Die nachzügler

 

Die nachzügler verlangsamen die kulturelle entwicklung der völker und der menschheit, denn das ornament wird nicht nur von verbrechern erzeugt, es begeht ein verbrechen, dadurch, daß es den menschen schwer an der gesundheit, am nationalvermögen und also in seiner kulturellen entwicklung schädigt. Wenn zwei menschen nebeneinander wohnen, die bei gleichen bedürfnissen, bei denselben ansprüchen an das leben und demselben einkommen verschiedenen kulturen angehören, kann man, volkswirtschaftlich betrachtet, folgenden vorgang wahrnehmen: der mann des zwanzigsten jahrhunderts wird immer reicher, der mann des achtzehnten jahrhunderts immer ärmer. Ich nehme an, daß beide ihren neigungen leben. Der mann des zwanzigsten jahrhunderts kann seine bedürfnisse mit einem viel geringeren kapital decken und daher ersparnisse machen. Das gemüse, das ihm mundet, ist einfach in wasser gekocht und mit etwas butter übergossen. Dem anderen mann schmeckt es erst dann gleich gut, wenn honig und nüsse dabei sind und wenn ein mensch stundenlang daran gekocht hat. Ornamentierte teller sind sehr teuer, während das weiße geschirr, aus dem es dem modernen menschen schmeckt, billig ist. Der eine macht ersparnisse, der andere schulden. So ist es mit ganzen nationen. Wehe, wenn ein volk in der kulturellen entwicklung zurückbleibt! Die engländer werden reicher und wir ärmer…

 

 

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Ornament und Verbrechen, von Adolf Loos, Wien 1908

Adolf Loos war ein österreichischer Architekt, Architekturkritiker und Kulturpublizist. Er gilt als einer der Wegbereiter der modernen Architektur. Seine bekanteste Schrift ist der Vortrag Ornament und Verbrechen (1910). Darin wird argumentiert, dass Funktionalität und Abwesenheit von Ornamenten im Sinne menschlicher Kraftersparnis ein Zeichen hoher Kulturentwicklung seien und dass der moderne Mensch wirkliche Kunst allein im Sinne der Bildenden Kunst erschaffen könne. Ornamentale Verzierungen oder andere besondere künstlerische Gestaltungsversuche an einem Gebrauchsgegenstand seien eine ebenso unangemessene wie überflüssige Arbeit.

Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.