Geklebte Papiere

Bildlich im besten Sinne ist auch die Kunst der Collage. Zusammengefügt wird hier was im Original keine offensichtliche Kohärenz hat. Unter der Hand des Collageurs fügen sich Gestalten zusammen, entstehen Bezüge, formal wie inhaltlich. Boris Kerenski zeigt dies meisterlich, zumal in Verbindung mit den Titeln hier ganz neue Welten sich erschließen. Ernsthafte, visionäre, skurrile, mitunter erotische …

Dr. Annette Schmidt

Das Buch zeigt Collagen, für die auch die Max Ernstsche Auffassung zu gelten scheint, die besagt, dass die Collage nicht vom Kleben her komme – eine nette Finte, denn der Begriff meint im eigentlichen Sinne: Papiers Collé und er ergänzt: »Collage-Technik ist die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene – und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt.« Es geht Ernst also darum, was eine Collage in uns zu bewirken vermag und nicht darum, wie sie zu machen ist! Es ist klar, dass es ums Verbinden und Täuschen – Vortäuschen geht und darum, monierte auch an sich unstimmig wirkende Dinge so aussehen zu lassen, als ob sie tatsächlich eine Einheit ergeben.

Boris Kerenskis Collagen verraten durch ihre vielschichtigen Ebenen und die kunstvoll umgesetzten Schritte und Prozesse: Schneiden, Kleben, Verbindungen durch Übermalungen und Überzeichnen, Zäsuren durch vertiefte Schichten … deutlich, dass sie gemacht sind – sie verleugnen ihre Machart nicht, und damit auch nicht, was ihre Einzelteile vormals waren oder woher sie stammten. Trotzdem geht alles Verwendete auf ihnen geistreich und formal stimmig zusammen. Darin liegen ihr Reiz und Charme und darin zeigt sich auch ihre Doppelbödigkeit. Denn ganz offensichtlich geht es darum, aus vorhandenen Bildern von Menschen und Situationen, die durch die Printwelt geisterten, neue, andere Bilder zu erschaffen. Er bedient sich dabei vorgefertigter und vorgefundener, und somit bereits konnotierter Bilder, die uns bereits bekannt sein dürften und schafft aus Ihnen neuen Bildwelten – bildgewordene Aussagen und Geschichten, die auch mit ihren Ausgangsbedeutungen spielen und arbeiten und so auch aufzeigen, dass ein bekanntes Bild, an dem inhaltlich bereits einiges hängt, in anderen Kontexten völlig anders wirkt und eine völlig andere Bedeutung haben kann – das ist wie Sampeln: Werbebilder oder Reportage-Fotos werden so zumeist zu narrativ-erzählerischen Situationen zusammengezogen – zu poetischen Welten – wie sich Ernst ausdrücken würde. Dabei spielen Ebenen und Tiefen formal wie inhaltlich eine Rolle. Verschachtelt sind sie, kompositorisch reich angelegt und inhaltlich voller Anspielungen, Untiefen und Brüche – im Zentrum steht der Mensch, der Dinge erlebt, durchlebt und dabei auf- oder untergeht; sie bleiben immer geistvoll, mit Esprit, Haltung und feiner Melancholie – darauf verweisen auch die vielschichtigen Titel, die die Lesart lenken oder brechen. So klein sie sind, so gewagt sind ihre Kompositionen.

 

 

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Schnitte – Die Kunst der Schere, von Boris Kerenski. Vor- bzw. Nachwort von Gerhard van der Grinten und Dr. Annette Schmidt. Moloko, Schönebeck 2020

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Künstlerbücher verstehen diese Artisten als Physiognomik, der Büchersammler wird somit zum Physiognomiker der Dingwelt. Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen.