Gezeitengespräch 5

Vorbemerkung der Redaktion: In diesem Jahr machen wir das vergriffene Gezeitengespräch von Haimo Hieronymus und Karl Hosse auf KUNO recherchierbar.

 

Zeitnah (im Hier angekommen): Das mit dem Graubrot kannte ich auch. Aber nicht zum nahen Bäcker, der machte nicht so gutes Graubrot. Auch nicht doppelt gebacken, das kostete dreißig Pfennig mehr. Ein Laib ging bei uns schnell weg – bei vier Kindern. Strafe war für mich die Hausmacherleberwurst, die Blutwurst von den Schweinen, die ich in der Woche zuvor noch im Stall gestreichelt hatte. Leberwurst, die feine, mochte ich und Fleischwurst, die aus den Ringen geschnitten wurde. So schneide ich heute noch Scheibe für Scheibe der Kindheitserinnerungen und lege sie genüsslich in den Mund. Ist denn die Brotkruste nicht immer diese Sehnsucht. Wir naschen am Alltäglichen und lieben es. Weil die heimliche Versuchung immer reizvoll ist, auch die Gefahr des Entdecktwerdens. Wie eine Kanonenkugel aus einem alten Mörser schießt sich diese Gewissheit Löcher ins Gewissen. Gewiss.

Zeitfern: Gestern flatterte ein Kleiner Fuchs durch mein Atelier. Februar. Setzte sich frech auf mein Bild. Die Farben nahmen ihn auf. Mimikry. Ich habe ihn aus dem Auge verloren. Eine dicke Fliege, dunkel, rast über mir. Februar. Setzt sich auf mein Rotweinglas. Trinkt, Läuft. Ist still verharrend. Die Augen haben sich geleert von dem vergangenen Sommer. Und nun: Der Winter, der fast Sommer war.

Zeitnah (hier nun wieder): Kam aus dem Haus heute, holte der Jahresrhythmus mich ein, wieder diese sehnsüchtigen Schreie. Ja, Februar. Die Kraniche kommen zurück und mein Herz tut einen mittelseichten Hüpfer. Das Schlimmste scheint mal wieder überstanden und Nick Cave schiebt den Himmel weg.

Zeitfern: Du hast geschrieben. Ich grübele. Die Stille ruft meine Steine. Mein Blick hackt im Atelier herum. Ein Karton ist vorbereitet. Liegt festgeklebt, wartet. Die Nacht dröhnt mal wieder. Will was von mir. Ich bin da. Die schwarze Fliege brummt zum Weinglas. Woher weiß sie die Koordinaten?

Zeitnah (ja, jetzt): Das Parallele jenseits der Langeweile. Mal Malkarton, mal Leinwand. Die Wörter finden samengleich den Boden und beginnen zu keimen. Als Bilder.

Zeitfern: Hast du das auch? Plötzlich hat man das Gefühl, es geschieht etwas. Man wartet darauf. Doch nichts. Welche Gedankenverknüpfungen im Kopf lösen das aus? Keine Erklärung. Es geschieht nichts. Auch eine Langeweile nicht. Die trägt man mit rum. Manche Gegenstände fliegen oder fallen. Ich erinnere mich, als meine Mutter starb. Ich fuhr mit dem Zug zu ihr. Sie lag daheim. Ich schlief die letzte Nacht ihres Lebens neben ihr. Haut an Haut. Hatte einen seltsamen Traum, aus dem Schlaf gerissen, weil sie sprach, dann schlief ich wieder ein.  Ich ging über eine Brücke aus Stein. Bei jedem Schritt öffneten sich Löcher. Ich tänzelte. Hin und her. Große Grasbüschel fielen herunter, wurden aufgefangen von Netzen. Diese hingen unter der Brücke. Auf verschiedenen Höhen. Und wieder wach, die Füße meiner Mutter strampelten, so als ob sie weglaufen wollte. Ich hielt sie an der Hand. Dann schlief ich wieder ein. Die Grasbüschel in den Netzen hingen noch da. Bewegten sich hin und her. Am Morgen war sie tot. Alles flog, alles hing rum. Gras und Haut. Ist 40 Jahre her. Heute weiß ich, Gras und Haut sind auch andere Lieben.

 

 

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Gezeitengespräch von Haimo Hieronymus und Karl Hosse in der Edition Das Labor, Neheim 2014

Weiterführend

Eine Einführung zum Projekt Gezeitengespräch findet sich hier. Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier. Künstlerbücher verstehen diese Artisten als Physiognomik, der Büchersammler wird somit zum Physiognomiker der Dingwelt. Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421