Rede am Grabe Leo Reins

 (In der Berliner Börsenzeitung 547 v.27.11.21)

Zunächst behaupte ich, Herr Kritiker Leo Rein wäre tot. Kritiker sind tot oder Dadaisten. Ich behaupte, Herr Rein wäre beides, weil das so schön geht. Seiner Rede fehlt die Wärme, das Flaisch, sie klappert wie Knochenbeine.

Aber ist er schon tot, lebt uns sein Name noch und kündet es bäßeren Zukünften, dass der Löw reineren Zeiten entgegenklappert, Zeiten ohne die lächerliche Merzmalerei und ohne die widerliche Anna Blume. Der Stimme schwendet Kopf verquer die Beine. Ja, Herr Rein, alle Neme kann man nich von hinten lesen. Sie hiessen z. B. Snieröl, wenn es noch wenigstens Schmieroel wäre!

Ich bin Kriminalist, vaschtehste? Selbstmord? Leider ja. Der Löw hat sich solange hinten in seinen eigenen Schwanz gebissen, bis er tot umfuhl. (Weniger gebräuchliches Imperfekt von fallen.) Nun lügt er da und schreit so sehr. (Und wenn der Brummbär mich doch nassmacht?) Dann kriegt er Haue.

Ich bin Pastor und wende mich gegen Leos Lebenswandel, besonders an seinem Lebensabend, seine Grabrede auf meine Kunscht. Warum verallgemeinern Sie? (Gemeinheit im All.) Wer gibt Ihnen z. B. ein Recht, etwas Dadaismus zu nennen, das sachlich MERZ und nicht dada ist? Ich meine meine Kunst. Wenn Sie nicht gut fundamentiert sind, dann wenden Sie sich nur gleich einer anderen Brangsche zu. Ick werde Ihnen mal fundamentieren!

MERZ bedeutet bekanntlich Toleranz in Bezug auf alle Nebensachen, wie Material, Motiv; dagegen die Forderung konsequenter Formung zum Zwecke des Ausdrucks. Nach diesem fundamentalen Grundsatz frage ich Sie: Wer gibt Ihnen ein Recht dazu, ein Kunstwerk Unsinn zu nennen, weil sein Motiv Unsinn war. (Toter Kritiker, hören Sie eigentlich?) Sie verwerfen meine Kunstwerke, weil Sie nicht gut fundamentiert sind, infolge Verwechslung des Motivs mit der Gestaltung. Kunst ist niemals Unsinn. Kunst ist Logik. Jawohl, da staunen Sie! Sie aber verwechseln die Begriffe und begreifen Ihre Verwechslung nicht.

De mortuis nil nisi bene, auf deutsch: Man soll den Toten nicht auf die Beene niesen. Ich niese nicht, toter Mann, hören Sie, ich niese nicht auf Ihre Beene, wenn ich behaupte, dass Ihr Wunsch, Merz möge doch bitte tot sein, der Vater Ihres Gedankens nebst Grabrede war. Wissen Sie, was das bedeutet? (Wohl lange Dein eigenes Geschrei nich jehört!)

Damit Sie aber hören, dass ich noch niesen kann, treten Sie bitte ein paar Schritt zurück, Sie kennen ja die übliche Rückwärtsbewegung der Herren von der Kritik. Abort frei. Zur Förderung der öffentlichen Gesundheit wird dringend ersucht, nicht auf den öffentlichen Boden zu spucken. Die Augen der Herren Kritiker dürfen auf beiden Seiten nur mit Zustimmung aller Mitreisenden geöffnet werden.

Lernen Sie erstlichmal deklinieren: der Hass, die Hose, das Haus.

 

 

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Kurt Schwitters, vor 1927, auf einer Fotografie von Genja Jonas

Das literarische Werk von Kurt Schwitters. Quelle: Der Sturm, 13. Jahrgang, Heft 1 (Januar 1922)

Kurt Schwitters war ein deutscher Künstler, Maler, Dichter, Raumkünstler und Werbegrafiker, der unter dem Kennwort Merz ein dadaistisches „Gesamtweltbild“ entwickelte. Sein Werk umfasst die Stilrichtungen Konstruktivismus, Surrealismus und Dadaismus, dem sie aber nur durch Gegensätzlichkeit ähnlich waren. Aus heutiger Sicht zählt Schwitters zu den einflussreichsten Künstlern des frühen 20. Jahrhunderts.