Lyrische Novelle 11

 

Heute bin ich ungeduldig und beeile mich auf dem Heimweg, als könnte mich jemand erwarten. Und das ist doch nicht möglich, niemand kennt meinen Aufenthalt, nicht einmal ein Brief kann mich erreichen. Ich werde mich zwingen, langsam zu gehen. Ich habe so viel blinde Hast in mich aufgenommen. Wochenlang drang die Stadt von allen Seiten auf mich ein, der Himmel war verdeckt, die Stille zerrissen. Hier ist der Himmel unermesslich, und wenn ich mich irgendwo auf einen Erdhügel setze oder mich mit dem Rücken an einen Baumstamm lehne, vernehme ich nichts als das Rauschen des Windes.

Ich kann mir nicht denken, dass es in dieser schwermütigen Gegend Frühling gibt oder die strotzenden Farben des Sommers. Manchmal, in meinem Bett ausgestreckt, versuche ich mich zu solchen Vorstellungen zu zwingen, und aus der Dunkelheit wächst langsam der Anblick eines wogenden Feldes, gelbe Ähren reihen sich aneinander, gelbe Halme in unendlicher Zahl schliessen sich zu auf und nieder schwellender Masse zusammen, ein bewegter Teppich über der braunen Erde, in der Ferne wird von wuchtig schreitenden Schnittern eine Gasse geöffnet, bis zu den Knien gehen sie zwischen knisterndem Gelb, und rauschend sinken die Garben links und rechts von ihnen zu Boden. Hinter den Männern folgen die Frauen, lachend und von Schweiss und Sonne glänzend, kräftigen Geruch ausströmend. Ihre nackten Arme greifen die niedersinkenden Garben und legen sie in wohlgeordnete Bündel zusammen. Unter den gerafften Röcken sieht man ihre kräftigen Knie.

Ja, so war es im Sommer – – –

Der Himmel ist von hellen Strahlen durchschossen und blendet die Augen. Man kann so viel Helligkeit nicht aushalten, man senkt die Augen oder man wirft sich in das Gras: Es leuchtet vor Frische und legt sich sanft und feucht an die glühende Haut.

Oder es war Frühling. Und der Himmel hob sich zu immer grösserer Durchsichtigkeit, zu einer entrückten, zartfarbigen Leichtigkeit, Winde erhoben sich lau, Wolken durcheilten die hohen Räume, die kaum belaubten Bäume neigten ihre Wipfel, richteten sie wieder auf und liessen sich von der sanften Erschütterung hinreissen, die Gräser, unter Schneemassen ermattet und gebleicht, lockerten sich, strebten aufwärts und erglänzten. Stand man am Rand der Felder, so war man von diesem neuen Glanz ergriffen, ringsum badete das Land in junger Feuchtigkeit, Pastellfarben von lichtestem Grün bis zum Weiss der Wolken, unberührtes Blau, Braun von der matten Helle der Tierpelze, unirdisches Grau, Silber der Baumrinden, rötliche Erdrisse, Haselnussgezweig, Reste verblichener Blätter, erstes Auftauchen gelber Primeln in bräunlichen Sumpfgründen, schwarze Erde der Gartenbeete, von grauen Schleiern verhüllt, und dann die tief aufgerissenen, dampfenden Ackerschollen.

Da ging man und neigte das Gesicht den verschwenderischen Berührungen entgegen, sog die leicht durchwärmte Luft ein, fühlte im Schreiten aufbrechenden Jubel, hob die Hände an die Brust, und sah in der Ferne die in Silber gehüllte Linie des Horizonts, ahnte Hügel, Strassen, kaum aufgetaut, brausende Wasser, Brücken über Schluchten und steile Berggipfel, die sich in die blau durchwogten Gewölbe hoben.

Ich öffne die Augen. Das Zimmer ist schlecht erhellt, aber es ist jetzt warm geworden, der weisse Ofen knistert, als ob man darin Tannenzweige verbrenne. Wenn ich morgen in den Wald gehe, will ich ein paar Zweige zurückbringen und sie in die Flammen halten, das gibt einen weihnachtlichen Geruch. Ich werde dann Heimweh haben.

Ich richte mich in meinem Bett auf. Vielleicht geht es mir besser. Aber das Zimmer dreht sich vor meinen Augen, ich falle wieder auf mein Kissen zurück. Ich müsste eigentlich entmutigt sein, ich bin vielleicht zu schwach, um überhaupt etwas zu empfinden. Das Zimmer ist so hässlich. Ach, wenn doch Willy hier wäre! Ich möchte wissen, wer vorher in diesen schlechten Betten geschlafen hat.

Es gibt hier zwei Betten, und ich bin doch ganz allein.

Ich halte den Schreibblock auf den Knien, und die Buchstaben tanzen.

Bald werde ich zu müde sein, um weiter zu schreiben, und ich bin noch nicht bis zu meinem Thema gelangt. Denn ich habe doch ein Thema. Ich will die Geschichte einer Liebe niederschreiben, aber ich lasse mich immer wieder ablenken und spreche nur von mir. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich krank bin. Ich kann mich zu nichts überwinden. Ich bin auch noch in den Stoff meiner Arbeit verstrickt, ich hatte mich in abwegige Gegenden verirrt, jetzt möchte ich in das Leben zurückkehren. Ich möchte mich wieder an den Ablauf der Tage gewöhnen, an Essen und Trinken und gesunden Schlaf.

Ich bin deshalb weggegangen, aber ich hätte in diesem Augenblick nicht krank werden dürfen. Jetzt werde ich mehr denn je in die seltsamsten Verstrickungen zurückgeworfen. Und ich schreibe wieder. Damit habe ich in all diesen Wochen eigentlich nicht aufgehört, ich habe über mich selbst gebeugt gelebt, das ist mir nicht gut bekommen. Von Sibylle weiss ich eigentlich nichts, ich habe es versäumt, über sie nachzudenken. Oder über Willy . . .

Aber kann man über Sibylle nachdenken?

Denke ich über die Waffe nach, die mich verwundet hat?

(«Eine Waffe warst du, Sibylle, aber in wessen Händen.«)

 

 

***

Lyrische Novelle, von Annemarie Schwarzenbach, Erstdruck: Berlin, Rowohlt 1933

Annemarie Schwarzenbach: Selbstporträt mit ihrer zweiäugigen Rolleiflex Standard 621-Kamera (entstanden in den 1930er Jahren)

Die im Frühling 1933 erstmals erschienene Lyrische Novelle stand im Schatten von Hitlers kurz zuvor erfolgter Machtergreifung. Die Aufnahme und Verbreitung des Buches wurde dadurch stark erschwert. Aber schon damals rühmte die Kritik die Musikalität und moderne Sachlichkeit der Sprache. Noch stärker als in jener Zeit zieht der Text heute eine besondere Aufmerksamkeit auf sich: als eine frühe literarische Darstellung von lesbischer Liebe. Das Buch erzählt zwar von der unglücklichen Liebe eines Mannes zu einer Frau. Doch die Autorin bekannte nach der Veröffentlichung: Zum besseren Verständnis der Geschichte „hätte man eingestehen müssen“, dass der Held „kein Jüngling, sondern ein Mädchen“ sei.

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In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück.