Ich weiß nicht, dass ich nichts weiß

Wer das Absolute verneint und behauptet, alles Wissen sei relativ, der argumentiert nahe an der Widersprüchlichkeit. Denn wer diese Behauptung aufstellt, nimmt nicht einfach nur an, dass alles Wissen relativ sei, sondern er erhebt im starken Sinne der Behauptung auch Anspruch auf zeitinvariante und damit generelle, mithin also absolute Wahrheit dieser Aussage (würde ich es behaupten, ohne diesen Anspruch zu erheben, würde es sich bei der Behauptung bestenfalls um eine These handeln). Wer nun aber seriös diesen Anspruch erhebt, kann dies nur tun, wenn er gleichzeitig auch darum weiß, dass er den Anspruch erhebt, dass diese Aussage wahr ist (das heißt: nicht ‚temporär wahr‘, sondern zeitinvariant, ewig, absolut). Und dieses Wissenmuss, da alles Wissen relativ ist, relativ sein. Nehmen wir nun einmal an, die Aussage ‚Alles Wissen ist relativ‘ sei wahr: Kann nun ein Wissen um die absolute Wahrheit dieser Aussage selber relativ sein? Und kann ich, da ich implizit das Bestehen des Absoluten behaupte, wenn ich im starken Sinne behaupte, alles Wissen sei relativ, das Absolute verneinen? Verneine ich das Absolute, so kann ich nicht behaupten, die Aussage ‚Alles Wissen ist relativ‘ sei wahr. Würde ich das tun, so würde ich behaupten, im Besitz absoluten Wissens zu sein. Damit würde ich aber das Absolute nicht verneinen, sondern bejahen. Wenn ich also das Absolute verneine, kann ich nicht gleichzeitig behaupten, dass alles Wissen relativ ist. Und, vice versa, wenn ich behaupte, dass alles Wissen relativ ist, kann ich nicht gleichzeitig das Absolute verneinen. Bestenfalls kann ich vermuten, dass es zum Einen das Absolute nicht gibt wie auch zum Anderen, dass alles Wissen relativ ist. Wenn dem so ist, dann ist auch das Wissen um die Wahrheit der Aussagen, dass es das Absolute nicht gibt und dass alles Wissen relativ ist, relativ. Doch wenn auch dieses Wissen relativ ist, ist dann nicht vielleicht, ohne dass wir es je wissen werden, unser Wissen gar nicht relativ, sondern absolut? Wer weiß.

 

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Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden? von Stefan Oehm, Königshausen und Neumann, 2019

KUNO würdigte das Buch von Stefan Oehm mit einem Rezensionsessay. Eine Leseprobe aus Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden? finden Sie hier.

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Weiterführend →

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