in einer Sprachgemeinschaft allgemein akzeptierten Gebrauchs der Worte und damit die Internalisierung der Bedeutung: Die Regeln sind „erworbene Dispositionen“ (Ryle 1969: 48), sie werden uns „zur zweiten Natur“ (ebd.: 49). So sehr, dass wir imstande sind, diese Art von Regeln anzuwenden, ohne sie jedoch im reflexiven Sinne zu kennen oder gar aufsagen zu können. Und weil sie uns derart zur ‚zweiten Natur‘ geworden sind, können wir sie, anders als die, die nicht mit ihnen aufgewachsen und so in sie hineingewachsen sind, „im Schlaf“ (ebd.: 51), erfolgen unsere Reaktionen „automatisch“ (ebd.: 51). Vielleicht kann deshalb „ein ausländischer Sprachstudent nicht so korrekt deutsch sprechen (…) wie ein deutsches Kind, wie sehr er auch die deutsche Grammatik beherrscht“ (ebd.: 49).

Ähnlich wie diesem ausländischen Sprachstudenten mag es auch dem Ethnographen ergehen, der in Gestalt des Literatur- oder Kunstwissenschaftlers, des Kulturphilosophen oder Kunstkritikers etc. auftritt und durch eine ‚dichte Beschreibung‘ versucht, sich in unserem kleinen Planspiel der Bedeutung des ‚Gesagten‘ in den sozialen Diskursen der Kunstwelt als bestenfalls teilnehmender Beobachter zu nähern. Dies gilt jedoch nur für die Synchronie – für soziale Diskurse der Vergangenheit gilt nicht einmal diese eingeschränkte Zugangsweise. Dort kommt auch die dichteste Beschreibung nicht über den Status einer Hypothese, Spekulation und letztlich nicht verifizierbaren Interpretation hinaus, so umfangreich, eloquent und anspruchsvoll sie auch immer sein mag.

Einzig jene dichte Beschreibung, an dem unser Kunstethnograph nicht nur als (teilnehmender) Beobachter, sondern als unmittelbar Beteiligter teilgenommen hat, kann Ergebnisse liefern, die eine gewisse Validität beanspruchen können. Dabei handelt es sich um die Kultur, Gesellschaft, soziale Gruppe, Sprachgemeinschaft, in die der Kunstethnograph hineingeboren wurde. Bei der Eruierung der Bedeutung des ‚Gesagten‘ in den sozialen Diskursen der Kunstwelt in der Diachronie und in allen anderen Epochen, Kulturen, Gesellschaften, sozialen Gruppen und Sprachgemeinschaften wird er hingegen jeweils vor dem gleichen, grundsätzlichen Dilemma stehen:

Er versteht nichts ‚im Schlaf‘.

3.

Wenn Clifford Geertz davon spricht, dass Kultur „aus sozial festgelegten Bedeutungsstrukturen“ (Geertz 1987: 19), aus „öffentlichen Code(s)“ (ebd.: 11) besteht, die es mithilfe der ‚dichten Beschreibung‘ zu interpretieren und zu ‚verstehen‘ gilt, dann bezieht er sich auf die in einer Epoche, Kultur, Gesellschaft, sozialen Gruppe, Sprachgemeinschaft bereits etablierten resp. konventionalisierten Bedeutungen jedweder im weitesten Sinne kommunikativer Äußerungen im Rahmen sozialer Diskurse. Versteht nun der (teilnehmende) Beobachter das ‚Gesagte‘, also die sozialen Diskurse der vom ihm zu untersuchenden Personen, nicht ‚im Schlaf‘, weil er nicht mit ihnen gemeinsam sozialisiert wurde, so kann er versuchen, im realen Gespräch das ‚Gesagte‘ zu verifizieren, es aufzuschreiben. Diese Möglichkeit der Verifizierung bleibt ihm in der rückblickenden Betrachtung vergangener ‚Äußerungen‘ resp. sozialer Diskurse als Ethnologe, Historiker, Politik-, Kunst- oder Literaturwissenschaftler natürlich aus naheliegenden Gründen versagt – da stößt selbst die dichteste Beschreibung an ihre natürlichen Grenzen (welche anderen Möglichkeiten zur Verifizierung hat er sonst?).

Definieren wir tentativ für unser Planspiel Artefakte als ‚Gesprächsbeiträge‘ zu dem sozialen Diskurs namens ‚Kunst‘. Und konzentrieren uns dabei auf Artefakte der letzten circa 150 – 200 Jahre, die von Kunstschaffenden erschaffen wurden, die, wie wir, in europäisch geprägten Kulturen aufgewachsen sind. Wenn wir diese Artefakte als Teile einer sozial festgelegten Bedeutungsstruktur, eines öffentlichen Codes im Sinne Geertz‘ ‚verstehen‘, können wir als Kunstethnographen darauf hoffen, dass wir das künstlerisch ‚Gesagte‘ ‚im Schlaf verstehen‘ und als (teilnehmende) Beobachter mit dem einen oder anderen noch lebenden Kunstschaffenden ‚ins Gespräch kommen‘, um so einen veritablen Beitrag zur Bedeutungsexplikation zu leisten. Allerdings beschränkt sich dieser Zeitraum aus verständlichen Gründen auf die letzten maximal 90 Jahre (Tote tragen nicht nur keine Karos, sie reden auch nicht mehr mit uns). Bei allen anderen müssen wir hoffen, dass die „diachronische Identität“ (Keller 2014: 132), die uns eine gewisse Verständnissicherung eigentlich nur über drei, maximal vier Generationen hinweg gewährleistet, noch länger währt. Aber selbst wenn das der Fall sein sollte: Es nützt uns wenig. Denn wir stehen bei all diesen Kunstschaffenden aus den europäisch geprägten Kulturen der letzten circa 150 – 200 Jahre vor einem weiteren, ganz grundsätzlichen Problem: Im Gegensatz zu einem Großteil der Artefakte ihrer Vorgänger besitzen die Artefakte dieser künstlerisch Schaffenden, ganz gleich, welcher Kunstgattung ihre Artefakte nun zugeordnet werden, eines in der Regel kaum noch – konventionale, sozial festgelegte Bedeutungsstrukturen resp. öffentliche Codes. Da hilft uns dann auch die dichteste Beschreibung im Sinne Geertz‘ nichts mehr: Mit ihr lässt sich in diesem Fall nichts ‚verstehen‘. Es sei denn, wir kippen unsere Prämisse. Und bitten nicht nur sozial festgelegte Bedeutungsstrukturen zum ‚Gespräch‘, sondern auch singuläre[14] (mir ist allerdings nicht bekannt, ob Geertz je diesen Fall in Erwägung gezogen hat).

Auf konventionale Bedeutungsstrukturen in sozialen Diskursen hebt nun auch Quentin Skinner ab, wenn er sich auf den englischen Philosophen und Sprechakttheoretiker John L. Austin berufend sagt, dass für diesen „das Verständnis illokutionärer Akte (…) fest etablierte sprachliche Konventionen voraussetzt, daß diese Konventionen, und nicht die Absichten der Sprecher, letztlich für die Bestimmung illokutionärer Akte entscheidend sind“ (Skinner 2009b: 67). Einmal angenommen, wir könnten mit jeder im weitesten Sinne kommunikativen Diskursform, die potentiell auf einen öffentlichen Code resp. eine konventionale Bedeutungsstruktur rekurriert, also auch mit den künstlerischen Ent-Äußerungen, den Artefakten, einen illokutionären Akt vollziehen. Dann kämen wir nicht umhin, das Faktum anzuerkennen, „daß Texte (…) Autoren haben und daß Autoren über bestimmte Absichten verfügen, wenn sie Texte schreiben“ (ebd.: 82). Übersetzt für unser Planspiel hieße das: ‚Wir müssen anerkennen‚ dass Artefakte Urheber haben und dass Urheber über bestimmte Absichten verfügen, wenn sie Artefakte schaffen.‘ Jede Rede, jeder Text, jedes Artefakt stellt einen intentionalen Eingriff, eine Intervention in die „allgemeinen diskursiven Kontexte ihrer Zeit“ (ebd.: 81) dar. Wir müssen deshalb nicht nur die Bedeutung des Gesagten und die „illocutionary forces“ (Austin 1979: 117) verstehen – wir müssen auch die „in der Äußerung selbst bestehenden Interventionen“ (Skinner 2009b: 80) in bestimmte Diskurse in bestimmten Kulturen in bestimmten Epochen angemessen zu verstehen suchen. Um dies aber tun zu können, um also die „untersuchten Texte (sprich: Artefakte, S.O.) zurück in diejenigen kulturellen und diskursiven Kontexte zu stellen, in denen sie ursprünglich verfaßt wurden“ (ebd.: 88), müssen wir bestimmen, um welche ‚bestimmten Absichten‘ es sich handelt, die ein Diskursteilnehmer – in unserem Fall also ein künstlerisch Schaffender – mit den ‚in dem Artefakt selbst bestehenden Interventionen‘ verfolgt.

Will ich die Bedeutung moderner Artefakte ‚verstehen‘, ergibt sich bei Skinner das gleiche Problem wie bei Geertz: Sowohl Skinners Bedeutung des Gesagten und die illocutionary forces als auch Geertz‘ sozial festgelegte Bedeutungsstrukturen sind konventional. Moderne Artefakte hingegen, zumindest die von europäisch geprägten Kunstschaffenden, gehorchen in der Regel aber nicht bedeutungsstiftenden Konventionen. Im Gegenteil: Das moderne und zeitgenössische Kunstschaffen in den europäisch geprägten künstlerischen Gattungen kennt kaum noch konventionale Bedeutungsstrukturen, das heißt: keine Regeln des Gebrauchs. Da würde es uns also auch wenig nutzen, wenn wir gemeinsam mit den jeweiligen Kunstschaffenden im Sandkasten gespielt hätten: Selbst unter solchen Idealbedingungen könnten wir die Werke moderner Kunst nicht ‚im Schlaf verstehen‘, setzt dieses ‚verstehen‘ doch den Bestand von Regeln des Gebrauchs voraus, die im steten Prozess sozialer Kooperation perpetuiert und internalisiert werden. Die aktuellen ‚Sprachen‘ der einzelnen Künste sind jedoch weitgehend singularisiert (schon deshalb können sie, Wittgensteins Privatsprachen-Argument vor Augen, keine Sprachen im eigentlichen Sinne sein). Es kann also bestenfalls eine hypothetische singuläre ‚Künstler-Bedeutung‘ angenommen werden, die in dem jeweiligen Werk ihren Ausdruck findet. Womit wir wieder bei dem in Kap. 1 angesprochenen Problem wären, was wann in welcher Gattung bei welchem künstlerisch Schaffenden resp. bei welchem Artefakt wie zu ‚verstehen‘ ist und was man unter ‚verstehen‘ versteht.

4.

Was also tun, wenn man Kunst ‚verstehen‘ will? Diese Frage führt uns schnurstracks zum Ausgangspunkt dieses Aufsatzes zurück: Vor ihrer Beantwortung hat die kritische Reflexion des Gebrauchs zumindest der zentralen Begriffe zu stehen, mit denen wir im sozialen Diskurs der ‚Kunst‘ operieren. Denn sonst laufen wir Gefahr, höchst beredte Antworten auf Fragen zum Verständnis von Texten, Artefakten und sozialen Diskursen zu finden, die aber kaum Aussagewert haben[15]: Wer sein Hemd am Hals falsch anfängt zu knöpfen, kann im weiteren Verlauf noch so sorgsam weiterknöpfen – am Hemdsaum wird er feststellen, dass, wer falsch anfängt, auch falsch aufhört (sollte man meinen; leider erscheint vielen ihr fehlerhaftes Resultat nicht als fehlerhaft, sondern als völlig tragbar). Diesen Fehler gilt es nicht nur zu erkennen, es gilt ihn auch zu vermeiden.

So ist der zentrale Begriff ‚verstehen‘, wendet man ihn auf all die verschiedenen Aspekte des sozialen Diskurses der ‚Kunst‘ an, grundsätzlich zu reflektieren und zu hinterfragen. Damit wir, wenn wir denn zu einem befriedigenden und allgemein akzeptierten Ergebnis kommen sollten, auch wissen, wovon wir reden, wenn wir ihn verwenden. Damit wir sicher sind, dass, wenn wir ihn verwenden, auch alle über das Gleiche reden. Und damit wir alle wissen, worüber man wirklich reden kann und worüber man vielleicht besser schweigen sollte, weil es vielleicht de facto nichts zu reden gibt – much ado about nothing. Bevor wir also vom ‚Verstehen‘ der ‚Kunst‘ reden, gilt es den Begriff ‚verstehen‘, wie auch den der ‚Kunst‘, präzise zu bestimmen und sorgfältig zu differenzieren, damit sich die Chancen erhöhen, darauf aufbauend eine halbwegs stimmige Theorie des Kunstverstehens entwickeln zu können.

Aber – müssen wir nicht vielleicht sogar noch einen Schritt weiter zurückgehen? Um „das ‚Gesagte’ des sozialen Diskurses“ (Geertz 1987: 39) und damit die „Vorstellungsstrukturen, die die Handlungen unserer Subjekte bestimmen“ (ebd.: 39), aufzudecken, bedarf es laut Geertz einer ‚dichten Beschreibung‘: „(D)as Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen (…) und das Bestimmen ihrer gesellschaftlichen Grundlage und Tragweite“ (ebd.: 15). Nun rekurrieren aber sowohl Skinners Bedeutung des Gesagten und Illokution als auch Geertz‘ sozial festgelegte Bedeutungsstrukturen und öffentliche Codes auf die konventionale Bedeutung. Diese ist aber, wie wir gesehen haben, entweder nicht mehr (da die ‚Ent-Äußerungen‘, die Artefakte, in vergangenen Zeiten gemacht wurden) oder nur sehr bedingt (da die ‚Ent-Äußerungen‘, die Artefakte, in anderen Kulturen, Gesellschaften, sozialen Gruppen, Sprachgemeinschaften gemacht wurden) in Ryles Sinne ‚automatisch‘ zu verstehen. Eben dies ist nur dem möglich, der, streng genommen, in derselben Epoche, Kultur, Gesellschaft, sozialen Gruppe, Sprachgemeinschaft aufgewachsen ist wie der jeweilige Urheber der Artefakte. Außerdem fehlt all dem ein entscheidender Aspekt, auf den bereits Skinner aufmerksam gemacht hat, dessen Tragweite er aber, wie mir scheint, nicht recht absah: Wir müssen nicht nur die konventionalen Aspekte verstehen – wir müssen auch die „in der Äußerung selbst bestehenden Interventionen“ (ebd.: 80) angemessen zu verstehen suchen, sind sie doch Eingriffe in die „allgemeinen diskursiven Kontexte ihrer Zeit“ (ebd. 81). Dabei müssen wir anerkennen, „daß Texte (…) Autoren haben und daß Autoren über bestimmte Absichten verfügen, wenn sie Texte schreiben“ (Skinner 2009b: 82).

Bevor wir fortfahren, bedarf es eines kurzen Exkurses. Denn der Begriff ‚Absicht‘ ist mit Vorsicht zu genießen – er ist zweideutig. Diesem Umstand „ist es zu verdanken, daß intentional bisweilen mit geplant verwechselt wird“ (Keller 2014: 27): Es gibt eine Absicht, die einen Vorsatz ausdrückt und auf eine zukünftige Handlung ausgerichtet ist. Dieser Vorsatz ist ein Plan, eine „Absicht, etwas zu tun“ (ebd.: 27). Und es gibt eine Absicht, die der Erfüllung des Zwecks einer Handlung dient: Es ist dies „die Absicht, in der etwas getan wird“ (ebd.: 27). Ein Beispiel: Wenn ich die Vorsatzabsicht habe, mit dem Auto von A nach B zu fahren, so impliziert die Umsetzung meines Vorsatzes zahllose Handlungen, die allesamt zwar auch intentional, aber weder geplant noch bewusst oder gar vorsätzlich sind: Kuppeln, Schalten, Gas geben, Lenken u.v.a.m. Diese Handlungen erfolgen nach Maßgabe der Zweckabsichten, sie entsprechen damit der „Absicht, in der etwas getan wird“ (ebd.: 27). Dies bedeutet: „Intentional und planvoll sind keine Synonyme; intentional und unbewusst sind keine Gegensätze“ (ebd.: 29).

Spricht Skinner also von bestimmten Absichten, die ein Autor (resp. in unserem Fall: ein Kunstschaffender) verfolgt, wenn er einen Text schreibt (resp. in unserem Fall: ein Artefakt erstellt), so handelt es sich dabei um eine spezifische Art intentionaler Handlungen: um die mit Vorsatzabsichten durchgeführten Handlungen, zu deren Durchführung der Vollzug diverser Zweckabsichten erforderlich ist – um Eingriffe in den diskursiven Kontext durch ein Artefakt. Diese Eingriffe sind, als individuell intendierte, mit Vorsatz geplante und bewusst vollzogene Handlungen, nicht konventional. Wir können die Intentionen des Kunstschaffenden also grundsätzlich nicht ‚automatisch‘ verstehen, selbst wenn wir in der gleichen Epoche, Kultur, Gesellschaft, sozialen Gruppe, Sprachgemeinschaft wie der Kunstschaffende als Urheber des Artefakts sozialisiert worden wären, sondern allein in einem reflexiven Akt der Interpretation. Um jedoch eine realistische Chance zu haben, die Artefakte als Eingriffe in die sozialen Diskurse angemessen zu verstehen, müssen wir nicht nur über relevantes Kontextwissen verfügen, wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass derartige Intentionen im Rahmen kommunikativer Handlungen nicht ‚leer‘ sind, sich also nicht im Vollzug des Eingriffs erschöpfen. Sie sind vielmehr stets mit der darüber hinaus gehenden Absicht verbunden, beim Rezipienten etwas zu bewirken, ihn zu etwas zu bewegen:


A erschafft Artefakt x, um damit in den Diskurs y einzugreifen und intendiert, dadurch eine ganz bestimmte Wirkung bei B zu erzielen.

In der Terminologie des britischen Sprachphilosophen John L. Austin können wir diesen darüber hinaus gehenden Akt als Perlokution[16] (perlokutionären Akt), also als den nicht-konventionalen Akt identifizieren, der die Absicht des Sprechers bezeichnet, bestimmte Wirkungen beim Angesprochenen zu erzielen: „producing of effects which is characteristic of the perlocutionary act“ (Austin 1962: 117). Und weiter: „We must distinguish actions which have a perlocutionary object (convince, persuade) from those which merely produce a perlocutionary sequel. Thus we may say‚ I tried to warn him but only succeeded in alarming him‘“ (ebd.: 117). Austin unterscheidet also Perlokutionen „which have a perlocutionary object from those which merely produce a perlocutionary sequel“. Das heißt: Es gibt Perlokutionen, die nur eine ‚perlocutionary sequel‘ (‚perlokutionäres Nachspiel‘) erzeugen, aber kein ‚perlocutionary object‘ (‚perlokutionäres Ziel‘) haben. Und es gibt Perlokutionen, die ein ‚perlocutionary object‘ haben und ‚a perlocutionary sequel‘ erzeugen.

In diesem Sinne ist das Artefakt als Eingriff in den sozialen Diskurs zu verstehen, durch den bei B „gewisse Wirkungen erzielt werden“ sollen (Austin 1979:  137, auch Searle 1983: 42). Diese generelle Struktur lässt sich damit auf eine ganz allgemeine Formel bringen:

A will bei B durch x etwas bewirken.

„Zum Beispiel kann ich jemanden durch Argumentieren überreden oder überzeugen, durch Warnen erschrecken oder alarmieren, durch Auffordern dazu bringen, etwas zu tun (…). Die in der Aufzählung kursiv gedruckten Ausdrücke bezeichnen perlokutionäre Akte“ (Searle 1983: 42). Sie können zum Beispiel darin bestehen, dass der Kunstschaffende nicht nur mithilfe seines Artefaktes in den sozialen Diskurs eingreifen will, um B für die moderne Kunst zu begeistern (perlokutionäres Ziel resp. perlocutionary object), sondern auch, um B dazu zu bewegen, ihn für einen großartigen Künstler zu halten, ein Artefakt von ihm zu kaufen, fortan bei jeder Begegnung weiche Knie zu bekommen (perlokutionäres Nachspiel resp. perlocutionary sequel). Wobei für das perlokutionäre Nachspiel gilt: „(I)t may be done with the design, intention, or purpose of producing them“ (Austin 1962: 101, Hervorhebung S.O.). Mit anderen Worten: Das ‚Nachspiel‘ der Perlokution kann ein ‚intendiertes‘, es kann aber auch ein ‚nicht-intendiertes Nachspiel‘ sein – wenn zum Beispiel B nicht begeistert, sondern angewidert ist. Und er A fortan mit Verachtung straft.

5.

Mit unserer vorläufigen Bestimmung der Perlokution als intentionalen singulären und damit nicht-konventionalen Akt, mit dem ein Kunstschaffender A durch das Artefakt in einen diskursiven Kontext eingreift (ein Eingriff, der mit der Vorsatzabsicht verbunden ist, eine bestimmte Wirkung bei einem Rezipienten B zu erzielen), begegnen wir einer anderen Bestimmung: der des primären Ziels der Kommunikation – jemanden durch etwas zu etwas zu bewegen. Bedingung der Möglichkeit gelungener sprachlicher Kommunikation ist zwar eine zumindest ausreichende Beherrschung der im Gespräch verwendeten Sprache durch die Gesprächsteilnehmer, das heißt im alltagssprachlichen Sinne das Verstehen dieser Sprache. Aber im Gegensatz zum landläufigen Verständnis ist Verständigung „nicht ‚der Zweck‘ der Sprache, sondern allenfalls einer unter vielen (wenn auch ein wichtiger)“ (Keller 2014: 135; cf. Wittgenstein 1977: 17, PU §3). Es gibt unzählige andere, zumeist vorrangige Ziele der sprachlichen Kommunikation: Ich lüge und betrüge. Flirte. Führe hinters Licht. Halte Small-Talk, schwinge Reden, treibe Werbung, feuere meine Mannschaft leidenschaftlich an oder frage als Standesbeamter, ob er oder sie sie oder ihn zum Mann oder zur Frau nehmen will. Will andere von mir begeistern. Will sie auf andere Gedanken bringen. Aufregen. Verärgern. Ängstigen. Erschrecken. Inspirieren. All diesen Fällen ist strukturell eines gemeinsam: A will mit Vorsatzabsicht[17] Einfluss auf B nehmen, also eine bestimmte Wirkung durch das, was er sagt, bei B erzielen. Mit anderen Worten: A will B durch das, was er tut (sagt, schreibt, gestaltet etc.), zu etwas Bestimmten bewegen. Formal formuliert:

A will B durch x zu etwas bewegen (A will bei B durch x etwas bewirken).

Diese grundlegende, rein deskriptive Formel sprachlich-kommunikativer Handlungen entspricht der, mit der wir Eingriffe in den sozialen Diskurs durch eine ‚Äußerung‘ (hier im weitesten Sinne verstanden) als einen perlokutionären Akt beschrieben haben: durch einen Text, eine Aussage, ein Artefakt. Es scheint dies also nicht nur ein durchgehendes Merkmal dialogisch konstituierter, kooperativer Gesprächssituationen zu sein, sondern generell aller kommunikativen Akte im Rahmen der Diskurse im sozialen Kontext. Auch die der ‚Gespräche‘, die nicht auf ein Gespräch aus sind, also nicht auf das klassisch-dialogische Konstrukt von Rede und Widerrede. So wie es bei dem überwiegenden Teil der durch Kunstschaffende geschaffenen Artefakte der Fall ist.

Die kommunikative Funktion[18] des ‚Jemanden-durch-etwas-zu-etwas-bewegen-wollen‘ könnte, angelehnt an Austins Begriff der „illocutionary forces“ (Austin 1962: 99), vorläufig als perlocutionary force bezeichnet werden, die hier wirksam wird. Indem diese perlocutionary force im Rahmen dialogischer Konstrukte seitens der Initiatoren, in diesem Fall der Sprecher/Autoren, darauf abzielt, die (potentiellen) Gesprächspartner im Rahmen des Eingriffs in einen sozialen Diskurs (Skinner) zu einer Reaktion erster Ordnung zu bewegen (‚überreden, überzeugen, alarmieren‘ et al.) und sie darüber hinaus zu einer wie auch immer gearteten Replik, zu einer Reaktion zweiter Ordnung zu provozieren, würde sie zur treibenden, konstituierenden Kraft des Gesprächs werden – und damit zum entscheidenden Impuls einer sich fortschreibenden Kommunikation, zum Motor des dialogischen Konstrukts. Die inhärente Provokation des (potentiellen) Gesprächspartners zu einer Reaktion zweiter Ordnung setzt das Gespräch in Gang. Ist doch die perlocutionary force der antwortenden Reaktion ihrerseits wiederum darauf ausgelegt, beim Initiator des Gesprächs (oder anderen potentiellen Gesprächsteilnehmern) seinerseits eine antwortende Reaktion auszulösen (ad infinitum). Dieses Konstrukt ist in der jeweiligen Synchronie in den jeweiligen zeitgeschichtlichen, kulturellen, ethnischen, gruppenspezifischen, sprachlichen et al. Kontext eingebettet (ob dieser Eingriff nun ge- oder misslingt, also erfolgreich ist oder nicht, steht auf einem ganz anderen Blatt). Angenommen, wir greifen in einen solchen sozialen Diskurs ein, indem wir etwas sagen oder schreiben. Weiter angenommen, wir erzielen dadurch beim Rezipienten eine bestimmte Wirkung: Wir überzeugen ihn (Perlokution). Dann kann dies die unmittelbar beabsichtigte Folge unseres Handelns, das intendierte perlokutionäre Ziel (perlocutionary object, Austin 1979: 134, Austin 1962: 117) sein – eine Wirkung erster Ordnung. In dem intendierten perlokutionären Nachspiel (perlocutionary sequel, Austin 1979: 134 und Austin 1962: 117), der zustimmenden Replik, könnten wir dann eine Wirkung zweiter Ordnung sehen. Allerdings können wir auch unser intendiertes perlokutionäre Ziel verfehlen. So zum Beispiel, wenn sich der Angesprochene durch unsere Argumentation partout nicht überzeugen lassen will. Schlimmer noch: Statt der intendierten Zustimmung äußert dieser vehemente Kritik an unserer Auffassung und gießt sie in eine schroffe Replik. Was eine Reaktion zweiter Ordnung darstellen würde, die wohl als ein nicht-intendiertes perlokutionäres Nachspiel zu werten wäre. Ebenso wie seine damit verbundene Irritation über unsere bescheidenen Fähigkeiten, die ihn womöglich dazu veranlasst, uns einen zuvor bereits erteilten Arbeitsauftrag wieder zu entziehen. Womit wir dann bei einer Reaktion dritter Ordnung wären (diese Reaktionskette ließe sich vermutlich endlos weiterführen).

Der britische Sprachphilosoph H. Paul Grice hat für den ersten und damit entscheidenden Schritt einer im alltäglichen Sprachgeschehen permanent erfolgenden Bedeutungsgenese (die in der Diachronie mit einem ebenso stetig erfolgenden, zumeist von uns unbemerkt ablaufenden Sprachwandel einhergeht) innerhalb einer Sprachgemeinschaft – strukturell beginnend bei der singulären Situationsbedeutung eines einzelnen Sprechers und bei der konventionellen Bedeutung einer Sprachgemeinschaft als nicht-intendierte episodale Handlungsfolge vorübergehend endend – ein idealtypisches handlungstheoretisches Modell sprachlich-kooperativer Interaktionen entwickelt. Es beschreibt, wie sich die Bedeutung einer Äußerung explizieren lässt, wenn das, was der Sprecher mit ihr meint, vom Angesprochenen nicht schon durch den Rückgriff auf den konventionellen Sprachgebrauch, sondern erst im Rahmen einer dialogisch strukturierten Situation durch das Erkennen der „reflexive(n) Intention“ (Liedtke 2016: 37) des Sprechers verständlich ist. Um die kommunikative Intention (die Sprecher-Intention), also das mit der Äußerung Gemeinte, sowie die intendierte Wirkung (die Sprecher-Bedeutung) verstehen zu können, muss der Angesprochene eine interpretative Leistung[19] erbringen und über relevantes Kontextwissen verfügen – zu letzterem gehört unter anderem das Wissen um „kulturelle Praktiken, außerdem Einschätzungen der aktuellen Situation und schließlich das, was im Diskurs vorher gesagt oder im Text vorher geschrieben wurde“ (Liedtke 2016: 38):

i. A intendiert, dass B erkennt, dass A mit seiner Äußerung a beabsichtigt.

ii. A intendiert, dass B dessen Intention (i.) erkennt.

iii. A intendiert, dass B erkennt, was A mit seiner Äußerung a beabsichtigt, indem B dessen Intention (ii.) erkennt.

Dieses handlungstheoretische Modell[20] ließe sich, bricht man es auf seine grundlegende Struktur herunter, grundsätzlich mit Kellers Beschreibung der vorrangigen Funktion der Kommunikation wie auch mit Skinners Vorstellung von dem Text (und ganz allgemein: der Äußerung) als den intentionalen Eingriff eines Autors in den sozialen Diskurs zur Deckung bringen:

A will B durch x zu etwas bewegen – nämlich zur Erkenntnis dessen, was A meint.

Sollte also die perlocutionary force die treibende Kraft eines jedes dialogischen Konstrukts sein, so ist sie gegebenenfalls auch die jenes sozialen Diskurses in unserem Planspiel: des intentionalen Eingriffs durch ein Artefakt. Hier liegt, analog zu unserer Feststellung zum Ziel sprachlicher Kommunikation, der Gedanke nahe, dass das Ziel bzw. ‚Zweck‘ der Kunst (zumindest des überwiegenden Teils moderner Kunst), nicht Verständigung, womöglich nicht einmal Verstehen, Verständnis oder Verständlichkeit ist, sondern vielmehr, dass ein Kunstschaffender mit perlokutionärer Kraft einen potentiellen Rezipienten durch sein Werk, genauer gesagt: durch dessen Rezeption seines Werks, zu etwas zu bewegen will. So könnte sich, was bei der ersten, automatisch ablaufenden und einer Introspektion nicht zugänglichen Rezeption[21] eines Artefakts nahe läge, die perlokutionäre Kraft, noch vor jeder rationalen, interpretativen Aneignung, als eine Inspiration zur Assoziation äußern. Im Gegensatz zur Intention in einem klassischen Gespräch, die dialogisch konstituiert ist, zeichnet sich die Intention in den in der Regel nicht dialogisch konstituierten ‚Gesprächen‘ der verschiedenen Kunstgattungen jedoch dadurch aus, dass sie hinsichtlich der Reaktion, zumindest in der modernen bildenden Kunst, vielfach maximal offen ist (weshalb es in dieser Hinsicht ‚offene Kunstwerke‘ sind): Es ist zwar eine Reaktion resp. Wirkung intendiert, aber keine bestimmte. Insofern lässt sich vielleicht allein durch eine ‚dichte Beschreibung‘ à la Geertz eruieren, ob der Rezipient vom Kunstschaffenden qua Rezeption des Artefakts – das einen künstlerischen Eingriff in bestimmte soziale Diskurse in bestimmten Kulturen in bestimmten Epochen darstellt, den es angemessen zu verstehen gilt – zu etwas Bestimmtem bewegt werden soll. Ob es also ein intendiertes perlokutionäres Ziel oder ein intendiertes perlokutionäres Nachspiel gibt und wenn ja: welches. Oder ob der Kunstschaffende, einigermaßen paradox, gerade nicht-intendierte perlokutionäre Nachspiele intendiert (ob dann wohl, wenn all dies geleistet ist, davon gesprochen werden kann, dass wir das Werk ‚verstanden‘ haben?).

Zwei wesentliche Aspekte gilt es bei einer Inspiration zur Assoziation, der vom Kunstschaffenden beim Rezipienten intendierten automatischen, nicht der Reflexion zugänglichen geistigen Reaktion, der in der Regel eine physische und/oder psychische Reaktion vorausgeht (cf. Anm. 21), die vom Rezipienten weder gesteuert werden kann noch ihm in diesem Moment bewusst wird, zu beachten:

  1. Es ist ein Mythos, dass ein Artefakt, das nach allgemein akzeptierter Auffassung zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Kultur/Sprachgemeinschaft/sozialen Gruppe ‚Kunstwerk‘ oder schlicht ‚Kunst‘ genannt wird, imstande ist, etwas auszusagen. Anzuregen. Zu bewirken. Auszulösen. Zu verstehen zu geben. Oder auch, dass es verstanden werden will. Nichts dergleichen vermag ein Artefakt zu tun. Hier findet eine unzulässige Anthropomorphisierung und Vitalisierung statt, wird das grammatische Subjekt mit dem Handlungssubjekt verwechselt. Ein ähnliches Phänomen finden wir bei der Rede von der  Sprache, die sich wandelt. So als sei sie ein „animal rationale mit allerhand wundersamen Fähigkeiten“ (Keller 2014: 24). Dabei ist doch, wie es der Philosoph Lambert Wiesing auf den Punkt bringt, „vollkommen unzweifelhaft (…), dass tote, materielle Gegenstände welcher Art auch immer prinzipiell nicht das Subjekt einer Handlung sein können“ (Wiesing 2013: 43). Ganz egal, ob es sich nun um eine physische, mentale  oder transitorische Entität handelt: Ein Artefakt ist ein Artefakt, kein animal rationale, kein selbsttätig agierendes, intelligibles und zu einer Planung befähigtes Handlungssubjekt. Es hat keine Interessen, keine Ambitionen, keine Intentionen. Und erst recht kein Bewusstsein. Es ist von Menschen erdacht, erschaffen, entwickelt, programmiert etc. Bisweilen sogar von diesen mit zielgerichteten Interessen, Ambitionen und Intentionen geschaffen, zu denen manchmal auch solche Interessen, Ambitionen und Intentionen gehören wie die, etwas durch eben diese Entitäten auszusagen. Mit ihnen anzuregen. Etwas zu bewirken. Auszulösen. Zu verstehen geben (aber: nicht jedes Bild wird mit diesem Ziel gemalt, nicht jeder Song damit komponiert, nicht jedes Gedicht damit geschrieben etc.). Aber das Handlungssubjekt ist in keinem dieser Fälle ein mythisches Wesen namens ‚Kunstwerk‘ resp. ‚Kunst‘, sondern stets ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen, vielleicht sogar ein von Menschen programmierter Algorithmus. Wenn ein Werk etwas ‚tut‘, dann bestenfalls im naturwissenschaftlichen Sinne von Ursache und Wirkung. So kann zum Beispiel eine bestimmte Frequenz physische und womöglich sogar psychische Konsequenzen zeitigen. Dieses Phänomen kann sich nun durchaus ein Kunstschaffender zunutze machen und es gezielt, geplant, bewusst und intendiert einsetzen. Wie gesagt: die Künstlerin/der Künstler, nicht aber das Artefakt. Die Künstlerinnen und Künstler sind nicht monadisch in eine Welt singulärer Humanoide geworfen, sondern stets kontextuell eingebettet: in ihre Lebenswelt, Zeit, Kultur, Sprachgemeinschaft, soziale Gruppe, Sprache. Dabei handelt es sich um Kontexte, in denen die soziokulturellen Phänomene zum größten Teil in einem nun schon sattsam bekannten Prozess der unsichtbaren Hand[22] als kollektive, nicht-intendierte Handlungsfolgen millionenfacher gleichgerichteter individueller intentionaler Handlungen generiert werden; Kontexte, die sich bis ans Ende unserer Tage als kooperativ handelnde Wesen im intersubjektiven Verbund in der Diachronie wandeln, in unser implizites, reflexiv von uns nicht gänzlich zu explizierendes Wissen eingehen und dabei als Basis all unserer Handlungen diese in je individueller Weise bestimmen.
  • Die mit perlokutionärer Kraft vorgetragene Intention der Kunstschaffenden, also die Intention, die Rezipienten durch die Rezeption des Artefakts zu einer automatischen, nicht der Reflexion zugänglichen geistigen Reaktion (der Inspiration zur Assoziation) zu bewegen, kann nur dann erfolgreich sein, wenn eine entsprechende Disposition, eine Empfänglichkeit seitens der Rezipienten besteht: die dispositionelle Grundverfassung als conditio sine qua non, dass sich ein Rezipient durch das Artefakt überhaupt zu etwas bewegt, inspiriert fühlen kann – die muleta, das rote Tuch, kann für den Stier kein sprichwörtlich rotes Tuch sein. Ihm fehlen, wie übrigens den meisten Säugetieren, Farbrezeptoren für rotes Licht. Er ist nach heutigem Stand der Forschung also rot-blind. Besteht nun aber keine angemessene dispositionelle Grundverfassung zur Rezeption seitens der Rezipienten, die von physischen Dispositionen über kulturell und bildungsbedingten Dispositionen bis zu spezifisch individuellen Dispositionen alle nur denkbaren umfassen kann, kann das Artefakt von den Rezipienten nicht in dem vom Kunstschaffenden intendierten Sinn als ein für sie, die Rezipienten, relevantes Zeichen, als Code, Eingriff in einen sozialen Diskurs, ‚Gesprächsangebot‘ etc. wahrgenommen werden: Sie haben schlicht keinen Sinn dafür. Und solange sich kein Rezipient findet, der für dieses ‚Gesprächsangebot‘ einen Sinn im Sinne der Intention des Kunstschaffenden hat, der sich also nicht durch das Artefakt unmittelbar und automatisch inspiriert fühlt, bleibt das Werk ein Werk und wird nie zu einem Kunst-Werk: Rezipienten sind, im Gegensatz zu den Kunstschaffenden, zwar nicht konstitutiv für das Werk, sind aber als „Mitspieler“[23] konstitutiv für das Kunst-Werk. Im Ganzen können wir strukturell vier Aggregatzustände einer einzigen Entität differenzieren:


1. Klötze, Klumpen, Krach und Kritzeleien ->

Das faktische Artefakt: kontextlos und damit rein hypothetisch gegeben.


2. Werk ->

Das im lebensweltlichen, intersubjektiven Kontext entstandene, noch unrezipierte Artefakt des Kunstschaffenden (physischer, mentaler oder transitorischer Art).


3. Kunst-Werk ->

Besteht eine entsprechende dispositionelle Grundverfassung seitens des Rezipienten (Mitspielers), so erfolgt, inspiriert durch die perlokutionäre Kraft des Eingriffs in den sozialen Diskurs durch den Kunstschaffenden mittels des von ihm geschaffenen Werks, eine teilnehmende assoziative Rezeption des Werks durch den Rezipienten (‚Mitspieler‘), der in der Regel eine unmittelbare physische und/oder psychische Reaktion vorausgeht. In jedem Moment der teilnehmenden assoziativen Rezeption (im Gegensatz zur teilnehmenden interpretativen Rezeption) durch den Rezipienten (Mitspieler) wird das Werk von ihm neu aufgefasst, gesehen, gelesen, gehört und mit immer neuen Assoziationen in Verbindung gebracht[24]. Es sind dies die Kunst-Werke, die rein subjektiven, flüchtigen Signaturen der Rezipienten, die keinen Bestand haben. Die nicht zum Werk selber gehören, sondern der Disposition des Rezipienten geschuldet sind: Besitzt der Rezipient keine diesbezügliche Disposition, keine Empfänglichkeit, wird das betreffende Werk ihm auch ‚nichts sagen‘. Der Schritt nach dieser assoziativ grundierten Rezeption ist die reflexive, rationale, interpretative Rezeption (ob der Rezipient nun durch die teilnehmende assoziative Rezeption des Werks zur Interpretation inspiriert wird oder aber seine interpretative Rezeption zum Beispiel im wissenschaftlichen Kontext ganz pragmatisch durch externe Aufgabenstellungen erfolgt, ist an dieser Stelle nicht von Relevanz).


4. Kunstwerk ->

a. Die individuelle intentionale Zuschreibung von etwas als Kunstwerk erfolgt im Rahmen eines singulären Aktes. Aus der Vielzahl intentional gleichgerichteter individueller Zuschreibungen resultiert in einem kollektiven Prozess der unsichtbaren Hand als episodales Ereignis –> b.

b. Die kollektive, allgemein akzeptierte Zuschreibung von etwas als Kunstwerk (die Attribuierung eines Werks als Kunst resp. Kunstwerk) innerhalb einer Sprachgemeinschaft (einer sozialen Gruppe, Kultur, Epoche).

c. Im fachwissenschaftlichen resp. fachspezifischen Diskurs kann es zu autoritativen Zuschreibungen durch exponierte Vertreter der Kunstwelt kommen, denen gegebenenfalls auch ein Begriff ‚Kunst‘ resp. ‚Kunstwerk‘ zugrunde liegt, der sich strukturell ausgehend von einem singulären Gebrauch innerhalb dieses Segments der Kunstwelt etabliert hat. Und wenn auch nur für einen bestimmten Kreis für einen bestimmten Zeitraum. Eine solche Zuschreibung kann sich innerhalb dieses Kreises des Kunstdiskurses sehr wohl als intendierte oder zumindest kalkulierte Folge einer Vielzahl gleichgerichteter individueller Handlungen etablieren. Ob sich diese Zuschreibung jedoch dauerhaft und/oder sogar über diesen exklusiven Zirkel hinaus etablieren kann, bleibt indes ebenso fraglich wie die gleichgelagerte Etablierung eines jeden wissenschaftlichen Kunstbegriffs (hier dürfte George Dickies institutioneller Kunstbegriff zu verorten sein, bei dem eine Gruppe von Experten einem Artefakt quasi in einem Taufakt den Status eines Kunstwerks verleiht).

d. Bei der ökonomischen Macht, die insbesondere von exponierten Vertretern diverser Institutionen der Kunstwelt als integraler Bestandteil des Kunstmarkts (Museen, marktbeherrschende Galerien, Auktionshäuser etc.) ausgeübt wird, handelt es sich um eine besonders manifeste und die soziokulturell wohl virulenteste Form autoritativer Zuschreibung von etwas als Kunstwerk. Die Attribution eines Werks als Kunstwerk wird im Verbund dieser Vertreter durchaus gezielt, geplant und intendiert vorgenommen. Das kollektive Resultat einer Vielzahl gleichgerichteter Handlungen dieser exponierten Vertreter der schmalen Schicht des Kunstmarktes und ihrer Mitspieler, der Käufer, ist somit eher kalkulierte Folge, bei der sich die individuellen Intentionen weitgehend mit dem kollektiven Resultat decken. Diese übergriffige Zuschreibung darf jedoch nicht mit der gesellschaftlich allgemein akzeptierten Zuschreibung verwechselt werden, obwohl beide Zuschreibungen durchaus deckungsgleich sein können. Was allerdings nicht weiter verwundert. Denn auch wenn die gesellschaftlich allgemein akzeptierte Zuschreibung aus einem Prozess der unsichtbaren Hand resultiert, so ist doch dieser Prozess schon deshalb nicht von ökonomischen Faktoren unabhängig, weil natürlich auch die Vertreter des Kunstmarktes Teilnehmer eben dieses umfassenden soziokulturellen Prozesses sind. Insofern bestimmen sie am Ende vielleicht doch mehr, was innerhalb einer Kultur, Gesellschaft oder Sprachgemeinschaft als Kunst resp. Kunstwerk gilt, als einem lieb sein kann.

6.

‚A will B durch x zu etwas bewegen‘[25]. Diesen strukturellen Mechanismus haben wir  in unserem Kommunikationsplanspiel tentativ als die grundlegende diskursive Funktion der perlokutionären Kraft bestimmt und dabei auf den verschiedenen Ebenen kommunikativer Praxis vorläufig folgende Erscheinungsformen ausgemacht:

  1. Nicht Verständigung, sondern eine wie auch immer sich darstellende Einflussnahme auf den Gesprächspartner ist das vorrangige Ziel eines Sprechers in einem Gespräch: A will Einfluss auf B nehmen, also eine bestimmte Wirkung durch das, was er sagt, bei B erzielen. Das heißt: B durch x zu etwas zu bewegen. So zum Beispiel zu einer Antwort, die wiederum mit perlokutionärer Kraft das Ziel verfolgen kann, eine Replik von A zu initiieren.
  2. Zentrales Momentum des handlungstheoretischen Grundmodells von H. Paul Grice ist das Erkennen der „reflexive(n) Intention“ (Liedtke 2016: 37) des Sprechers durch den Angesprochenen. Um die kommunikative Intention (die Sprecher-Intention), also das mit der Äußerung Gemeinte, sowie die intendierte Wirkung (die Sprecher-Bedeutung) verstehen zu können, muss der Angesprochene eine interpretative Leistung erbringen und über relevantes Kontextwissen verfügen. Dabei lässt sich die Intention von A, unabhängig von jeder inhaltlichen Aussage, strukturell ebenfalls darstellen als: A will B durch x zu etwas bewegen – nämlich zur Erkenntnis dessen, was A meint.
  3. Dem handlungstheoretischen Grundmodell von Grice ist das Prinzip geteilter Intentionalität inhärent. Nach Michael Tomasello kennzeichnet es die einzigartige Typik menschlicher Kommunikation und ist Mater seines kooperativen Handelns. Ein Verständnis des Gemeinten, das noch nicht sozial festgelegt ist und bei dem noch kein gemeinsamer Kontext konstituiert wurde, ereignet sich in einem Prozess kooperativen Handelns, an dem wiederum „Prozesse geteilter Intentionalität“ (Tomasello 2017: 83) beteiligt sind: Die Variation der perlocutionary force, die wir bei Grice ausgemacht haben (‚A will B durch x zu etwas bewegen – nämlich zur Erkenntnis dessen, was A meint‘), würde sich damit als konstitutives Momentum menschlich-kooperativer Interaktion darstellen.
  4. In der Terminologie des britischen Sprachphilosophen John L. Austin wird der mit der Lokution und der Illokution verbundene Sprechakt der Perlokution als der nicht-konventionale Akt bezeichnet, mit der der Sprecher die Absicht verfolgt, bestimmte Wirkungen beim Angesprochenen zu erzielen. Diese intentionale Handlung ließe sich damit ebenfalls auf die ganz allgemeine Formel bringen: ‚A will bei B durch x etwas bewirken‘ (ihn zu etwas bewegen).
  5. A verfolgt die Intention, B durch die Äußerung x zu einer Replik zu inspirieren: Dies stellt, so die These, den grundlegenden Impuls für Beginn und Fortführung eines jeden dialogisch konstituierten, kooperativen Konstrukts, also der Gespräche, Dialoge und Diskurse dar, die auf das klassische Konstrukt von Rede und Widerrede hinauslaufen. Gegebenenfalls ist die perlocutionary force sogar die treibende Kraft eines jeden sozialen Diskurses, zu dem auch der intentionale Eingriff durch ein Artefakt gehören würde (dialogische Konstrukte sind immer reziprok, soziale Diskurse nicht zwingend – das ist der grundlegende Unterschied zwischen dem Gespräch und dem ‚Gespräch‘).
  6. Die Vorsatzabsicht künstlerisch Schaffender, Artefakte zu kreieren, ist, so die These, stets mit einer darüber hinaus gehenden, grundlegenden kommunikativen Absicht verbunden: beim potentiellen Rezipienten B eine bestimmte Wirkung zu erzielen, ihn zu etwas zu bewegen, zu etwas zu inspirieren. Hierunter wäre insbesondere die Inspiration zur Assoziation zu fassen: Damit wäre die perlokutionäre Kraft als grundlegender Impuls zur automatischen Rezeption die Voraussetzung dafür, dass aus dem Werk ein Kunst-Werk werden kann (vorausgesetzt, seitens B besteht eine entsprechende dispositionelle Grundverfassung zur Rezeption). 
  7. Künstlerisch Schaffende intendieren durch ihr Werk, das physischer, mentaler oder auch transitorischer Art sein kann, beim Rezipienten B eine Reaktion. Dazu gehört die oben angesprochene Inspiration zur automatischen Assoziation. Die Intention kann sich bei dem einen oder anderen künstlerisch Schaffenden aber zudem auch als Intention zur Inspiration einer wie auch immer gearteten intelligiblen, interpretativen, reflexiven ‚Äußerung‘ äußern. Das intentional mit perlokutionärer Kraft verfolgte Ziel einer solchen Replik umfasst dabei die gesamte Breite vom einfachen persönlichen Statement des Kunstinteressierten über die Interpretation durch die Kunstwissenschaft und Rezeption durch die Kunstkritik bis hin zur wohlwollenden Aufnahme durch den Kunstmarkt. Der grundlegende Mechanismus ‚A will B durch x zu etwas bewegen‘ erscheint so als durchgehendes Merkmal generell aller im realen sozialen Kontext stattfindenden kommunikativen Akte. Auch die der ‚Gespräche‘, die nicht auf ein Gespräch aus sind, also nicht auf das klassisch-dialogische Konstrukt von Rede und Widerrede. So wie es bei dem überwiegenden Teil der durch Kunstschaffende erstellten Artefakte der Fall ist, die in der Regel mit ihnen keinen Dialog initiieren wollen.
  8. Künstlerisch Schaffende greifen durch ihr Werk zudem in die „allgemeinen diskursiven Kontexte ihrer Zeit“ (Skinner 2009b: 81) ein. Ihre Artefakte stellen insofern Beiträge sozialer Diskurse dar, die in kulturelle Kontexten eingebunden sind und die, will man sie ‚verstehen‘, zurück in diejenigen Kontexte gestellt werden müssen, in denen sie ursprünglich verfasst wurden und einer Bedeutungsexplikation durch die ‚dichte Beschreibung‘ harren (wobei in der modernen und zeitgenössischen Kunst diese Beiträge zumeist nicht auf Basis sozial festgelegter Bedeutungsstrukturen, also mit konventionalen Zeichen resp. öffentlichen Codes, sondern mit singulären ‚Künstler-Intentionen‘ verfasst werden). Hier zielt die perlokutionäre Kraft des ‚A will B durch x zu etwas bewegen‘ nicht zwingend auf eine konkrete Person B, sondern ggf. auf eine Öffentlichkeit, die Teil dieses sozialen Diskurses ist oder dazu inspiriert werden soll, diesem Diskurs beizutreten.

Mit der Bestimmung dieses strukturellen Mechanismus ‚A will B durch x zu etwas bewegen‘ als grundlegende diskursive Funktion, als perlokutionäre Kraft, erteilen wir einer Bestimmung der ‚Kunst‘ als funktionsloser Kunst grundsätzlich eine Absage: Das, was wir abendländisch geprägten Kultur-/Kunstschaffenden und Rezipienten in allgemein akzeptierter Zuschreibung innerhalb einer Kultur, Gesellschaft, Sprachgemeinschaft, sozialen Gruppe ‚Kunst‘ nennen, dient stets zumindest diesem kommunikativen Zweck. Aber ist nun die Funktionalität der ‚Kunst‘ auf diese grundsätzliche diskursive Funktion der Artefakte beschränkt oder lassen sich noch weitere ausmachen?

7.

Seit Kant ist der Topos der autonomen, funktionslosen Kunst eine Konstante in der ästhetischen Theorie. Die Kunst dient, so die herrschende Meinung, keinem äußeren Zweck. Diese in ihrem Ursprung idealistische Position findet sich übergreifend, selbst in der Systemtheorie. So konstatiert Niklas Luhmann ein „Autonomwerden des Kunstsystems“ (Luhmann 2017: 240): Kunst sei zwar in „eine in Funktionssysteme differenzierte Gesellschaft“ (ebd.: 241) eingebunden, doch obgleich sie nur eines dieser Funktionssysteme ist, gilt ihr „funktionaler Primat (…) nur für sie selbst. Aber eben deshalb kann sie (…) sich auf ihre eigene Funktion konzentrieren“ (ebd.: 241). In diesem Sinne ließe sich sagen, so Luhmann, „die Funktion der Kunst (sei es), Welt in der Welt erscheinen zu lassen“ (ebd.: 241). Entsprechend fehlt dem Kunstwerk „die Zweckdienlichkeit für soziale Kontexte jeder Art (wirtschaftliche, religiöse, politische usw.)“ (ebd.: 227) – die Frage, wozu Kunst dient, ist demnach „eine offene, sich selbst annullierende Frage“ (ebd.: 227). Wer also diese Frage stellt, so der Philosoph Reinold Schmücker in seiner erhellenden Analyse ‚Funktionen der Kunst‘, „rührt an das Dogma der Kunstautonomie“ (Schmücker 2001: 13) und der prinzipiellen Funktionslosigkeit der Kunst, das zumindest für die moderne Kunst mit Nachdruck vertreten wird. Dies führt auf direkten Wege zur fast schon ketzerischen „Frage nach der lebensweltlichen Funktionalität der Kunst“ (ebd: 15): Gibt es überhaupt eine Kunst ohne äußeren Zweck, ohne Nutzen, ohne Funktion?

Die deskriptive generelle Autonomiethese der Kunst behauptet, so Schmücker, die Funktionslosigkeit der Kunst; die normative fordert sie. Wo aber Funktionslosigkeit gefordert wird, wird „die faktische Funktionalität der Kunst immer schon anerkannt“ (ebd.: 16). Was nun wiederum gegen die deskriptive Autonomiethese spricht, ist, dass sich bestimmten Formen der Kunst eine gewisse Funktionalität de facto nicht absprechen lässt. Dies ist bei der Architektur für jeden unmittelbar ersichtlich, aber durchaus auch für die Musik oder die zeitgenössisch bildende Kunst plausibel: „(D)ass Musik die Funktion haben kann, uns zum Tanz zu animieren, ist ebenso offenkundig wie die Funktion gerade auch der modernen Kunst als Statussymbol, als Indikator ökonomischer und politischer Macht“ (ebd.: 16, cf. Ullrich 2000 passim). Nun könnte, um die deskriptive generelle Autonomiethese zu retten, eine radikale Konsequenz gezogen werden: Es werden „nur solche Artefakte als Kunstwerke (anerkannt), die funktionslos sind“ (ebd.: 17). Von der Frage einmal abgesehen, wie viele Artefakte, sollte dieses Kriterium schlüssig sein, dann noch als Kunstwerke wohl übrig blieben, kontert Schmücker diesen argumentativen Schachzug mit einer Gegenfrage, deren Konsequenz so wenig romantisch klingt wie schlüssig ist: „Was, wenn nicht der intersubjektive Konsens einzelner oder mehrerer Sprachgemeinschaften, soll über die Zugehörigkeit zur Klasse der Kunstwerke entscheiden?“ (ebd.: 17) Und konstatiert konsequenterweise: „Welche Artefakte zur Klasse der Kunstwerke zählen – die eben nicht mit der Klasse derjenigen Objekte identisch sein muss, die mir oder irgendeinem anderen Sprecher als Kunstwerke gelten –, darüber befindet der allgemeine Sprachgebrauch[26]“ (ebd.: 18, cf. Oehm 2019a: 13 und Oehm 2019b: 95, 103;  Lüdeking 1998: 203).

Wer also verneint, dass ‚Kunstwerke‘ eine Funktion haben, müsste sich wider den allgemeinen Sprachgebrauch nach eigenem Gutdünken eben die Artefakte wie Rosinen aus dem Kuchen picken, die zur deskriptiven generellen Autonomiethese passen – und dies bei der Komprehension der Kunstwerke, also der Menge aller vergangener, heutiger wie auch zukünftiger Kunstwerke, tun müssen. Was aber, wenn diese These nur externe Zweckbestimmungen exkludiert, nicht aber interne? Wenn also behauptet wird, „dass sich ‚die Kunst‘ irgendein Gesetz gibt, dass ihr eine bestimmte Funktion auferlegt“ (ebd.: 18)? Würde dies geschehen, hätten wir es erneut mit einer unzulässigen Anthropomorphisierung und Vitalisierung zu tun. Von dem Umstand einmal abgesehen, dass es den Begriff ‚die Kunst‘ als Oberbegriff aller künstlerischen Schöpfungen erst seit dem späten 18., frühen 19. Jahrhundert gibt, weshalb auch erst seitdem die Gretchenfrage nach dem vermeintlichen Wesen der Kunst Was ist Kunst? gestellt werden kann: Auch ‚Kunst‘ würde hier zu einem selbsttätig agierenden Handlungssubjekt stilisiert werden, „die Rede von der Kunst (würde) auf eine Gesamtheit künstlerischer Werke und Praktiken (verweisen), die sich nicht (Hervorhebung S.O.) als ein Subjekt begreifen lässt, das eine Wahl zu treffen vermöchte“ (ebd.: 18).

Konsequent negieren jedoch selbst die die Funktionalität der Kunst nicht, die, so Schmücker, geradezu als paradigmatische Vertreter eines kunstästhetischen Antifunktionalismus gelten. So notiert Theodor W. Adorno in seinem Opus magnum ‚Ästhetische Theorie‘: „Soweit von Kunstwerken eine gesellschaftliche Funktion sich prädizieren lässt, ist es ihre Funktionslosigkeit“ (Adorno 2019: 336). Damit bringt er, ebenso wie Kant, der die ‚schöne Kunst‘ als eine Vorstellungsart definiert, „die für sich selbst zweckmäßig ist, und, obgleich ohne Zweck, dennoch die Kultur der Gemütskräfte zur geselligen Mitteilung befördert“ (Kant 1979: 240, §44), „auf einer Metaebene einen gleichsam höheren Zweck ins Spiel, von dem sie annehmen, dass ihm die Kunst kraft ihrer Funktionslosigkeit dient“ (Schmücker 2001: 19).

8.

Sollte Kunst nun noch anderen Zwecken dienen, so fragt Schmücker weiter, wann hat sie eine solch bestimmte Funktion? Hier stellen sich ihm drei Fragen:

  1. „(I)st die Zuschreibung einer Funktion an deren stets erfolgreiche Erfüllung gebunden?“ (ebd.: 20)
  2. „(H)ängt die Zuschreibbarkeit einer Funktion davon ab, dass sie aktuell erfüllt wird?“ (ebd.: 20)
  3. „Können wir (…) der Kunst als solchen eine Funktion zuschreiben? Oder besitzen nur individuelle Kunstwerke einzelne oder mehrere Funktionen?“ (ebd.: 20)

Auf die ersten beiden Fragen gibt uns Schmücker eine abschlägige Antwort, „(d)enn der Funktionsbegriff zielt auf die potentielle Dienlichkeit einer Sache, nicht auf ihre tatsächliche Dienstbarkeit in einem einzelnen konkreten Fall“ (ebd.: 21, Schmücker bezeichnet einzelne Kunstwerke als ‚primäre Träger einer Funktion‘). Auf die dritte Frage antwortet er ambivalent. Einerseits konstatiert er, dass Funktionen generell nur einem einzelnen Kunstwerk zukommen können, andererseits mag er aber nicht ausschließen, „dass es Funktionen gibt, die mehreren oder sogar allen Kunstwerken zukommen (…) oder (sich) sogar der Kunst als solcher zuschreiben lassen“ (ebd.: 21). Die Bestimmung der „Klasse von Kunstwerken als auch (der) Teilklassen“ (ebd.: 21) als „sekundäre Träger einer Funktion“ (ebd.: 22) scheint unproblematisch. Schreibt er diese Bestimmung jedoch auch ‚der Kunst als solcher‘ zu, so stellt sich spontan die Frage: Worum handelt es sich dabei? Hat Schmücker nicht gerade eben erst selbst der ‚Rede von der Kunst‘ eine Absage erteilt? Oder unterscheidet er subtil ‚die Kunst‘ von ‚die Kunst als solche‘? Bezieht er sich in seiner Aufzählung auf den Begriff ‚Kunst‘, der in der Wesensfrage ‚Was ist Kunst?‘ steckt, dann müsste es sich um einen zeit- und kulturinvarianten Begriff ‚Kunst‘ handeln (aber handelt es sich bei ihm denn nicht um einen im abendländischen Diskurs entstandenen, geprägten und selbst Artefakte anderer Kulturen sowie rückwirkend Artefakte vergangener Epochen in perfider Übergriffigkeit subsumierenden Begriff?). Aber wenn doch, wie er schreibt, der intersubjektive Konsens der jeweiligen Sprachgemeinschaft entscheidet, welche Artefakte zur Klasse der Kunstwerke zu zählen sind – was hat es dann mit der Rede von ‚der Kunst als solcher‘ auf sich? Unterscheidet Schmücker hier en passant zwischen dem, was als Kunst gilt, und dem, was Kunst ist? Führt er eine zeit- und kulturinvariante Eigenschaft ein, die bestimmt, wann ein Artefakt ein Kunstwerk ist? Eröffnet er so die Möglichkeit, dass eine Sprachgemeinschaft etwas nicht als Kunstwerk erachtet, was aber ein Kunstwerk ist, wie auch, vice versa, dass sie etwas als Kunstwerk erachtet, was kein Kunstwerk ist? Sollte dem so sein, würde sich die Frage nach zeit- und kulturinvarianten Kriterien von etwas stellen, was als abendländisch grundiertes Konzept ganz und gar zeit- und kulturvariant ist: ‚Kunst‘.

„Welche Funktionen hat Kunst[27]?“ (Schmücker 2001: 22). Um diese Frage zu beantworten, stellt er im Folgenden drei Kernfragen:

  1. Gibt es Funktionen, „die allen Kunstwerken gemeinsam sind“ (ebd.: 22): die „generellen Funktionen der Kunst, die jedes Kunstwerk aufweist“ (ebd.: 22)?
  2. Wenn es sie gibt: Gibt es eine bestimmte generelle Funktion, die „kunstkonstitutiv[28] (ebd.: 22) ist, die ein „Artefakt zu einem Kunstwerk macht“ (ebd.: 22)?
  3. Was sind die „potentiellen Funktionen (…), die ein Kunstwerk haben kann, aber nicht haben muss“ (ebd.: 22)?

In einem ersten Schritt macht Schmücker eine Funktion aus, die zwar allen Kunstwerken gemeinsam, nicht aber kunstkonstitutiv sei, weil die Kunst sie „mit anderen Gegenständen sinnlicher Wahrnehmung, beispielsweise mit der ästhetischen Natur, teilt“ (ebd.: 23). Es ist dies „die ästhetische Funktion der Kunst“ (ebd.: 23), die „eine ästhetische Erfahrung hervorzurufen“ (ebd.: 23) vermag. Darunter versteht Schmücker „jede kontemplative, auf einen bestimmten Wahrnehmungsgegenstand gerichtete Aufmerksamkeitskonzentration, die um der Gewahrung der Eigenheit dieses Gegenstandes willen erfolgt“ (ebd.: 23). Etwas irritierend ist an dieser Stelle, dass Schmücker hier etwas postuliert, was er zuvor bei der Rede von der Kunst als „ein Subjekt, das eine Wahl zu treffen vermöchte“ oder sich „irgendein Gesetz gibt“ (ebd.: 18), zurecht vehement zurückweist: dass jedes Kunstwerk imstande ist, eine ästhetische Erfahrung hervorzurufen. Davon einmal abgesehen, dass eine Bedingung der Möglichkeit, eine solche Erfahrung auch ‚hervorrufen‘ zu können, die dispositionell entsprechende Grundverfassung des Rezipienten ist – Schmücker spricht von dem ‚Kunstwerk‘ so, als würde es sich bei ihm um ein Subjekt handeln, das zu selbsttätiger, eigenverantwortlicher Handlung befähigt ist. Da taucht es wieder auf, dieses fast mythische Wesen, das seit Jahrhunderten durch die europäische Geistesgeschichte geistert und, in der Gestalt der Kunst, beeindruckende Dinge zu tun vermag: Es kann betören, aufwühlen, Brücken in die Gesellschaft bauen, unsere Wahrnehmung schärfen, Veränderungen aufzeigen. Doch diese in der gesamten Kunstwelt seit alters her gebräuchliche und kaum hinterfragte Redeweise von der selbsttätig agierenden Kunst und dem selbsttätig agierenden Kunstwerk verschleiert den wahren Sachverhalt. Wie schon an anderer Stelle gesagt: ‚Die Kunst‘ kann nichts tun, ebenso wenig das Kunstwerk. Wenn überhaupt, dann sind es die Kunstschaffenden, die etwas tun. Doch fühlt sich der Rezipient nicht angesprochen, dann geschieht: nichts. Da werden dann weder Brücken in die Gesellschaft gebaut noch Veränderungen aufgezeigt, da wird nicht betört, aufgewühlt, unsere Wahrnehmung geschärft und eben auch keine ästhetische Erfahrung hervorgerufen.

Neben diese übergreifende ästhetische Funktion stellt Schmücker eine spezielle ästhetische Funktion, die explizit „auf die Eigentümlichkeit der ästhetischen Erfahrung von Kunstwerken Bezug nimmt“ (ebd.: 23): die „kunstästhetische Funktion“ (ebd.: 23). Sie unterscheidet sich in einem Punkt signifikant „von der ästhetischen Erfahrung anderer Sinnesdinge“ (ebd.: 23). Nämlich „dadurch, dass sie in ein Verstehen einmünden kann und will“ (ebd.: 24, Hervorhebungen S.O.). Es ist „der Besitz der kunstästhetischen Funktion, der ein Artefakt zu einem Kunstwerk macht“ (ebd.: 24, Hervorhebung S.O.); sie ist „deshalb für Kunst konstitutiv“ (ebd.: 24, Hervorhebung S.O.). Andererseits ist es aber der intersubjektive Konsens des allgemeinen Sprachgebrauchs, der ein „Artefakt zur Klasse der Kunstwerke zähl(t)“ (ebd.: 18, Hervorhebung S.O.). Das hieße aber theoretisch, dass bisweilen Artefakte zur Klasse der Kunstwerke gezählt werden können, die nicht im Besitz der kunstästhetischen Funktion sind, also keine Kunstwerke sind (ob ein Artefakt „diese Funktion erfüllen kann“ (ebd.: 25), ergo dass von bestimmten Artefakten gesagt werden kann, „dass sie (…) Kunstwerke sind“ (ebd.: 25), entscheidet in einem intersubjektiven evaluativen Konsens allerdings wieder, so Schmücker, die Sprachgemeinschaft).

Schmücker fasst hier das „Kunstwerk (…) als Medium eines diskontinuierlichen Kommunikationsgeschehens“ (Schmücker 2014: 282) auf, das dies als einen „Verweisungszusammenhang eines Zu-verstehen-Gebens und eines Zu-verstehen-Suchens“ (ebd.: 282) begreift. Das ‚diskontinuierliche Kommunikationsgeschehen‘ ist jedoch keines im „Horizont des Verständigungsparadigmas“ (ebd.: 282), ist es doch „strukturell weder auf die Erzielung eines intersubjektiven Einverständnisses noch überhaupt auf Verständigung der Interaktanten angelegt“ (ebd.: 282). Dem kann nur zugestimmt werden. Wobei eine Anmerkungen gestattet sein darf: An anderer Stelle haben wir gesehen, dass, im Gegensatz zum landläufigen Verständnis, Verständigung „nicht ‚der Zweck‘ der Sprache (ist), sondern allenfalls einer unter vielen“ (Keller 2014: 135; cf. Wittgenstein 1977: 17, PU §3). Das, was für das eine Medium der Kommunikation, das Kunstwerk, laut Schmücker prinzipiell gilt, gilt laut Keller graduell auch für das andere Medium der Kommunikation, die Sprache. Und damit, so ist zu vermuten, für jedwedes Kommunikationsgeschehen. Was wiederum jedwedes Kommunikationsgeschehen als ein in gewisser Weise diskontinuierliches ausweisen würde.

Mit der „Interpretation von Kunstwerken als Medien diskontinuierlicher Kommunikationsprozesse“ (Schmücker 2014: 283) bestimmt Schmücker Kunstwerke als „kommunikative Zeichen“ (ebd.: 283), die einem Rezipienten etwas Bestimmtes mitteilen – jedoch in der Weise, dass er „lediglich mitgeteilt bekommt, daß ihm eine bestimmte Mitteilung gilt, ohne daß er deren Inhalt definitiv zu bestimmen vermöchte“ (ebd.: 283). Darin liegt, so Schmückers Vermutung, „das Wesen der Kunst“ (ebd.: 283). Indem der kunstästhetischen Erfahrung also wesentlich ist, „dass sie in ein Verstehen einmünden kann“ (ebd.: 24), ohne jedoch auf Verständigung angelegt zu sein, stellt er sie zwar außerhalb des ‚Horizonts des Verständigungsparadigmas‘, aber doch innerhalb eines ‚Horizonts des Verstehens-Paradigmas‘: Die kunstästhetische Funktion zielt auf ein Verstehen-können, Verstehen-wollen, Zu-verstehen-Geben und Zu-verstehen-Suchen. Dies stellt als diskursive Funktion nicht nur das positive, kunstkonstitutive Momentum dar, sondern auch das negative, abgrenzende. Mit anderen Worten: das differenzierende Merkmal des Kunstwerks gegenüber anderen Gegenständen sinnlicher Wahrnehmung.

Im Sinne unserer Eingangsfrage ‚Was gibt es in der Kunst zu ‚verstehen‘?‘ lässt sich an dieser Stelle natürlich fragen, wie denn dieses ‚Verstehen‘, bezogen auf das einzelne Werk, das entsprechende Oeuvre, das einzelne Medium (z.B. Jazz, Rap, Klassik), die jeweilige Gattung (z.B. Musik), Epoche und Kultur, jeweils verstanden werden muss. Oder, wenn es hier ein alle Werke, Medien, Gattungen, Epochen und Kulturen übergreifendes Verständnis von ‚Verstehen‘ geben sollte, wie dieses dann zu verstehen ist. Angenommen, wir würden, ungeachtet dieses ungelösten Problemkomplexes, 

über ein intersubjektiv konstituiertes, gemeinsames Verständnis von ‚Verstehen‘ verfügen: Dass die kunstästhetische Erfahrung „in den Prozess eines tentativen Verstehens einmünden kann“ (ebd.: 24, Hervorhebung S.O.), ließe sich dann nicht, da bin ich mit Schmücker einig, plausibel bestreiten – aber will die kunstästhetische Erfahrung auch darin einmünden?

Da es sich auch bei der ‚kunstästhetischen Erfahrung‘ wohl kaum um ein selbsttätig agierendes Subjekt handeln kann, ist der Begriff ‚will‘ hier etwas unglücklich gewählt. Impliziert er doch eine zielgerichtete, bewusste, intentionale Handlung seitens der kunstästhetischen Erfahrung. Diese sei ihrerseits wiederum auf die Kunstwerke zurückzuführen, da nur sie eine solch spezifische, in ein Verstehen einmündende ästhetische Erfahrung hervorzurufen vermögen. Was aber auch nicht der Fall sein kann, da es sich ja bei den Kunstwerken ebenso wenig um selbsttätig agierende Subjekte handelt. Plausibler scheint mir folgende Formulierung zu sein: Bei der kunstästhetischen Erfahrung handelt es sich um etwas, was ein Kunstschaffender durch ein Artefakt bei einem Rezipienten hervorrufen will. Würde diese Formulierung goutiert werden, könnte die Struktur formal so dargestellt werden: Ein Kunstschaffender A will einen Rezipienten B durch ein Artefakt x zu einer kunstästhetischen Erfahrung bewegen (in diesem Fall: zu einer, die in ein Verstehen einmündet). Oder kürzer gesagt: A will B durch x zu etwas bewegen. Kunstwerke, verstanden als kommunikative Zeichen, die einem Rezipienten etwas Bestimmtes mitteilen, Medien eines diskontinuierlichen Kommunikationsprozesses und intentionale Eingriffe in die „allgemeinen diskursiven Kontexte ihrer Zeit“ (Skinner 2009b: 81) sind, müssten damit nicht im ‚Horizont des Verständigungsparadigmas‘ oder eines ‚Verstehens-Paradigmas‘ gesehen werden, sondern im ‚Horizont des Beeinflussungsparadigmas‘, das wir in unserem Kommunikationsplanspiel als die grundlegende diskursive Funktion der perlokutionären Kraft bestimmt haben.

9.

Von den generellen ästhetischen Funktionen und der generellen kunstkonstitutiven ästhetischen Funktion unterscheidet Schmücker „zwei Arten potentieller Funktionen“ (Schmücker 2001: 26, Hervorhebung S.O.): zum einen die kunstimmanenten Zwecken dienenden „(i)nternen Funktionen“ (ebd.: 26), zum anderen die „externen Funktionen“ (ebd.: 27). Während er in einer systematisch differenzierten, gleichwohl noch vorläufigen Übersicht (cf. ebd.: 28) vier interne Funktionen ausmacht (Traditionsbildungs-, Innovations-, Reflexions-, Überlieferungsfunktion), fächert er die externen Funktionen in sechs Typen auf (kommunikative, dispositive, kognitive, mimetisch-mnestische, dekorative Funktionen), die ihrerseits wiederum in zahlreiche weitere Unterklassen aufgeschlüsselt werden. Eine beeindruckende Vielfalt verschiedener Funktionen, die es dem Rezipienten ermöglichen, bei der Rezeption eines Kunstwerks eine entsprechend genaue Zuordnung zu treffen. Mit einer Einschränkung: Als „dispositive Funktionen“ (ebd.: 28) kennzeichnet Schmücker die, die unter anderem „ein Gefühl, eine Verhaltensweise oder eine Disposition zu einem bestimmten Verhalten hervorrufen“ (ebd.: 29, Hervorhebung S.O.). Wie zum Beispiel die Funktionen, die „Freude (…) evozieren“ (ebd.: 29), „eine melancholische Stimmung (…) erzeugen“ (ebd.: 29) oder auch „Motivation zu einem Verhalten“ (ebd.: 29) sein können. Was unterscheidet dann aber die kunstkonstitutive ästhetische Funktion, die beim Rezipienten eine ästhetische Erfahrung ‚hervorruft‘, die in ein Verstehen einmünden kann und will (cf. Schmücker 2001: 26), strukturell von der Bestimmung der dispositiven Funktionen? Ist die kunst-konstitutive ästhetische Funktion nicht vielleicht auch eine dispositive Funktion? Und handelt es sich bei der ‚dispositiven Funktion‘ nicht gar um das, was wir an anderer Stelle ‚perlokutionäre Kraft‘ genannt haben: A will B durch x zu etwas bewegen? Was, wenn dem so wäre, einen deutlichen Fingerzeig darstellen würde, wie unsere Eingangsfrage ‚Was gibt es in der Kunst zu ‚verstehen‘? beantwortet werden könnte.

 

 

***

Was gibt es in der Kunst zu „verstehen“?, Rigorose Reflexionen zum Kunstbegriff von Stefan Oehm.  Königshausen & Neumann, 2021

Die inflationäre Verwendung des zentralen Terminus technicus im Kunstdiskurs geht mit einer befremdlichen sprachlichen Sorglosigkeit einher. Keiner der Beteiligten nimmt eine systematische Begriffsdifferenzierung vor, um sicherzustellen, dass alle wissen, worüber sie reden, worüber sie miteinander reden und worüber der Andere redet. Wie kann ein Verstehen gewährleistet sein, wenn nicht dieses Wissen gewährleistet ist? Über welchen Begriff ›verstehen‹ reden wir in der Kunst? Geht es in der Kunst überhaupt darum, etwas zu verstehen oder verstehen zu geben? Die hier vorliegenden fünf Aufsätze widmen sich einigen grundsätzlichen Überlegungen, um von diversen liebgewonnenen Topoi Abschied zu nehmen. Helfen werden Gedanken des Ethnologen Clifford Geertz, den sein Unbehagen an der mangelnden begrifflichen Präzision deutender Ansätze zum Konzept der ›Dichten Beschreibung‹ führte. Des Weiteren jene des Historikers Quentin Skinner, der den Mythen der Rückprojektion bestehender Konzepte in die Vergangenheit und historischer Kontinuitäten Einhalt bot. Und nicht zuletzt des Anthropologen Michael Tomasello, der die Infrastruktur geteilter Intentionalität als Basis menschlicher Kommunikation und kooperativen Handelns identifizierte – die Basis dessen, was wir so gerne Kunst nennen.

Weiterführend →

KUNO würdigte das Buch Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden? von Stefan Oehm mit einem Rezensionsessay. – Eine Leseprobe finden Sie hier.

 

Literatur:

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Wyss, Beat (2018): Reiche sind immer reich geblieben, Artikel in: F.A.S. 23. Dezember 2018.


[1] Siehe die Differenzierung der Gebrauchsebenen und Gebrauchsregeln des Wortes Kunst in: ‚Entwurf einer grundsätzlichen Erörterung des Begriffs ‚Kunst’‘ (Oehm 2019a: 10, auch Oehm 2019b: 272).

[2] Mit der Vernunft ist der Mensch „aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit“ (Kant 1975: 68) entlassen. „Indessen ist dieser Gang, der für die Gattung ein Fortschritt vom Schlechteren zum Besseren ist, nicht eben das nämliche für das Individuum“ (ebd.: 68). Das Individuum sieht „im Gebrauche seiner Freiheit bloß auf sich selbst“ (ebd.: 68) – „die Geschichte der Freiheit (fängt also) vom Bösen (an), denn sie ist Menschenwerk“ (ebd.: 68).

[3] Wie dieser Begriff ‚Sprache‘, so wird auch der Begriff ‚Kunst‘ (im Sinne eines Oberbegriffs aller künstlerischer Schöpfungen – er entstand erst im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert) gerne als ‚Kollektivsingular‘ bezeichnet (cf. Schmücker 2006: 241, Roland Kanz 2014, Beat Wyss 2018). Was nicht ganz zutreffend ist. Denn Kollektivsingular wird ein Begriff genannt, der zwar im Singular steht, für den es aber auch einen Plural gibt. Bei dem im Sinne eines Oberbegriffs benutzten Begriffs ‚Kunst‘ führt die Verwendung im Plural jedoch zu einer Veränderung der qualitativen Bedeutung des Singulars. Oder ums kurz zu sagen: Diesen Begriff ‚Kunst‘ gibt es ausschließlich im Singular. Es ist demnach kein ‚Kollektivsingular‘, sondern ein ‚nicht zählbares Substantiv‘: Der Singular ‚die Kunst‘ bezeichnet etwas qualitativ anderes als der Plural ‚die Künste‘.

[4] Cf. Zur Kritik an der Theorie von Benjamin Lee Whorf: Guy Deutscher ‚Im Spiegel der Sprache – Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht‘, insbesondere Kap. 6 ‚Der mit dem Whorf tanzt‘.

[5] Die Antwort lautet natürlich wenig überraschend: niemand. Denn Kontingenz prägt unser selbst wiederum kontingentes Wissen darüber, dass unser Wissen relativ ist. Insofern steht alles, zumindest in der Geistesgeschichte Gesagte, stets unter Kontingenzvorbehalt. Auch dies.

[6] Ihren fulminanten Essay ‚Gegen Interpretation‘ von 1964 beschließt Susan Sontag mit dem eindringlichen Appell: „Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst“ (Sontag 2015a: 22). Susan Sontags heiliger Furor gegen die im klassischen Sinne verstandene Hermeneutik, gegen die Interpretationssucht insbesondere der Kunstkritik, ihr vehementes Insistieren auf die Autonomie des Kunstwerks, die sie als die „Freiheit, nichts zu bedeuten“ definierte (Sontag 2015b: 37), ist nur zu verständlich. Denn sollte unsere erste Annäherung an ein Artefakt der reflexive Zugang sein, so distanzieren wir uns gleich zu Beginn auf grundsätzliche Weise vom Kunstwerk. Ich schiebe den Verstand zwischen das Werk und mir. Halte Abstand zu ihm. Mache es zum Objekt meiner be-deutenden Betrachtung. Versuche es mir im subjektiven Zugriff, der sich rational-objektiv geriert, untertan zu machen statt ihm auf Augenhöhe zu begegnen. So mache ich das Kunstwerk zum permanenten Ziel übergriffiger Interpretationen, wo es mir doch Impuls und Inspiration sein sollte (dazu später mehr).

[7] Wenn ich etwas im Rahmen eines sozialen Diskurses tue (zum Beispiel, indem ich etwas sage), so erziele ich dadurch beim Rezipienten, ganz allgemein gesagt, in der Regel eine bestimmte Wirkung. Dies kann die unmittelbar beabsichtigte Folge meines Handelns, das intendierte perlokutionäre Ziel (perlocutionary object, Austin 1979: 134 und Austin 1962: 117) sein, es kann sich dabei aber auch um eine Wirkung zweiter Ordnung handeln: um das intendierte perlokutionäre Nachspiel (perlocutionary sequel, Austin 1979: 134 und Austin 1962: 117). Ein solches Nachspiel kann sich allerdings ohne Weiteres auch nicht-intendiert einstellen: Ich will jemanden durch mein Warnen (Illokution) erschrecken (Perlokution). Leider erschrickt er sich, da er herzkrank ist, dabei zu Tode (nicht-intendiertes perlokutionäres Nachspiel). Weiß ich aber, dass er herzkrank ist, kann dies durchaus auch ein intendiertes perlokutionäres Nachspiel gewesen sein. Was, zumindest dann, für mich auch ein juristisches Nachspiel hätte. John L. Austin spricht davon, dass, wenn ich einen illokutionären Akt vollziehe, ich dadurch, dass ich diese Äußerung mache, in der Regel bei dem anderen auch bestimmte wichtige Wirkungen erziele. Was  bisweilen „mit dem Plan, in der Absicht, zu dem Zweck“ (Austin 1979: 118) erfolgt, sie zu bewirken: „Saying something will often, or even normally, produce certain consequential effects upon the feelings, thoughts, or actions of the audience, or of the speaker, or of other persons: and it may be done with the design, intention, or purpose of producing them“ (Austin 1962: 101). Bei diesen ‚consequential effects‘ handelt es sich um ‚perlocutionary sequels‘, um perlokutionäre Nachspiele (E. v. Savigny). Werden nun diese ‚effects‘ – geplant oder ungeplant, intendiert oder nicht intendiert, bezweckt oder nicht – dadurch erzielt, dass man die Äußerung macht, „(w)e shall call the performance of an act of this kind the performance of a perlocutionary act or perlocution“ (ebd.: 101, Hervorhebung S.O.).

[8] Dieses immanente Ziel der Perlokution bzw. des perlokutionären Aktes beschreibt das, was der Linguist Rudi Keller als das vorrangige Ziel eines jeden kommunikativen Aktes identifiziert hat (Keller 2014: 135). Meine These ist, dass es sich dabei um etwas handelt, was man den grundlegenden Impuls für Beginn und Fortführung eines jedes dialogischen Konstrukts, unter Vorbehalt ggf. sogar eines jeden sozialen Diskurses nennen könnte (dialogische Konstrukte sind immer reziprok, soziale Diskurse nicht zwingend – das ist der grundlegende Unterschied zwischen dem Gespräch und dem ‚Gespräch‘, von im Folgenden bei Clifford Geertz die Rede ist). Und auch für das, was ich an anderer Stelle – die Empfänglichkeit, also die dispositionelle Grundverfassung des Rezipienten und Interpreten vorausgesetzt – die Inspiration zur Assoziation und Inspiration zur Interpretation durch die Artefakte genannt habe (cf. Oehm 2019b: 64): Sie können das intendierte, aber auch das nicht-intendierte perlokutionäre Nachspiel des Kunstschaffens der Künstlerinnen und Künstler sein. Mit anderen Worten: das, zu dem ich mich als Rezipient oder Interpret durch das Artefakt bewegt fühle.

[9] Ich bin mir durchaus der Gefahr bewusst, die in meiner tentativen Verwendung des Geertz’schen Begriffs ‚Gespräch‘, der so kondensiert das „Leitmotiv der Arbeiten von Geertz“ (Wolff 1992: 344) beschreibt, in diesem Kontext steckt. Zu schnell könnte in meinem kleinen Planspiel, das ganz im Sinne des Geertz’schen Konzepts allein der „Eröffnung von Erkenntnismöglichkeiten“ (ebd.: 354) dient, diese Metaphorik für bare Münze genommen werden, könnte das ‚Gespräch‘ als Gespräch verstanden werden (cf. dazu: Stephan Wolff ‚Die Anatomie der Dichten Beschreibung – Clifford Geertz als Autor‘). Aber manchmal fehlen einem im eigentlichen Sinne des Wortes die Worte. Und man greift mit einigem Bauchgrummeln zu eingängigen Hilfskonstruktionen, um z.B., wie in diesem Planspiel, alltagssprachlich verständlich Kunst als semiotisches System und kommunikative Praxis zu beschreiben: Wenn wir versuchen, mit den künstlerisch Schaffenden, gleich welcher Epoche, gleich welcher Kultur, „ins Gespräch (zu) kommen (…) und zwar in jenem weiteren Sinn des Wortes, der mehr als nur Reden meint“ (Geertz 1987: 20), können wir vielleicht so einen bescheidenen Beitrag dazu leisten, einen Begriff von ‚verstehen‘ zu entwickeln, der auf alle Epochen, alle Kulturen, alle Gattungen und singulären künstlerischen Ent-Äußerungen, der physischen, mentalen oder auch transitorischen Artefakte, anwendbar ist. Das hilft uns ggf. auch ein wenig besser zu verstehen, was wie in welcher Epoche, Kultur, Gesellschaft, sozialen Gruppe in welcher Kunstgattung bei welchem Kunstschaffenden bei welchem ihrer/seiner Artefakte zu ‚verstehen‘ ist.

[10] Clifford Geertz spricht ganz bewusst nicht von ‚Ethnologie‘, sondern von ‚Ethnographie‘. In einer seiner wohl am meisten zitierten Passagen fragt er lapidar: „‚Was macht der Ethnograph?‘ Antwort: er schreibt!“ (Geertz 1987: 28). Und entsprechend definiert er: „Ethnographie ist dichte Beschreibung“ (ebd.: 15). Insofern ist der Begriff ‚dichte Beschreibung‘ wörtlich zu nehmen.

[11] Es handelt sich um den ‚Prozess der unsichtbaren Hand‘, den der Linguist Rudi Keller in seinem Werk ‚Sprachwandel – Von der unsichtbaren Hand in der Sprache‘ in aller Ausführlichkeit dargestellt hat: Ein soziokulturelles Phänomen ist in der Regel die kollektive, weder intendierte noch geplante „kausale Konsequenz einer Vielzahl individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Intentionen dienen“ (Keller 2014: 93). Sie sind also von niemandem intendierte kollektive Epiphänomene individueller intentionaler Handlungen: „Einrichtungen, die in der Tat das Ergebnis menschlichen Handelns sind, nicht die Durchführung eines menschlichen Plans“ (ebd.: 58). Ergebnisse, die stets unter Kontingenzvorbehalt stehen. Frei nach Alfred Adler: ‚(A)lles kann auch anders sein‘ (Adler, Der Sinn des Lebens [1933]).

[12] Cf. das handlungstheoretische Grundmodell des britischen Sprachphilosophen Herbert Paul Grice. Dazu Liedtke 2016: 34ff., auch Oehm 2019b: 35ff.

[13] Rudi Keller: ‚Sprachwandel – Von der unsichtbaren Hand in der Sprache‘ (42014).

[14] Damit sind wir wieder bei der intentionalen singulären Gebrauchsweise eines Wortes, Zeichens oder Codes, die strukturell den Beginn der Etablierung einer jeden Regel des Gebrauchs, also der Bedeutung darstellt – das heißt: Wir sind wieder beim handlungstheoretischen Modell von Grice (Oehm 2019a: 6ff, auch: Oehm 2019b: 36ff.).

[15] Sollte es nicht möglich sein, Begriffe wie ‚Kunst‘ oder ‚verstehen‘ verbindlich zu klären, so sollten wir uns spätestens dann an den Hinweis des frühen Wittgenstein erinnern, den er seinen Lesern im Vorwort des ‚Tractatus logico-philosophicus‘ gegeben hat: „Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen“ (Wittgenstein 1980: 7). Wobei damit nicht dem Denken, sondern vielmehr dem „Ausdruck der Gedanken“ (ebd.: 7, Hervorhebung S.O.) eine Grenze gezogen wird – denn eine Grenze des Denkens kann gar nicht gedacht werden: „(U)m dem Denken eine Grenze zu ziehen, müßten wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müßten also denken können, was sich nicht denken läßt)“ (ebd.: 7). Was übrigens der Grund dafür ist, warum wir, auch wenn wir glauben, das tun zu können, den Tod nicht als Grenze und damit auch nicht als Übertritt in ein anderes Reich denken können: „Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht.“ (ebd.: 113, 6.4311). Wir können die Sache immer nur von einer Seite aus betrachten. Die andere kann nicht gedacht werden. Genauer gesagt: Wir können den Sachverhalt nicht als zwei Seiten denken. Weshalb die Rede vom Dies- und Jenseits, logisch betrachtet, Unfug ist.

[16] Austin diskutiert Perlokutionen nur im Rahmen seiner Theorie der Sprechakte, die i.W. eine Theorie der Illokutionen, also konventionaler Sprechakte ist. Perlokutionen sind für ihn nicht-konventionale Sprechakte, die ein Sprecher vollzieht, wenn er etwas „mit dem Plan, in der Absicht, zu dem Zweck“ (Austin 1979: 118) äußert, bestimmte Wirkungen beim Angesprochenen auszulösen. Es spricht aber nichts dagegen, dass statt der Illokutionen auch Sprechakte, die auf singuläre Sprecher-Intentionen rekurrieren, perlokutionäre Akte implizieren.

[17] Ob im Rahmen dieser beim Einzelnen auch teilweise gewohnheitsmäßig ablaufenden alltäglichen sprachlich-kommunikativen Akte Vorsatzabsichten stets vorsätzlich, bewusst und geplant sind? Meine intuitive Vermutung ist, dass dem nicht so ist. Was, sollte es der Fall sein, zur Folge hätte, dass der Begriff ‚Vorsatzabsicht‘ selbst einer eingehenden Prüfung unterzogen werden müsste.  

[18] Zur Funktion der Kunst insbesondere: Reinold Schmücker ‚Funktionen der Kunst‘ (Schmücker 2001: 13ff.), auch: ‚Kunstkritik als demokratischer Prozess‘ (Schmücker 2003: 108), ‚Kann das schönste Mädchen jemals häßlich sein? (Schmücker 2006: 251ff.)

[19] Ob die Interpretation des Gemeinten durch den Angesprochenen mit der vom Sprecher intendierten Interpretation übereinstimmt, kann „nur wechselseitig unterstellt werden“ (Liedtke 2016: 40). In einer dialogisch konzipierten, kooperativen Gesprächssituation kann der Angesprochene unter anderem durch Nachfrage versuchen, seine unterstellte Interpretation zu verifizieren. Diese Möglichkeit zur Verifikation bleibt dem Rezipienten bei der Interpretation vergangener Äußerungen jedoch vielfach verwehrt. So, wenn Sprecher/Autor verstorben sind.

[20] Auf dieses Modell rekurriert der Anthropologe und Verhaltensforscher Michael Tomasello in seinem Buch ‚Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation‘. Darin führt er aus, dass das dem Grice‘schen Konzept inhärente Prinzip der geteilten Intentionalität Kennzeichen allein menschlicher Interaktion und Mater seines kooperativen Handelns ist: „Die unabdingbare Voraussetzung gemeinschaftlicher Handlungen ist ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame Festlegung der Beteiligten darauf, dieses Ziel zu verfolgen, wobei alle wechselseitig verstehen, dass sie dieses gemeinsame Ziel und die Festlegung teilen“ (Tomasello 2017: 195). Die perlocutionary force würde sich, wenn unsere Planspiel Gewissheit wäre, damit sogar als ein konstitutives Momentum jeglicher kooperativer Zusammenarbeit und sozialer Interaktion erweisen. Sie beginnt strukturell beim Einzelnen, der bei einem anderen etwas durch etwas bewirken will (jede Erklärung soziokultureller Phänomene hat strukturell beim Einzelnen zu beginnen. Sonst erklärt eine Erklärung nicht, sondern beschreibt und behauptet nur). Im Falle von Grice und Tomasello: ein Verständnis des Gemeinten, das noch nicht sozial festgelegt ist und bei dem noch kein gemeinsamer Kontext konstituiert wurde. Dies geschieht erst in einem Prozess kooperativen Handelns, an dem „Prozesse geteilter Intentionalität“ (ebd.: 83) beteiligt sind. Bei ihnen besteht, wie Tomasello mit Rekurs auf John R. Searle sagt, die stillschweigende Auffassung, dass der andere ein „Kandidat für kooperatives Handeln“ (ebd.: 84) und damit für jede Unterhaltung resp. jeden sozialen Diskurs ist.

[21] Günther Kebeck/Henning Schroll ‚Experimentelle Ästhetik‘: „Noch wesentlicher für die Ästhetikforschung als die erlebte Diskrepanz (zwischen ästhetischen Erleben und dessen retrospektivem Bericht, S.O.) ist die Beobachtung der Neurowissenschaften, dass die zugrunde liegenden Prozesse so schnell und automatisiert ablaufen, dass sie einer Introspektion nicht zugänglich sind. Werden Probanden befragt, können sie nur spekulieren. Die verbalen Aussagen können sich nur auf das Ergebnis, nicht auf den Prozess beziehen“ (Kebeck/Schroll 2011: 184). Und eine aktuelle Studie einer Gruppe von Psychologinnen und Psychologen der Universität Basel um Jens Gaab relativiert den Einfluss beschreibender und erklärenden Informationen auf physische Konsequenzen ästhetischen Empfindens: „Hingegen wirkten sich Eigenschaften der Kunstwerke selbst auf das ästhetische Erleben aus. So waren die körperlichen Reaktionen (…) stärker als vor Beginn der Kunstbetrachtung und unterschieden sich auch signifikant je nach Gemälde“ (Gaab et al. 2020: Pressenotiz) – die Betrachtung der Bilder ließ die Herzen der Probanden im wahrsten Sinne des Wortes schneller schlagen.  

[22] „Die Wahl dieses Namens hat Vor- und Nachteile. Von Nachteil ist, daß die Metapher der unsichtbaren Hand (…) eher in die Irre führt, indem sie suggeriert, es handle sich um etwas Geheimnisvolles, Undurchschaubares. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Eine Invisible-hand-Theorie will Strukturen erklären und Prozesse sichtbar machen. Und zwar solche Strukturen, die Menschen, ohne daß sie dies beabsichtigen oder auch nur merken, (…) erzeugen. (…) Der Nachteil dieser Metapher (…) wird durch den Vorteil aufgehoben, daß sie im Bereich der politischen Philosophie sowie der Theorie der Volkswirtschaft allgemein bekannt und eingeführt ist“ (Keller 2014: 96).

[23] Für den Philosophen Hans-Georg Gadamer ist das Spiel eine der Wesensbestimmungen der Kunst: als ein freies Spiel, das Mitspielen verlangt, „die participatio, die innere Teilnahme“ (Gadamer 2012: 39). Dabei ist „der Zuschauer (…) offenkundig mehr als nur ein bloßer Beobachter, der sieht, was vor sich geht, sondern ist als einer, der am Spiel ‚teilnimmt‘, ein Teil von ihm“ (ebd.: 39). Und weiter in einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übriglässt: „Der Mitspieler gehört zum Spiel“ (ebd.: 42).

[24] Der Schriftsteller Christoph Ransmayr spricht in seiner Rede ‚Eine Zierde für den Verein‘ in diesem Zusammenhang von einem „Prozeß der Verwandlung“ (Ransmayr 2019: 34).

[25] Eine wesentliche Differenz zwischen dem, was die Ästhetik als das ‚Kunstschöne‘ und dem, was sie als das ‚Naturschöne‘ benennt, ist das Fehlen eben dieser grundlegenden Struktur beim ‚Naturschönen‘. Bei ihm gibt es kein A, der bei B durch x etwas bewegen will. Keine perlokutionäre Kraft, keine intentionale Handlung, kein Anstoß zum Dialog oder, ganz allgemein, zum sozialen Diskurs. Es gibt nur B, dessen dispositionelle Grundverfassung, die eine spezifische Empfänglichkeit für bestimmte ‚Äußerungen‘ erst möglich macht, sowie Phänomene im naturwissenschaftlichen Sinne von Ursache und Wirkung.

[26] Hier schließt sich natürlich die Frage an, wie der allgemeine Sprachgebrauch, bei dem es sich ja auch nicht um ein Handlungssubjekt handelt, dies wohl bewerkstelligen kann. Die Antwort liefert, so meine These, der in der Volkswirtschaft und der politischen Philosophie sowie, seit den Arbeiten Rudi Kellers zum Sprachwandel, auch in der Linguistik bestens eingeführte Topos des Prozesses der unsichtbaren Hand: Als Kunst gilt einer Sprachgemeinschaft das, was als nicht-intendiertes Resultat eines kollektiven Prozesses gleichgerichteter individueller Zuschreibungen als Kunst gesehen wird.

[27] Schmücker ist in seiner Begriffsverwendung an dieser Stelle nicht konsequent. In seiner Funktionsdefinition sagt er, „ein Kunstwerk hat die Funktion f, wenn es f erfüllt oder ein weitreichender intersubjektiver Konsens darüber besteht, dass es f erfüllt hat“ (Schmücker 2001: 22, Hervorhebung S.O.). Hier hingegen spricht er von den ‚Funktionen der Kunst‘. Sind es nun Funktionen der einzelnen Kunstwerke oder aber solche ‚der Kunst‘? Haben Kunstwerke diese Funktion vielleicht nicht als Kunstwerk, sondern nur qua einer nicht näher erläuterten Zugehörigkeit zu dieser ominösen Klasse ‚Kunst‘? Was, sollte es so sein, ein essentialistisches Gschmäckle hätte.

[28] Hier unterscheidet Schmücker zwischen dem, wann etwas als Kunstwerk gilt, und dem, wann etwas ein Kunstwerk ist: Was als Kunstwerk gilt, entscheidet die Sprachgemeinschaft. Was ein Kunstwerk ist, entscheidet demgegenüber die generelle, kunstkonstitutive Funktion, denn es ist „der Besitz der kunstästhetischen Funktion, der ein Artefakt zu einem Kunstwerk macht“ (ebd.: 24, Hervorhebung S.O.). Allerdings ist es, so Schmücker, keineswegs so, „dass bestimmte Artefakte aufgrund irgendwelcher Eigenschaften gleichsam von Natur aus Kunstwerke wären“ (Schmücker 2001: 25). Vielmehr entscheidet am Ende in einem intersubjektiven evaluativen Konsens doch wieder die Sprachgemeinschaft darüber, ob ein Artefakt „diese Funktion erfüllen kann“ (ebd.: 25), ergo dass von bestimmten Artefakten gesagt werden kann, „dass sie (…) Kunstwerke sind“ (ebd.: 25). Wobei dies aber wiederum, wie er einschränkend zugesteht, „kein präzises Kriterium (ist), anhand dessen sich im Streitfall entscheiden ließe, ob ein Artefakt ein Kunstwerk ist oder nicht“ (ebd.: 25). Zumal „die Klasse der Kunstwerke stets einen Zeitindex trägt“ (ebd.: 25): Kunstwerke sind Kunstwerke „in unserer Kultur und zu unserer Zeit“ (ebd.: 25).