Lyrische Novelle 7

 

Ich arbeitete sehr regelmässig, bevor ich Sibylle kannte. Ich stand um sieben Uhr auf, und wenn ich kein Kolleg zu hören hatte, ging ich um halb neun Uhr in die grosse Bibliothek. Am Morgen waren viele Plätze leer, ich bekam meine Bücher sehr rasch und begann zu lesen. Der Lesesaal ist halbrund und düster erleuchtet, und die Pulte sind im Halbkreis wie um den Platz eines Redners geordnet. Ich hatte immer die Vorstellung, dass dort, im Mittelpunkt des Saales, ein Redner stehen müsste, ein gewaltiger Mann, auf den wir unsere Augen unwillkürlich richten würden, und dass es uns eine Beruhigung sein würde, ihn dort zu wissen.

Mein Platz befand sich auf der linken Seite, nahe den Fenstern, die von schweren Vorhängen verhüllt waren. Nur an hellen Nachmittagen wurden die Vorhänge zurückgezogen, dann drang ein wenig Sonne in den Saal und glitt zögernd und farblos über den Boden. Ich konnte nicht hinaussehen, aber der Lärm der Strasse drang herauf und verlockte mich. Ich stellte mir vor, dass unten die Wagen hin und her fuhren und sich überholten, dass die Leute in die Restaurants eilten, Zeitungen lasen und sich behaglich fühlten, und ich packte meine Bücher zusammen und ging weg.

Niemand kümmerte sich darum. Jeder war hier für sich und schenkte dem anderen keine Beachtung.

Ich ging dann in ein Restaurant und bestellte etwas zu essen. Und fast immer war ich sehr hungrig.

 

 

***

Lyrische Novelle, von Annemarie Schwarzenbach, Erstdruck: Berlin, Rowohlt 1933

Annemarie Schwarzenbach: Selbstporträt mit ihrer zweiäugigen Rolleiflex Standard 621-Kamera (entstanden in den 1930er Jahren)

Die im Frühling 1933 erstmals erschienene Lyrische Novelle stand im Schatten von Hitlers kurz zuvor erfolgter Machtergreifung. Die Aufnahme und Verbreitung des Buches wurde dadurch stark erschwert. Aber schon damals rühmte die Kritik die Musikalität und moderne Sachlichkeit der Sprache. Noch stärker als in jener Zeit zieht der Text heute eine besondere Aufmerksamkeit auf sich: als eine frühe literarische Darstellung von lesbischer Liebe. Das Buch erzählt zwar von der unglücklichen Liebe eines Mannes zu einer Frau. Doch die Autorin bekannte nach der Veröffentlichung: Zum besseren Verständnis der Geschichte „hätte man eingestehen müssen“, dass der Held „kein Jüngling, sondern ein Mädchen“ sei.

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In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück.

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