Signum der Poetizität

 

A.J. Weigoni war ein Sprachkünstler, Wortverdreher, syntaktischer Anarcho und semantischer Versteckspieler und arbeitet konsequent allem entgegen, was mit einer vordergründigen Verständlichkeit, Eindeutigkeit und Harmonie zu tun hat. In vielen der Gedichte wird Sprache in den Fokus gerückt und es wird immer näher hin gezoomt, von Sprache zu Grammatik, zu einzelnen Worten, zu Substantiven, Verben, Adjektiven bis hin zu einzelnen Buchstaben. Es geht um Vieldeutiges, um Ambivalenzen, um etwas Unauslotbares, es geht um die Leerstellen und Zwischenräume, um Assoziationsflächen und Wortvalenzen.

Dieser „Schuber“ ist reizvoll, weil Weigonis Arbeiten vielfältigen Gattungen frönt, wer freie Formen wie den LiteraturClip, Twitteratur, Monodramen und Hörspiel zu einem neuen Ganzen zusammenfügt, hat ausreichend Gelegenheit, Witz, Erfindungsgabe und Kennerschaft unter Beweis zu stellen. Bei keinem Lyriker des frühen 21. Jahrhunderts gibt es eine größere Vielfalt an Themen, Perspektiven, Anspielungen, Formen und bei keinem gibt es mehr Sprachartistik. Aus sinnfälligen Signalwörtern entstanden Gedichte, deren Musikalität richtiggehend als Letternmusik bezeichnet wurde.

In der Überwindung des DaDaismus setzte der Wortüberprüfer in der subtilen Anwendung der Typographie eher Pausenzeichen in der lyrischen Partitur. In vorwärts stürmenden, dann wieder widerborstigen Sinn- und Klang-Assoziationen lässt Weigoni die Kettenhunde der Silben in Unbehaust auf den Hörer los. Tom Tägers Papierkomposition auf dem beigefügten Hörbuch ist gleichsam Minimaltechno. Welthaltigkeit und Tiefe dieser epischen Dichtung resultiert wesentlich aus der disparaten Fülle des darin verarbeiteten Materials. In diesem ‚Erinnerungsspeicher’ verbinden sich additive Hinzufügungen und klanglich-rhythmische Wiederholungspattern zu einem heterogenen Inhalte. In diesem Monodram ist die Migrantin auf jeder Seite, in jeder Zeile, in jedem Wort gegenwärtig – mit seinem Blick, seinem Denken, seiner Leidenschaft. Von der edlen Wilden über Medea zur kannibalischen Barbarin, gehören diese Typen seit der Antike zum Standardinventar des Fremdheits-Diskurses. Wie sich die Faszination und Schrecken des Fremden verändert hat, zeigt dieses Hörspiel. Eine dieser Grundannahmen von Weigoni ist, dass in jeder Theorie des Fremden das Eigene immer schon integriert ist – Alteritätstheorie ist hier per se Differenztheorie. Die Schauspielerin Bibiana Heimes spricht in ihrer Rolle als Yo Chang über den Verlust des Narrativen in ihrem Leben, sie glaubt nicht mehr an Geschichten, die alles zusammenhalten und präsentiert Fragmente eines Erinnerungsimplantats, das die Migrationsströme einem inneren Bewusstseinsstrom gegenüberstellt.

Der Erkenntnisgewinn dieser Gesamtausgabe erschöpft sich darin beileibe nicht.

 

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Der Schuber, Werkausgabe der sämtlichen Gedichte von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2017

Der Schuber wurde handgefertigt von Olaf Grevels (Vorwerk Kartonagen) – Photo: Jesko Hagen

Weiterführend → Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO faßt die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.

Hörproben → Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren, von An der Neige und des Monodrams Señora Nada in der Reihe MetaPhon. Zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.