An der Schnittstelle zweier Kulturen

In der griechischen Urbedeutung ist der choros die Sprecher-­ oder Sängergruppe, die im antiken Drama auftrat. Später hieß choros dann auch Tanz, worunter aber auch der Gruppentanz, also der Reigen verstanden wurde. Die Bulgaren haben das Wort übernommen, bei ihnen heißt der Volkstanzreigen choro – mit Betonung auf der zweiten Silbe. Im Plural wird daraus chora. CHORA heißt aber, wenn man es auf der ersten Silbe betont, auch Leute, Menschen.

Thomas Frahm, Verlagsgründer

Im letzten Jahr sind rund 75.000 Buchtitel auf dem deutschen Markt neu erschienen. Seit Jahrzehnten beklagen Insider des Literaturbetriebs, es erschienen viel zu viele Bücher, der Markt platze aus allen Nähten, sei nicht mehr überschaubar. Neben Marktsegmenten, die gut laufen, gibt es eine immer größer werdende Zahl von Titeln, die kaum noch oder gar keine Leser mehr finden. Da braucht es gute Gründe, um dennoch Bücher zu produzieren und mit einem neuen Verlag an die Öffentlichkeit zu treten. Wie dies funktioniert, führt der rumänischestämmige Verleger Traian Pop eindrucksvoll vor, im Ludwigsburger Pop-Verlag gibt er die Literaturzeitschrift Matrix heraus.

In seinem Furor erinnert Thomas Frahm an Jörg Schröder vom März-Verlag

Thomas Frahm, Photo Udo Kroeber

1992 gründete Thomas Frahm den Avlos-Verlag, in dem vor allem Interkulturelle Literatur erschien, ab 1995 auch literarische Werke von Schriftstellern und Lyrikern aus Bulgarien, sowie Regionalliteratur aus seiner eigenen Heimatregion, der Niederrhein-Region. Einen weiteren Schwerpunkt der Verlagsarbeit von Frahm, der als gebürtiger Homberger in der Niederrhein-Region aufgewachsen und dieser verhaftet war bzw. ist, bildeten Werke der „Regionalliteratur“ von im „Mythos Niederrhein“ beheimateten Schriftstellern, die er teils entdeckte und förderte. Außerdem nahm Frahm, der zeitweise mit der bulgarisch-deutschen Schriftstellerin Rumjana Zacharieva verheiratet war, selbst Übersetzungen von belletristischen Texten aus dem Bulgarischen ins Deutsche vor und gab Werke von bulgarischen Schriftstellern in deutscher Sprache heraus, teils auch gemeinsam mit seiner Frau. Einige dieser Werke verlegte Frahm zudem in seinem eigenen Verlag. Von 1995 bis 2000 führte der Avlos-Verlag die Reihe Bulgarische Bibliothek, in der Romane, Essays und Gedichte von zeitgenössischen bulgarischen Autoren erschienen, wie unter anderem von Blaga Dimitrowa, Ivajlo Petrov, Radoj Ralin und Konstantin M. Pavlov. Außer den bereits genannten bulgarischen Schriftstellern gehörten zu den Autoren des Verlags unter anderem Wolfgang Bittner, Franco Biondi, Doris Distelmaier-Haas, Paul Eßer, Husain Habaš, Mete İzgi, Britta Kanacher, Giorgos Krommidas, Hildegard Moos-Heindrichs, Fruttuoso Piccolo, Georg Schwikart, Ludwig Verbeek und Frahms zeitweilige Ehefrau Rumjana Zacharieva. Der Verlagssitz befand sich zunächst am Gründungsort, in Sankt Augustin; später in Siegburg, in Linz am Rhein und in Köln. Seit Anfang der 2000er-Jahre hatte der Verlag seinen Sitz in Duisburg. Der Verlag wurde um 2005 aufgelöst.

Der Bulgarien-Experte Thomas Frahm lädt zusammen mit seiner Romanfigur in seinem Roman „Träume sind das Teuerste“ zu Streifzügen durch Sofia ein. Er verbrachte selbst ein Viertel seines Lebens in Sofia und pendelt noch heute regelmäßig zwischen seiner Heimatstadt Duisburg und der Hauptstadt Bulgariens.

Als sich trotz so viel positiver Resonanz kein deutscher Verlag mehr bereit fand, bulgarische Autoren zu verlegen, fasste Frahm den Entschluss, die Dinge wieder selbst in die Hand zu nehmen und seine verlegerische Tätigkeit mit neuer Zielsetzung wieder aufzunehmen: mit dem CHORA Verlag, dem “Verlag für MENSCHEN, die sich um die Schultern fassen”. Im Bewusstsein, dass bulgarische Literatur auf dem überfüllten und umkämpften Literaturmarkt kaum Chancen hat, beschloss er, erst einmal Informationen über Bulgarien bereitzustellen – zunächst die, die er seit 2000 selbst entdeckt und sich erarbeitet hatte. Hinzu kamen thematisch konzipierte Anthologien mit Erzählprosa in seiner Übersetzung, die über das Literarische hinaus aber ebenfalls als „Gegenwarts-Info Bulgarien“ gedacht waren. Später einmal sollen, falls sich hierzu eine Möglichkeit ergibt, auch wichtige Werke bulgarischer Literatur folgen, unabhängig von ihrem Erscheinungstermin.

Kann es sein, dass man erst in die Fremde gehen und dort in einer Art innerer Notwehr leben muss, um Heimat zu entdecken?

CHORA ist zwar ein Verlag mit Bulgarien als Programm-Schwerpunkt; aber die Neigung von Thomas Frahm, sich dort, wo er lebt, auch zu verorten, galt nicht nur für Bulgarien. Es gilt auch für Deutschland, für den Verlagssitz Duisburg, das Kreativquartier Ruhrort, in dem Klaus Grospietsch wirkt. Zum geistigen Aufenthaltsort gehören ohnehin immer auch Freunde.

Es gibt einen sehr schönen Sarkasmus über Journalisten, die ins Ausland gehen: Nach sieben Wochen könnten sie ein Buch schreiben, nach sieben Monaten einen profunden Essay, nach sieben Jahren – gar nichts mehr! In dieser Sentenz kommt eine grundlegende Diskrepanz zwischen gefühltem und tatsächlichem Wissen zum Ausdruck: In den Routinen des Zuhauseseins gibt es gefühlt wenig Neuigkeiten mit Nachrichtenwert, in der Fremde hingegen prasselt das Unbekannte nur so auf einen nieder.

Thomas Frahm

Der CHORA Verlag, der 2014 seine Arbeit aufnahm, tut dies denn auch erst nach reiflicher Überlegung, mit einem klaren Konzept und flexiblen Strukturen. Flexible Strukturen, das heißt, der Verlag arbeitet nach einer Art Modul­-System: Es gibt ihn immer nur so viel wie nötig. Dadurch werden die hohen laufenden Kosten, die bei großen Verlagen anfallen, vermieden. Vermieden werden auch die dadurch entstehenden Zwänge, regelmäßig im Frühjahr und Herbst (für Hardcover) oder gar monatlich (für Taschenbuch) neue Titel vorlegen und um Plätze im Buchhandel kämpfen zu müssen. Das Drucken von Auflagen ermöglicht zwar niedrigere Stückpreise, lohnt sich aber nur, wenn auch Stückzahlen abgesetzt werden, die bei Büchern für einen sehr spezialisierten Leserkreis eben nicht abgesetzt werden können.

Ein Verlag wie CHORA möchte und muss solche Abhängigkeiten vermeiden und produziert daher unregelmäßig und nur dann, wenn etwas da ist, das eine Veröffentlichung lohnt. Das Rückgrat des Verlages, die Bulgarien-­Bücher, haben inhaltlich zwar in hohem Maße Neuwert, schließen in ihrer Marktnische also Informations-­, Kenntnis- und Wissenslücken und gehören somit nicht zu den redundanten Titeln der Marke »Das x­-te Buch zum Thema y«; für einen großen Publikumsverlag wären sie aber gar nicht zu kalkulieren, da sie auch einen hohen Aufwand in den qualitätsschaffenden Bereichen der Recherche, des Lektorats und der Korrektur haben, die für mich als Verleger eine Jahrzehnte lange Qualifizierung bedeuteten. Selbst kleine Auflagen, wie kleine Verlage sie herstellen, verursachen neben den Kosten für Druckvorstufe und Druck ja auch noch Kosten für Lagerung, Auslieferung und Werbung, und jeder einzelne Posten davon fällt an, auch wenn man nichts verkauft. Eine schöne Ausstattung, die signalisiert, dass das Buch nach der Lektüre Aufbewahrungswert hat, ist in dieser Form für einen Miniverlag überhaupt nicht zu finanzieren.

Der CHORA Verlag kann die Höflichkeit eines Butlers üben, der das Buch nur dann serviert, wenn danach geklingelt wird.

Der CHORA Verleger Thomas Frahm hat sich deshalb entschieden, im volldigitalisierten Printing­-on­-demand­-Verfahren mit Anschluss ans so wichtige, da die Lieferbarkeit im Buchhandel garantierende, Barsortiment zu produzieren. Überflüssige Auflagen und damit Restauflagen, Verramschung etc. werden vermieden. Jedes Buch wird einzeln, auf gutem Papier und meist gebunden mit Schutzumschlag hergestellt und ist dennoch zu einem Preis erhältlich, der nur wenig über dem liegt, den ein großer Verlag für ein gleichwertig ausgestattetes Buch ansetzt – vorausgesetzt, er glaubt, ein paar tausend Stück davon absetzen zu können!

Book-on-Demand

Frahms Erfahrung auf dem Buchmarkt zeigt ja, was die Folge ist: Wenn die erforderliche Stückzahl, die sogenannte „Deckungsauflage“, nicht abgesetzt wird, dann werden ganz einfach keine weiteren Bücher mehr mit dem betreffenden Autor und seinem Übersetzer gemacht. Frahm ist für seine Roman­-Übersetzungen aus dem Bulgarischen vielfach für renommierte, hoch dotierte Preise nominiert worden, u. a. für den Preis der Leipziger Buchmesse (Kategorie „Übersetzung“), den BRÜCKE BERLIN-­Preis des Hauses der Kulturen der Welt und den Helmut­-Braem-­Übersetzerpreis. Alle waren verbunden mit großem Presseecho. Die Titel sind in renommierten Zeitungen begeistert und ausführlich besprochen worden. Als all dies nicht zu den nötigen Verkaufszahlen führte, war die schöne Karriere des Übersetzers Frahm beendet.

Kritik besteht nicht nur in der schonungslosen Anprangerung von Missständen, sondern oft auch in der subtilen Erwähnung von Dingen, Menschen und Zusammenhängen, die es angeblich gar nicht gibt. Und dafür ist Literatur einfach besser geeignet als Journalismus…

Thomas Frahm

Die Beobachtung, dass bis auf einzelne Glücksfälle fast alle editorischen Projekte, die sich mit bulgarischer Literatur befassen, scheitern, kann man natürlich als ernüchterndes Resultat verbuchen und abhaken. Man kann aber fragen: Warum geht es nicht? Was müsste ich anders machen, damit es geht? Was wird immer übersehen, was fehlt, wo kann ich ansetzen? Dass bei der Fülle der Romane, die schon jetzt den Markt überfluten, die Erfolgschance für Romane bislang unbekannter Autoren aus kleinen oder nicht so attraktiven Ländern wie Bulgarien – das ja bei weitem nicht das einzige Land ist, dessen Autoren es schwer haben auf dem deutschsprachigen und dem globalen Buchmarkt! – verschwindend gering ist, das ist doch eigentlich sonnenklar, und wer allein die beachtenswerten Titel der zehn wichtigsten deutschen Literaturverlage anschaut, der ahnt, dass allein mit ihnen der immer knapper werdende Platz für Literaturbesprechungen in den Medien bereits vollkommen ausgebucht werden könnte.

Dies hatte Frahm sorgfältig bedacht, bevor er Belletristik verlegte.

Er dachte auch an die Psyche der Autoren. Gerade Autoren aus Ost-­ und Südosteuropa schauen mit Bewunderung, aber eben auch riesigen Hoffnungen auf den deutschen Buchmarkt. Es fällt ihnen oft schwer zu begreifen, warum sie auf einem so großen Markt nicht eine mindestens zehnfach so hohe Auflage verkaufen wie im Heimatland. Statt diese oft durch keine Aufklärung zu beseitigenden Riesenerwartungen nicht unnötig zu enttäuschen, ist es besser, gar keine Einzeltitel herauszubringen, die sich dann mit Glück neunmal verkaufen.

Musterkatalog zum Kennenlernen

Die Idee des CHORA Verlages ist es, zunächst einmal Titel zu entwickeln und herauszubringen, die über Bulgarien informieren. Erst dann, wenn es genügend viele Leser gibt, die dem Verlag Sachkunde attestieren und wirklich wissen wollen, was dieser Verlag für gute bulgarische Literatur hält, erst dann werde ich beginnen, sie zu veröffentlichen. Bis dahin bleibt es bei Sachbüchern und Anthologien, die die Autoren auch bei wenig Verkaufserfolg nicht kränken, da sie eben nur Beteiligte sind in einer Art Musterkatalog zum Kennenlernen.

Eigentlich ist alles im Leben eine Übersetzung. Das Gehirn, unser Nervenzentrum, übersetzt und interpretiert vieles, ohne dass wir Einfluss darauf haben. Und der lebenslange Lernprozess des Menschen ist auch nichts anderes als der Versuch, Unbekanntes in Bekanntes zu übersetzen.

Thomas Frahm

Als Einstieg in die interkultureller Literatur und Frahms Werk empfiehlt KUNO den Essayband Die beiden Hälften der Walnuss. Ein Deutscher in Bulgarien. Das Buch versammelt 14 Texte, die die Gattung des Essays jeweils maximal dem Thema anpassen (und nicht umgekehrt!). So gibt es formal alles vom kulturologischen Überblicksessay bis zur Satire, von der Essayreportage bis zur Dokumentarerzählung, vom Feuilleton bis zum Artikel. Vierzehn ganz verschiedene Texte, die Bulgarien und seine Menschen schildern.

 

 

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Thomas Frahm gilt als bedeutender Übersetzer aus dem Bulgarischen. Der Bulgarische Journalistenverband würdigte Frahms faire Darstellung der bulgarischen Verhältnisse in seinem Essayband Die beiden Hälften der Walnuss im Herbst 2016 mit ihrem Spezialpreis.

Weiterführend → 

Für das Projekt Kollegengespräche hat A.J. Weigoni einen Austausch zwischen Schriftstellern angeregt. Auf KUNO ist diese Reihe wieder aufgelebt, daher brachten wir den Austausch zwischen Rumjana Zacharieva und Safiye Can.