Lyrische Novelle 8

 

Aber damit war es bald vorbei. Und dann verbrachte ich den ganzen Tag in einer beinahe unerträglichen Ungeduld.

Erst wenn der Abend begann, tröstete ich mich, die Lichter flammten auf, und jetzt erwachte Sibylle.

Ihren Namen zu denken, erfüllte mich mit entzückter Bedrängnis. Ich verliess die Bibliothek, ging nach Hause, nahm ein Bad und zog mich um. Gewöhnlich ging ich zu Freunden zum Abendessen. Ich beteiligte mich an ihren Gesprächen, es waren gebildete und freundliche Menschen, und die Abende vergingen rasch und angeregt. Ich verbarg meine Ungeduld, aber immer wenn ich auf meine Uhr sah, war es erst neun Uhr. Meistens unterhielt ich mich mit der Hausfrau, ich hatte sie sehr gern. Sie kannte meine Mutter.

Aber eines Abends war plötzlich alles ganz anders. Wir sprachen, glaube ich, über das Deutsche Reich des Mittelalters, über die Symbolkraft eines Namens, dem doch so wenig Realität zu Gebote gestanden habe. Da hörte ich plötzlich meine Stimme wie die eines Fremden, Glut überfiel mich, absichtslos flüsterte ich Sibylles Namen, sah die unendliche Blassheit ihres Antlitzes hinter dem Saalfenster auftauchen, lief an das Fenster und riss den Vorhang zurück.

Man betrachtete mich erstaunt. Was war geschehen?

Nichts, Sibylles Gesicht. Und was wussten sie davon, grenzenlose Fremdheit riss uns plötzlich auseinander, fremde Menschen sahen mich an, überall brach der Boden zwischen uns ein, das Licht trübte sich, ihre Gespräche gelangten nicht mehr an mein Ohr, jetzt entschwanden sie selbst, und ich konnte nichts dagegen tun . . .

Ich erinnerte mich, im Bayreuther Festspielhaus häufig eine besondere Art des Szenenwechsels gesehen zu haben:

Während die Musik weiterspielte, blieb der Vorhang geöffnet, aber dicht hinter der Rampe stiegen Dämpfe auf, von buntem Licht durchleuchtet, sie verdichteten sich, flossen in weisslichen Strömen ineinander und bildeten immer undurchdringlichere Wände, hinter denen die Szene unmerklich versank. Dann wurde es still, die Nebel verteilten sich, die Bühne tauchte wieder auf, eine neue Landschaft lag da, von jungem Licht mild überglänzt.

Ich wurde etwas gefragt und antwortete, aber ich weiss nicht, ob ich vernünftig antwortete.

Ich stand auf und ging vereinsamt auf die Hausfrau zu, die mir lächelnd die Hand gab.

Auf der Strasse atmete ich auf. Ich war einer Gefahr entronnen. Niemand hatte meine Flucht bemerkt.

So war es: Ich war ihnen entglitten, der Abgrund hatte sich vor mir aufgetan, unwiderstehlich angezogen hatte ich die Arme ausgebreitet und war hinabgestürzt.

Ein Junge schlich an mir vorüber, hielt den Kopf geduckt und schickte mir einen misstrauisch auffordernden Blick zu.

»Sie lassen Ihren Wagen stehen?« fragte er. »Soll ich aufpassen?«

Ich nickte.

»Du kennst wohl meinen Wagen schon?« sagte ich.

Dann sah ich auf meine Uhr.

»Elf Uhr«, sagte der Junge. »Elf Uhr«, sagte ich glücklich. Und eilte zum Wagen zurück. Als ich die Schlüssel aus der Tasche zog und mir den Weg zum Walltheater überlegte, musste ich plötzlich Atem holen und mich mit der Hand auf das Verdeck stützen. Der Junge beobachtete mich streng.

Ich schrie ihn an: »Steig ein« – und schloss die Tür auf.

Dann packte ich den Jungen um die Schulter, presste ihn heftig an mich und schaltete gleichzeitig mit der linken Hand den Motor ein.

Er schwieg hartnäckig und starrte mich in wortloser Ergebenheit an.

 

 

***

Lyrische Novelle, von Annemarie Schwarzenbach, Erstdruck: Berlin, Rowohlt 1933

Annemarie Schwarzenbach: Selbstporträt mit ihrer zweiäugigen Rolleiflex Standard 621-Kamera (entstanden in den 1930er Jahren)

Die im Frühling 1933 erstmals erschienene Lyrische Novelle stand im Schatten von Hitlers kurz zuvor erfolgter Machtergreifung. Die Aufnahme und Verbreitung des Buches wurde dadurch stark erschwert. Aber schon damals rühmte die Kritik die Musikalität und moderne Sachlichkeit der Sprache. Noch stärker als in jener Zeit zieht der Text heute eine besondere Aufmerksamkeit auf sich: als eine frühe literarische Darstellung von lesbischer Liebe. Das Buch erzählt zwar von der unglücklichen Liebe eines Mannes zu einer Frau. Doch die Autorin bekannte nach der Veröffentlichung: Zum besseren Verständnis der Geschichte „hätte man eingestehen müssen“, dass der Held „kein Jüngling, sondern ein Mädchen“ sei.

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In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück.