Die Taube

… als auch ich den größten Teil meines Lebens in immer kleiner werdenden Zimmern verbringe, die zu verlassen mir immer schwerer fällt. Ich hoffe aber, eines Tages ein Zimmer zu finden, das so klein ist und mich so eng umschließt, dass es sich beim Verlassen selbst mitnimmt.

Patrick Süskind

Nach zwei drastischen Erlebnissen in seiner Vergangenheit (die Deportation seiner Eltern in ein Konzentrationslager und seine missglückte Ehe), an die er sich am liebsten gar nicht mehr erinnert, zieht Jonathan Noel ein ereignisloses Leben vor. Er zieht nach Paris, wo er eine Arbeit als Wachmann einer Bank findet. Er lebt in einem Zimmer ohne jeden Komfort, welches ihm aber einen sicheren und verlässlichen Hafen bietet. Um diese Sicherheit und Gleichförmigkeit zu garantieren, erwirbt er das Zimmer per Mietkauf: Nur noch eine Rate ist fällig, dann gehört es ihm. Sein Tagesablauf ist minutiös festgelegt, er lebt genügsam, gewissenhaft und einsiedlerisch. Den Kontakt zu anderen Menschen vermeidet er bewusst. Eines Freitagmorgens im August 1984, sitzt unerwartet eine Taube vor seiner Zimmertür, die durch ein geöffnetes Fenster in den gemeinsamen Hausflur gekommen sein muss. Die Taube versetzt Jonathan in Angst und Schrecken. Er verschanzt sich erst in seinem Zimmer und wagt es nicht mehr, den Flur zu betreten. Er versucht, an seinem routinierten Tagesablauf festzuhalten, verlässt das Zimmer dann aber nur, weil er zur Arbeit muss. Schwer vermummt in Winterkleidung wagt er mit gepacktem Koffer den Ausfall aus seinem Zimmer. Er ist überzeugt, nicht mehr zurückkehren zu können.

Auf dem Weg zur Bank führt er ein kurzes Gespräch mit der Concierge des Hauses. Da er sich ständig von ihr beobachtet fühlt, und dies als übergriffig empfindet, will er ihr in seinem aufgebrausten Zustand die Meinung dazu sagen. Er kann seine Wut aber nicht äußern und informiert sie lediglich über die Taube, hat jedoch keine Hoffnung, dass sie etwas unternehmen wird.

Durch die Taube aus dem Gleichgewicht gebracht, wird der Tag für Jonathan zum Desaster. Am Vormittag verpasst er es, der Limousine seines Chefs rechtzeitig das Tor zu öffnen, was ihm als unverzeihliches Vergehen erscheint. In der Mittagspause mietet er in einem Hotel das billigste Zimmer, um nicht mehr nach Hause zurückkehren zu müssen. Dann reißt er an einer Parkbank versehentlich ein Loch in seine Hose. Den Nachmittag hält er dann mit notdürftig geflickter Hose wieder Wache vor der Bank. Dabei verfällt Jonathan in Grübelei und durchleidet seinen Wachdienst schwitzend in der Sommersonne. Er verweigert sich selbst jede Linderung und empfindet einen brennenden Hass auf seine Umwelt. Innerlich phantasiert er davon, seinen Hass mit Gewalt auszudrücken und mit seiner Dienstwaffe um sich zu schießen. Er bleibt allerdings untätig, da er seine Gefühle nicht ausdrücken- und sich seiner Umwelt nicht mitteilen kann. Er ist „kein Täter, sondern ein Dulder“.

Beim Dienstschluss empfindet Jonathan sich als von seinem Körper getrennt, während er mit anderen Mitarbeitenden die Bank verriegelt, und im dienstlichen Rahmen unpersönliche Höflichkeiten austauscht. Er lässt sich dann anfangs mit der Menge der Fußgänger treiben, spürt aber durch den körperbetonten Akt des Gehens, wie sich Körper und Geist einander wieder annähern. Er setzt daraufhin seinen Spaziergang mehrere Stunden durch Paris fort, ehe er Hunger und Müdigkeit verspürt. Wieder im Hotelzimmer, verspeist er sein unterwegs gekauftes Abendessen, welches ihm größten Genuss bereitet. Dennoch entscheidet er vor dem Einschlafen, dass er sich am Folgetag umbringen will.

In den frühen Morgenstunden gibt es ein heftiges Gewitter. Aus dem Schlaf gerissen, meint Jonathan zuerst, die Welt gehe unter. Da weder Tageslicht noch Geräusch in das Zimmer dringen, ist Jonathan völlig desorientiert, glaubt schließlich, er sei ein Kind im Keller seines Elternhauses, habe alles nur geträumt und draußen herrsche Krieg. Von kindlicher Angst vor dem Verlassensein überwältigt, will er um Hilfe schreien, doch gibt ihm das Geräusch prasselnden Regens seine Orientierung zurück.

Jonathan begibt sich auf den Heimweg, genießt die Eindrücke der erwachenden, regennassen Stadt und planscht mit kindlicher Freude durch die Pfützen. Als er sein Zuhause erreicht, überwindet er seine Angst vor der Taube, und betritt den Hausflur, um festzustellen, dass die Taube verschwunden ist.

 

 

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Die Taube, von Patrick Süskind, Diogenes Verlag, 1987

Weiterführend

Regelmäßig wird im Zusammenhang mit der Novelle die von Paul Heyse formulierte „Falkentheorie“ angeführt, die die Kategorien der Silhouette (Konzentration auf das Grundmotiv im Handlungsverlauf) und des Falken (Dingsymbol für das jeweilige Problem der Novelle) als novellentypisch benennt. Photo: Ph. Oelwein

In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück. Dieser Ausschnitt verzichtet bewußt auf die Breite des Epischen, es genügten dem Novellisten ein Modell, eine Miniatur oder eine Vignette. Wir gehen davon aus, daß es sich bei dieser literarischen Kunstform um eine kürzere Erzählung in Prosaform handelt, sie hat eine mittlere Länge, was sich darin zeigt, daß sie in einem Zug zu lesen sei. Und schon kommen wir ins Schwimmen. Als Gattung läßt sie sich nur schwer definieren und oft nur ex negativo von anderen Textsorten abgrenzen. KUNO postuliert, daß viele dieser Nebenarbeiten bedeutende Hauptwerke der deutschsprachigen Literatur sind, wir belegen diese mit dem Rückgriff auf die Klassiker dieses Genres und stellen in diesem Jahr alte und neue Texte vor um die Entwicklung der Gattung aufzuhellen.