Die Parforcejagd des digitalen Hype

 

In Zeiten des digitalen Hype schauen alle Beteiligten nur nach vorn. Begeistert tummelt man sich in virtuellen Welten. Berauscht sich an den neuen technischen und medialen Möglichkeiten. Und erstürmt die schier unendlichen Experimentierfelder des Social Media mit geradezu kindlicher Begeisterung. Anything goes, das berühmte anarchische Diktum des österreichischen Philosophen der Beat-Generation, Paul Feyerabend, scheint hier fröhlich Urständ zu feiern. Mach, was du willst – Hauptsache, es macht dem Verbraucher Spaß. Hauptsache, es emotionalisiert. Unterhält. Erzählt Geschichten. Derzeit wird gefühlt wöchentlich ein Hype geboren und als neuer Hut in den Ring geworfen, aufgegriffen, aufgesetzt. Und als alter Hut wieder verworfen. Schnell weiter zum nächsten Hype.

Angesichts dieser verwirrend schnellen Entwicklung, die einen fast atemlos macht und beständig das Gefühl vermittelt, zu spät zu kommen, hat kaum einer der neuen Kanäle die Chance, einmal wirklich bis zur Gänze ausgelotet zu werden. Gerade hat man sich fast schon enthusiastisch auf die eine Option gestürzt, eröffnet sich an anderer Stelle schon die nächste, noch viel lustvoller zu bespielendere. Diese oftmals unreflektierte Begeisterung für das jeweils Neue und Nächste lässt umgekehrt das Letzte schnell als das Gestrige erscheinen. Das Vergangene ist vergessen, was allein zählt, ist das Kommende – ungute Erinnerungen an das „Futuristische Manifest“ werden wach, das Filippo Marinetti 1909 euphorisch proklamierte: Der unerschütterliche Glaube an das Morgen, reduziert auf den technologischen Fortschritt und die grenzenlosen Möglichkeiten, die er einem bietet. Ein solcher Glaube ist blind und völlig immun gegen kritische Stimmen. Und da Glaube gerne das, woran geglaubt wird, absolut setzt, wird derjenige, der nicht in gleicher Weise auf der Welle mitreitet, milde belächelt. Und das ist noch die harmloseste Reaktion.

Schon deshalb lohnt es sich, einmal kurz auf die Spaßbremse zu treten, inne zu halten und darauf aufmerksam zu machen, dass eine gewisse historische Kenntnis der Sujets manchmal doch recht erhellende, mitunter auch verstörende Erkenntnisse zeitigen kann. So zum Beispiel die, dass die digitalen Medien mitnichten eine neue Ära der Kommunikation eingeläutet haben.

Wer daran glaubt, differenziert nicht Strukturen und Mechanismen von Inhalten und Intentionen. Und diese wiederum nicht von den technischen und medialen Möglichkeiten, die einem in der jeweiligen Dekade zur Verfügung stehen. So verführen einen die sagenhaften Optionen einer digital transformierten Kommunikation schon mal schnell zum Irrglauben, dass die Teilnehmer des Spiels hier Terra incognita betreten. Aber das ist nicht der Fall. Denn gerade die Strukturen und Mechanismen, die die Blaupausen jeder Kommunikation sind, in der der Eine den Anderen zu etwas bewegen und ihn an etwas glauben machen will, sind seit Menschengedenken im Wesentlichen unverändert. Es ist also bestenfalls alter Wein in neuen Schläuchen.

Was man sich dabei bewusst machen muss: Diese Blaupausen haben eine bemerkenswerte Eigenschaft, die sie so unvergänglich wie universell verwendbar machen – sie sind wertneutral. Sie können für das Eine ebenso gut eingesetzt werden wie für ihr Gegenteil. Denn es interessiert die Struktur nicht die Bohne, wer sich ihrer bedient, mit welchen Intentionen man sie nutzt und mit welchen Inhalten sie befüllt wird. Das vergessen – zum Beispiel – gerne die, die gleich aufschreien, wenn man es wagt, „Propaganda“ und „Public Relations“ in einem Satz zu nennen. Dabei sollte diese Erkenntnis einen lediglich für die Chancen, aber eben auch für die Gefahren sensibilisieren, die in einer gleichartigen Struktur stecken. Und eine wesentliche Erkenntnis lautet nun mal: Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe. Wenn GAFA – also Google, Amazon, Facebook, Apple – all überall Daten sammelt, so kann und muss man das auch kritisch sehen. Nichtsdestotrotz ist das, was da geschieht, rein ökonomisch getrieben und dient allein dazu, den gläsernen Verbraucher zu erschaffen. Wenn sich jedoch Staaten des gleichen Mechanismus bedienen und Daten sammeln, so steckt eine gänzlich andere Intention dahinter: Sie wollen den gläsernen Bürger. Und das sicher nicht aus rein ökonomischen Gründen.

Ganz ähnlich verhält es sich im journalistischen Kontext. Strukturell ist das, was die Autoren der „Jungen Freiheit“ tun, nichts anderes als das, was die Autoren der „Zeit“ oder „FAZ“ tun. Oder eben auch das, was mittlerweile ganze Heerscharen von Journalisten im Content Marketing generieren. Erstere sind jedoch nicht an einer kritisch abwägenden, ausgewogenen Berichterstattung interessiert. Sie verfolgen, anders als plumpe Propagandisten, die auf ein schlichtes Niveau und redundante und penetrante Wiederholung ewig gleicher Parolen setzen, sehr subtil, zielgerichtet und konsequent einen Kurs, der auf die systematische Verfestigung eines bestimmten Weltbildes bei den Lesern gerichtet ist – eine Intention, die so rein gar nichts mit dem Fixpunkt des journalistischen Leitbilds zu hat: Unabhängigkeit. Wo diese Autoren einem ideologischen Weltbild verhaftet sind, fühlen sich jene der derzeit so übel diffamierten „Lügenpresse“ einem kulturellen Auftrag verpflichtet. Ob dieser immer zur vollsten Zufriedenheit erledigt wird, steht auf einem anderen Blatt. Aber die Intention ist da. Und im Content Marketing? Da stellen Journalisten ihre qualitativ hochwertigen Erzeugnisse als relevante Inhalte für eine definierte Interessenszielgruppe in den Dienst einer ökonomischen Sache – eines Produktes, einer Marke, eines Unternehmens: Sie sprechen den Leser als Leser an, der hier aber de facto Verbraucher resp. Kunde ist. Unabhängig sind diese Autoren sicherlich nicht mehr, aber zumindest so seriös wie jeder andere Werbetreibende auch. Jedenfalls solange, wie sie sich dessen bewusst sind, dass sie zwar strukturell journalistisch arbeiten, aber nicht mehr intentional.

Mag sein, dass viele an dieser Stelle murren und sagen: Was soll das, weiß ich doch längst alles. Aber – etwas wissen und sich einer Sache in dem Augenblick bewusst sein, in dem man sie tut: Das sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Zum einen. Zum anderen: Wer aus der Generation derer, die jetzt gerade in die BWL-Studiengänge, die Hochschulen für Design, in die Texterschmieden und Miami Ad School strömt oder sie verlässt, weiß das? Absolventen der PR-Studiengänge, der Medien- und Kommunikationswissenschaften vielleicht. Aber der überwiegende Teil derer, der ganz am Anfang seiner Karriere steht, wird beim Anblick Trojanischer Pferde wohl eher die großartigen Perspektiven vor Augen haben und sich angesichts dessen kaum selbstkritisch die manipulatorischen Einsatzmöglichkeiten seiner Fähigkeiten vor Augen halten bzw. halten wollen.

Dabei könnte uns, gerade in Zeiten eines auseinanderdriftenden Europas, wo wieder einmal längst überwunden geglaubte Ansichten und Agitatoren Oberwasser gewinnen, etwas historisches Fachwissen, ein ausgeprägtes Bewusstsein und gewisse analytische Fähigkeiten nicht schaden. Es relativiert den Glauben an die vermeintliche Neuartigkeit dessen, was man tut. Sensibilisiert einen für potentielle Schattenseiten seiner Arbeit. Und immunisiert im Idealfall dagegen, dass man sich morgen zum Büttel derjenigen macht, über die man heute noch lacht.

 

 

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Essays von Stefan Oehm, KUNO 2020

Die Essays von Stefan Oehm auf KUNO kann man als eine Reihe von Versuchsanordnungen betrachten, sie sind undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Er betrachtet diese Art des Textens als Medium und Movens der Reflektion in einer Zeit, die einem bekannten Diktum zufolge ohne verbindliche Meta-Erzählungen auskommt. Der Essay ist ein Forum des Denkens nach der großen Theorie und schon gar nach den großen Ideologien und Antagonismen, die das letzte Jahrhundert beherrscht haben. Auf die offene Form, die der Essayist bespielen muss, damit dieser immer wieder neu entstehende „integrale Prozesscharakter von Denken und Schreiben“ auf der „Bühne der Schrift“ in Gang gesetzt werden kann, verweist der Literaturwissenschaftler Christian Schärf. Im Essay geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend.