Lyrische Novelle 15

 

Der Widerhall der Schüsse dringt aus den Wäldern bis in das Städtchen und erfüllt die Luft mit Unruhe. Ich bin am frühen Morgen im Schlossgarten gewesen, die alten Mauern des Schlosses tropften vor Feuchtigkeit. Das Schloss ist schön, obwohl sich sein Stil kaum mehr bestimmen lässt. Zu allen Zeiten haben Fürsten hier gewohnt und nach ihren Bedürfnissen gebaut, abgerissen und erweitert. Einige Fenster in den oberen Stockwerken der runden Türme sind nicht viel mehr als Schiessscharten, aber die Fenster des langen Haupthauses sind hoch, zahlreich und mit reinen Spätbarockornamenten geschmückt. Der Portier wohnt in einem Zimmer mit einfacher Stuckdecke und einem Boden aus weissgescheuertem Tannenholz. Der Schlosshof ist gepflastert und so gross, dass ein Wagen bequem darin kehren kann. Vorn, gegen den Park und gegen das Wasser hin, sind die beiden Seitenflügel des Schlosses durch einen geraden Säulengang verbunden. Die Säulen sind blassrosa, gelb oder weiss in der wechselnden Beleuchtung, und immer hat man Lust, sich gegen eine von ihnen zu stützen und in den Park hinunter zu sehen. Jetzt ist der Anblick eher traurig. Die Bäume sind ohne Blätter, und das Laub liegt gelb und rostbraun auf der Wasserfläche. Heute waren die Äste von schwerem, gesättigtem Tau bedeckt und sahen beinahe aus wie bereift. Ich möchte den ganzen Tag draussen bleiben. Mein Hals ist wie ausgetrocknet, obwohl ich sehr viel trinke. Ich habe eine schlechte Nacht hinter mir.

Jetzt gehe ich. Ich will nicht, wie gewöhnlich, durch die Wälder gehen, sondern nehme einen Weg, der links an der Kirche vorbeiführt, die Stadt unauffällig verlässt und in die sandigen, flachen, unübersichtlichen Hügel hineinläuft. Ich gehe zuerst ziemlich rasch. Ich freue mich, dass ich mich von den Wäldern entferne. Von den gedämpften Moosböden, den Kaninchengruben, den rieselnden Fichtennadeln. Von den warmen Tiernestern.

Hier ist nur kahle Fläche, ein grosses gewelltes Meer. Der Boden hat in den letzten Wochen viel Feuchtigkeit aufgesaugt. Rechts sind die Hügel angeschnitten, in den Sandgruben wird gearbeitet, eine Baggermaschine macht grossen Lärm, die dünne, reine Luft erzittert davon, und ein Kran ragt schwarz empor. Ich gehe an den Rand der Grube und sehe den Arbeitern zu. Es sind ernste, gefasste, achtunggebietende Männer. Sie arbeiten unentwegt seit dem frühen Morgen und essen ihr Mittagsbrot unter freiem Himmel auf ihrer Arbeitsstätte und abends gehen sie unbeirrt den langen Weg bis in das Städtchen zurück.

Ich gehe weiter, und nachdem ich über eine Stunde gegangen bin, gelange ich in ein Dorf. Die Strasse ist in der Mitte gepflastert, auf beiden Seiten stehen niedrige, graue Häuser mit Dächern, die nicht über die Mauern hinausgebaut sind. Man könnte darunter nicht einmal Schutz vor dem Regen finden. Ich gehe bis zum Dorfkrug und setze mich in die Wirtsstube. Sie ist gross und niedrig und halbdunkel. Die Wände sind geschwärzt. Die Tische und Bänke sind schwer und roh, und das Holz ist hell und farblos vor Alter. Über dem Schanktisch hängt ein Bild Bismarcks, von einem Eichenkranz umrahmt.

Der Wirt besitzt kein Schreibpapier, ich gehe deshalb zuerst in den Ort und finde einen Laden, wo ich auch Tinte und eine Feder kaufen kann. Dann gehe ich in den Krug zurück, bestelle Rotwein und lege die Blätter neben mich. Ich kann jetzt noch nicht schreiben, der Weg hat mich müde gemacht.

Und dann schreibe ich doch. Lieber Gott, es ist schon eine Gewohnheit von mir geworden, und ich werde ein ganzes Buch schreiben, eigentlich aus Versehen . . . Das Buch werde ich Sibylle schicken, sie wird es lesen und mir sagen, ob sie es gut oder schlecht findet. Wenn sie es gut findet, will ich es drucken lassen. Nein, ich bin nicht ehrgeizig dafür. Die Leute sagten ja immer, dass ich, Sibylles wegen, alle guten Eigenschaften verleugne.

Und sie setzten doch früher einige Hoffnungen in mich. Aber alle stimmten eigentlich mit Magnus überein, und ich selbst gab es zu, und wurde sehr traurig davon. Sie sagten dann, es sei gut, dass ich es einsehe, und was ich mir von Sibylle verspreche. Natürlich versprach ich mir nichts von ihr, und wenn sie mir vorhielten, dass man mit einer Frau wie Sibylle niemals leben könne, wusste ich selbst die besten Gründe dafür. Sie dachten sich alle, dass Sibylle die ideale Geliebte sei, nur ich wusste, dass sie dafür überhaupt nicht zu haben ist, auch nicht, wenn ich Geld hätte, auch nicht, wenn ich zehn Jahre älter und mein eigener Herr wäre. Sie dachten alle, dass Sibylle mich betrüge und mich nur aus Berechnung nicht wegschicke. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass eine Frau wie Sibylle ohne einen Geliebten lebe. Aber mir kam Sibylle manchmal so merkwürdig beschäftigt vor, und ich fühlte mich dann weit von ihrem Vertrauen entfernt. Ich wusste, dass sie mich belog oder dass sie mir doch etwas Wichtiges, vielleicht das Wichtigste ihres Lebens verschwieg. Einmal sagte ich es ihr. Es war spät in der Nacht, und wir tranken in einem Keller in der Kantstrasse. Sie war unfreundlich zu mir, und ich war bedrückt und deshalb fragte ich sie. Sie antwortete sofort, dass sie mir keine Minute ihres Schlafes opfern würde, wenn sie mich nicht gern hätte. In diesem Augenblick sah ich ein, dass ich ihr meinen Schlaf opferte und noch mehr, und dass ich sie dafür liebte, wie man einen anderen Menschen dafür hassen würde. Oder vielleicht hasste ich sie auch zuweilen. Aber ich hätte ebenso gut mich selbst hassen können.

Man erzählte mir viel von Sibylle, etwa dass sie mit einem Chauffeur gelebt habe und später mit einem Kunsthändler. Der Chauffeur sei im Gefängnis und der Kunsthändler habe sich erschossen.

Das war natürlich Unsinn, Entstellung und Gerücht. – Aber es ist schon richtig, es könnte genau so gewesen sein. Im Grunde kann man für Sibylle nur sterben. Für sie zu leben, sagten meine Freunde, sei entwürdigend.

Aber sie verstanden nichts von ihr. Sie nahmen alles sehr einfach, es wäre ja auch sonst zu schwer, das Dasein zu ertragen: denn alles, was geschieht, ist so entsetzlich verkettet, und alles, was man tut, hat tausend Folgen und die Verantwortung ist ungeheuer und kein Urteil ist richtig und gerecht. Und doch müssen wir leben . . .

 

 

***

Lyrische Novelle, von Annemarie Schwarzenbach, Erstdruck: Berlin, Rowohlt 1933

Annemarie Schwarzenbach: Selbstporträt mit ihrer zweiäugigen Rolleiflex Standard 621-Kamera (entstanden in den 1930er Jahren)

Die im Frühling 1933 erstmals erschienene Lyrische Novelle stand im Schatten von Hitlers kurz zuvor erfolgter Machtergreifung. Die Aufnahme und Verbreitung des Buches wurde dadurch stark erschwert. Aber schon damals rühmte die Kritik die Musikalität und moderne Sachlichkeit der Sprache. Noch stärker als in jener Zeit zieht der Text heute eine besondere Aufmerksamkeit auf sich: als eine frühe literarische Darstellung von lesbischer Liebe. Das Buch erzählt zwar von der unglücklichen Liebe eines Mannes zu einer Frau. Doch die Autorin bekannte nach der Veröffentlichung: Zum besseren Verständnis der Geschichte „hätte man eingestehen müssen“, dass der Held „kein Jüngling, sondern ein Mädchen“ sei.

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In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück.