Krumme Strasse

Das Märchen redet manchmal von Passagen und Galerien, die beiderseits mit Buden voller Lockung und Gefahr bestellt sind. Als Knabe war mir so ein Gang geläufig; er hieß die Krumme Straße. Wo sie den schärfsten Knick hat, lag ihr finsterstes Gelaß: das Schwimmbad mit seinen rotglasierten Ziegelmauern. Mehrmals die Woche wurde das Wasser im Bassin erneuert. Dann hieß es am Portal »Vorübergehend geschlossen« und ich genoß eine Galgenfrist. Ich tat mich vor den Ladenfenstern um und nährte mein Geblüt aus einer Fülle von abgelebten Dingen in ihrer Hut. Dem Schwimmbad gegenüber lag eine Pfandleihe. Den Bürgersteig bedrängten Trödler mit ihrem Hausrat. Es war der Strich, auf dem auch die Monatsgarderoben zu Hause waren.

Wo die Krumme Straße im Westen auslief, gab es einen Laden für Schreibbedarf. Uneingeweihte Blicke in sein Fenster fingen sich an den billigen Nick-Carter-Heften. Ich wußte aber, wo ich im Hintergrunde die anstößigen Schriften zu suchen hatte. An dieser Stelle war kein Verkehr. Ich konnte lange durch die Scheibe starren, um erst bei Kontobüchern, Zirkeln und Oblaten mir ein Alibi zu schaffen, dann aber unvermittelt in den Schoß dieser papierenen Schöpfung vorzustoßen. Der Trieb errät, was sich am zähesten in uns erweisen wird; mit dem verschmilzt er. Rosetten und Lampions im Ladenfenster feierten das verfängliche Ereignis.

Nicht weit vom Schwimmbad lag der städtische Lesesaal. Mit seinen eisernen Emporen war er mir nicht zu hoch und nicht zu frostig. Ich witterte mein eigentliches Revier. Denn sein Geruch ging ihm voraus. Er wartete wie unter einer dünnen, bergenden Schicht unter dem feuchten, kalten, der mich im Stiegenhaus empfing. Ich stieß die Eisentür nur schüchtern auf. Doch kaum im Saal, begann die Stille meiner Kräfte sich anzunehmen.

Im Schwimmbad widerte mich der Stimmenlärm, der sich in das Brausen der Leitungen mischte, am meisten an. Er drang schon aus der Vorhalle, wo ein jedes die beinernen Bademarken erstehen mußte. Den Fuß über die Schwelle setzen bedeutete, von der Oberwelt Abschied nehmen. Danach bewahrte einen nichts mehr vor der überwölbten Wassermasse im Innern. Sie war der Sitz einer scheelen Göttin, die darauf aus war, uns an die Brust zu legen und aus den kalten Kammern uns zu tränken, bis dort oben nichts mehr an uns erinnern werde.

Im Winter brannte schon das Gas, wenn ich aus der Badeanstalt nach Hause ging. Das konnte mich nicht hindern, einen Umweg zu machen, der mich hinterrücks, als wollte ich sie auf frischer Tat ertappen, wieder auf meine Ecke führte. Auch in dem Laden brannte Licht. Ein Teil davon fiel auf die ausgestellte Ware und vermischte sich mit jenem der Laternen. In solchem Zwielicht verhieß das Schaufenster noch mehr als sonst. Denn nun verstärkte sich der Bann, den die auf Scherzpostkarten und Broschüren faßlich dargestellte Unzucht um mich legte, durch das Bewußtsein, mit der Tagesarbeit für heute Schluß gemacht zu haben. Was in mir vorging, konnte ich behutsam nach Hause unter meine Lampe tragen. Ja, noch das Bett geleitete mich oft zum Laden und zum Menschenstrom zurück, der durch die Krumme Straße geflutet war. Burschen begegneten mir, die mich stießen. Aber der Hochmut, den sie unterwegs in mir hervorgerufen hatten, kam nicht mehr auf. Der Schlaf gewann der Stille meines Zimmers ein Rauschen ab, das mich für das verhaßte der Badeanstalt in einem Augenblick entschädigt hatte.

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Berliner Kindheit um neunzehnhundert ist eine Sammlung autobiografischer Skizzen. Die einzelnen Texte verbinden sich nicht zu einer zusammenhängenden Erzählung, sondern geben eher einzelne Bilder und Erinnerungs-Bruchstücke wieder, etwa das Schlittschuhlaufen auf einem zugefrorenen Teich oder den Nähkasten seiner Mutter. Dabei versucht Walter Benjamin, sich in die noch unwissende, staunende Haltung des Kindes zurückzuversetzen und dessen Weltsicht in kunstvollen sprachlichen Bildern und Vergleichen wiederzugeben.