Singa, die Mutter des toten Melechs des Dritten

Erik-Ernst Schwabach und seinem Gemahl

Singa, die Mutter des toten Melechs, saß in ihrem Gemach wie eine Mumie verhüllt, und das Volk trauerte mit ihr drei Jahre lang. Bis sie die trüben Schleier von ihrem Angesicht riß, dem heißen Psalm der Liebe zu lauschen, der die Erde aller Straßen aufwühlte, das Rauschen des Flusses dämpfte, sich in die Herzen der Menschen schlich und ihre Heimlichkeiten offenbarte. Dann kamen die erregten Zebaothknaben zu der Melechmutter in den Palast, ihre Gesichter trugen die Züge ihres Sohnes und in ganz Theben war keine Prinzessin, deren Mund sich nicht in die feinen Lippen des Melechs verwandelt hatte. Und Singa selbst entdeckte mit Verwunderung, daß ihre Hände dem Spielzeug ähnelten, mit dem der noch kleine Abigail auf ihrem Schoß zu spielen pflegte. Und die Sklavinnen lächelten um Abigails Mutter, wie ihr holder Liebling so eigen. Gesteinigt wurde derjenige, welcher fallen ließ einen störenden Laut von seinen Lippen, denn die Melechmutter sandte ihre schwarzen Diener, die des Hörens kundig waren, die Quelle des Zauberpsalms zu suchen, sie brachten keinen Bescheid; und eine Händlerin, die den Mägden in den unteren Palasträumen Tücher und Glasperlen verkaufte und zur Mutter Singa verlangte, wurde nicht vorgelassen. Aber sie versteckte sich hinter einem Muskatbusch und rief in der Dunkelheit: »Melechmutter, Melechmutter, ich habe einen Sohn, der ist Viehknecht und er hat ein Ohr, das geht ihm bis zur Lende!« An jeder Wand jedes Hauses legte er es an, bis es abgenutzt und nicht größer war, wie das der Dienerschaft im Palast. Und er wußte, von wo der sehnsüchtige Gesang kam. Da ließ die Mutter des liebenden Abigail des Dritten alle die Edeltöchter der Stadt zu sich in den Palast kommen, wählte die anmutigste, sie mit dem königlichen Tempel zu vermählen. Die Braut aber erhängte sich vor der schauerlichen Hochzeit. Auch die übrigen Töchter der Stadt weigerten sich, in den Tempel zu gehen und Singa bot ihr Geschmeide jeder Tänzerin und jedem Freudenmädchen hin für den Liebesgang, bedrängte die Hütten der armseligsten Hirtinnen und küßte die Mägde. Auf dem Acker die Ähren und die Stöcke der Weinberge begannen zu brennen und die Herzen der Menschen in Theben waren zu Asche verfallen und die Flügelgestalten an den Brunnen der Gärten flogen auf. Und Singa, die Mutter des Melechs, ließ ihre Wangen jung malen, ihre Lippen schminken wie zur Liebesnacht, und sie trug goldene Ringe an den Zehen und Düfte im Haar und all Volk stand um den Tempel, bis sie ihn zerzaust verließ; ihre Glieder waren zerfressen, die Fetzen ihrer jungen Kleider hingen ihr um den Leib und ihre zerdrückten Augen tränten. Seitdem schlichen alle Bürger der Stadt über die Pfade wie auf dem Weg zum Friedhof und ihre Wohnungen wurden leise wie Gotteshäuser. So endet die Geschichte des dritten Abigail, dessen Liebe so viele Opfer forderte.

 

 

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Der Prinz von Theben, ein Geschichtenbuch von Else Lasker-Schüler. Paul Cassirer, Berlin 1920

Ab 1910 wendet sich Else Lasker-Schüler allmählich von der weiblichen Erzählposition ab und lässt Jussuf – der in etwa als biblischer Joseph genommen werden kann – zu Wort kommen.Im vorliegenden ziemlich archaischen Geschichtenbuch tritt Jussuf, der titelgebende Prinz von Theben, allerdings nur in der Geschichte Abigail der Dritte auf und stirbt am Ende dieser überschaubaren Episode. Folgerichtig ist in den nachstehenden letzten drei Geschichten des Buches höchstens von dem toten Prinzen die Rede.

Die erste Geschichte – Der Scheik – und die letzte – Der Kreuzfahrer – sprechen unter anderen jeweils die Sühne zwischen den Religionen an und machen somit das restliche, zumeist schaurig-schreckliche Geschehen ein klein wenig erträglicher.

„Die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte“, sagte Gottfried Benn über Else Lasker-Schüler. Sie bewegte sich wie eine Märchenfigur durch Berlin und fiel mit ihrer exzentrischen Erscheinung auf.
Else Lasker-Schüler, geboren am 11. Februar 1869 in Elberfeld.

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Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den wichtigsten identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.