Kramen I-IV

Essayistische Alltagsbetrachtungen

Kramen I

Beim Kramen in Schubladen kann man so einiges wiederfinden. Meist sind es lang vermisste oder gerade eben nicht vermisste Gegenstände, die dann plötzlich auftauchen und Gedanken einimpfen, die ebenso vergessen schienen und unversehens virulent werden. Vielleicht dieser unglaublich peinliche Liebesbrief, den nun wirklich niemand sehen sollte, der aber so wundervoll geschrieben ist, dass man ihn nicht missen möchte, also wird er wieder einmal in dieser Schublade mit dem Namen „Wenn nicht da, wo sonst?“ (bei anderen Leuten heißt sie vielleicht auch die Kramlade oder wie auch immer, aber ein Haushalt ohne eine solche Schublade ist ein wirklich armer Haushalt, der ist unpersönlich und das sagt sehr viel über die Bewohner eines Hauses. Seien wir mal ganz ehrlich, es ist wirklich schön, irgendwann die eigenen Geheimnisse, die man vor sich selbst versteckt hat, wieder zu entdecken.) unter irgendeiner Schachtel verschwinden. Was hatte er damals Herzklopfen verursacht, wieviele Schlaflose Nächte und die Frage, wie sollte man dem Partner sagen, dass da etwas ist, für dass man selber gar nichts dafür kann. Aber so etwas hat Herr Nipp natürlich niemals bekommen, wäre ja auch noch schöner, wenn sich jemals irgendwer in ihn verliebt hätte. Was er gefunden hat aber, will er sammeln und sortieren.

Kramen II

In dieser besagten Schublade hat er auch ein altes Messer gefunden. Eines dieser Taschenmesser, deren Griff aus zwei roten Platten bestehen und die weitere Funktionen als eine Schneide haben. Sie sind sozusagen die Vorläufer von Smartphones. Die Grundeigenschaft wird überfrachtet mit allen möglichen Werkzeugen, angefangen hatte es wahrscheinlich einmal mit einem Korkenzieher, dann kamen Nagelfeilen und Schraubendreher dazu, ein weiteres, kleines Messer auch. Man sagt, dass einige dieser Schweizer Messer bis zu dreißig oder sogar noch mehr Funktionen haben. Eben ähnlich den Smartphones. Die ersten Handys waren zum Telefonieren gedacht. Ein dicker Balken oder Backstein mit langer Antenne, mit dem man eines konnte, von überall anrufen, wenn es denn ein Netz gab. Dann kamen mehr und mehr Funktionen dazu, Schreiben, Apps für jeden Sch.., Taschenlampe, Kamera natürlich, nur bügeln können die Geräte noch nicht. Herr Nipp jedenfalls hat eines dieser Messer gefunden, die außer einer kleinen und großen Klinge nur einen Korkenzieher besitzen. Klein, praktisch und robust. Als er die große Klinge ausklappte, muss er feststellen, dass die Spitze fehlt und plötzlich überläuft es ihn heiß und kalt gleichzeitig. Als wäre er der kleine Junge von damals. Er hatte sich verbotenerweise dieses Klappmesser von seinem Onkel ausgeliehen, hatte glücklich damit geschnitzt. Ein kompletter Haselnussstab war damals verziert worden. Sah super aus. Und dann kam er auf die Idee, an verschiedenen Stellen kunstvolle Durchbrüche zu machen. Sein Onkel hatte noch am Tag vorher gesagt, dass man niemals mit einem Taschenmesser hebeln dürfte, weil die Gefahr besteht, dass die Klinge abbricht. Heute weiß Herr Nipp, dass er Recht hatte, damals glaubte er das einfach nicht. Es gab ein helles sirrendes Geräusch damals, die Spitze flog knapp an seinem rechten Auge vorbei. Da war das Messer kaputt. Leider. Und es war ein Gang nach Canossa gewesen, als er seinem Onkel die Tat beichten musste. Der war offen sichtbar sauer gewesen, sah dann das ehrliche Bedauern. Er hat ihm damals dann dieses Messer verschenkt und ein Bonbon obendrauf. Es ist gut, nicht alle kaputten Sachen wegzuwerfen, die Erinnerung an eigene Verfehlungen hilft doch sehr, ebenfalls nachsichtig zu handeln.

Kramen III

Er hat auch Pflaster entdeckt, die nicht mehr ganz so vertrauenswürdig scheinen, sie werden entsorgt. Das Nähset allerdings wird er behalten, das hat ihm in Notfällen schon häufig geholfen, wenn ein Kopf absprang etwa.
Nicht etwa, weil die Fäden so fadenscheinig geworden waren, sondern weil er zugenommen hatte. Glücklicherweise ist da auch Sockengarn bei, das ist ein Muss. Vor allen für Herrn Nipp, denn irgendwie beherrscht er die Kunst des Lochs zur Perfektion. Vielleicht ist es auch einfach nicht ganz so gut, feine Söckchen in den groben Arbeitsschuhen zu tragen oder in Wanderschuhen bei den sonntäglichen dreistündigen Spaziergängen. Vor allem aber ist Garn ihm vor Jahren immer wichtig für das Nähen von Hosen gewesen, denn auch da beherrscht er die Kunst des Lochs. Eine neue Hose mit einem Akkuschrauber verderben? Kein Problem. In der Stadt an irgendeinem herausstehenden Häkchen hängen bleiben und sich eine Klinke reißen? Jede Wette, wenn es so ein Häkchen gibt, wird er es intuitiv finden. Er wird auch automatisch den Stuhl auswählen, der jede Hose vernichtet, weil die oberste Furnierschicht ein Stückchen weit abgelöst ist. „Aber machen wir uns nichts vor“, denkt er dann, „wahrscheinlich geht es vielen anderen Menschen genau so wie mir. Glücklicherweise habe ich ein Nähset.“

Kramen IV

Da liegt ja auch eine dieser kleinen Fernbedienungen in der Schublade. Hm, zu welchem Gerät könnte die denn gehören. Herr Nipp muss überlegen. Wenn er ehrlich ist, kommt sie ihm so gar nicht bekannt vor. Die Form und dreifache Stärke einer Checkkarte, die Tasten bilden eine Hügellandschaft. Und dann wird ihm urplötzlich klar, woher dieses Gerät stammen könnte. Das muss die lange vermisste Fernbedienung für das Garagentor sein, das man seit Jahren nur noch von innen öffnen kann. Ja, denkt er, die muss ich gut weglegen, damit auch in Zukunft niemand an das Garagentor kommt, wer weiß, was sich in der Garage befindet.

 

 

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Weiterführend → 

Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421