Die erhellenden Ansichten eines gewissen Herrn Hitler

 

Über Adolf Hitler wird man vermutlich alles Schlechte dieser Welt sagen können. Und die Wahrscheinlichkeit ist recht groß, dass man mit kaum einer dieser Aussagen völlig daneben liegt. Aber eines muss man dem Gröfatzke, bei allem Widerwillen, zugute halten:

In geradezu entwaffnender Ehrlichkeit und schonungsloser Offenheit hat er in öder Landsberger Festungshaft seine eigenwillige Interpretation der Weltgeschichte, seine Wert- und Wahnvorstellungen, Ideale und Endziele formuliert. Er legte in aller Ausführlichkeit dar, worin er die Ursache allen Übels sah. Und wie er vorzugehen gedachte, um diese endlösend zu tilgen vom Angesicht dieser Erde.

Mit Niederschrift der nationalsozialistischen Bibel „Mein Kampf“ 1924/25 war Hitler für alle, die es hätten wissen wollen, wie ein offenes Buch. Auch für die Masse der arischen Herrenrasse, die in ihm, in pathetisch überhöhter, heilsgewisser und pseudoreligiöser Verehrung, ihren Führer, ja: Erlöser sah. Eine nur halbwegs aufmerksame Lektüre hätte ausgereicht, um zu erfahren, was Hitler von der Masse hielt: nichts.

Es ist, auch zum strukturellen Verständnis heutiger Ereignisse, höchst lehrreich zu erfahren, warum Hitler seine Botschaften so eindimensional anlegte. Sein Credo: Schlichte Botschaften fürs schlichte Volk – das sichert den Erfolg bei den Massen. Oder um es mit seinen eigenen Worten zu sagen:

„Jede Propaganda hat volkstümlich zu sein und ihr geistiges Niveau einzustellen nach der Aufnahmefähigkeit des Beschränktesten unter denen, an die sie sich zu richten hat … Damit wird ihre rein geistige Höhe um so tiefer zu stellen sein, je größer die zu erfassende Masse der Menschen sein soll.

Adolf Hitler, Mein Kampf , Kap. Kriegspropaganda (1925)

Erfolgreich kann Propaganda nur sein, wenn sie ein redundanter und penetranter Appell „an die weniger gebildete Masse“ ist. Sie hat sich in ihrem Wirken „immer mehr auf das Gefühl“ und „die gefühlsmäßige Vorstellungswelt“ zu richten, aber „nur sehr bedingt auf den sogenannten Verstand“. Dabei „kann die Vorsicht bei der Vermeidung zu hoher geistiger Voraussetzungen gar nicht groß genug sein“.

Für wie minderbemittelt muss der geliebte Führer seine Herrenrasse zur Gänze gehalten haben, dass er so abschätzig von ihrem geistigen Potenzial sprach? Oder war es vielleicht die Angst davor, dass eine intellektuell etwas anspruchsvollere Propaganda bei seinen Ariern womöglich nicht niedere Instinkte angesprochen, sondern sie kontraproduktiv ins Grübeln gebracht hätte?

So oder so: Es spricht Bände, dass Hitler seinem Volk nur Propaganda auf unterstem geistigen Niveau zumutete: „Die Aufnahmefähigkeit der großen Masse ist nur sehr beschränkt, das Verständnis klein, dafür aber die Vergesslichkeit groß“.

Propaganda hat sich eben deshalb „auf wenig zu beschränken und dieses ewig zu wiederholen“, sie hat diese Punkte „schlagwortartig zu verwerten, bis auch bestimmt der Letzte unter einem solchen Worte das Gewollte sich vorzustellen vermag“. Redundanz und Penetranz, das Mantra der Massensuggestion.

Das Gewollte“, so Hitler, darf dabei nicht etwas sein, was den Gegner lächerlich macht. Nein. Es muss ein apokalyptisches Schreckensszenario gezeichnet werden, das diffuse Ängste auslöst, eine irrationale Bedrohung darstellt, die in eine „grundsätzlich subjektiv einseitige Stellungnahme“ mündet. Denn Propaganda hat eben nicht „objektiv auch die Wahrheit … zu erforschen, um sie dann der Masse in doktrinären Aufrichtigkeit vorzusetzen“.

Ganz im Gegenteil: Nicht ‚doktrinär aufrichtig’ hat Propaganda zu sein, sondern indoktrinär parteiisch, einseitig und hemmungslos subjektiv. Und so „ununterbrochen der eigenen (Wahrheit) zu dienen“. Auf gut Deutsch: Die Masse hat in bewusster Einseitigkeit systematisch und stereotyp manipuliert zu werden, um die finale Durchsetzung der ‚eigenen Wahrheit’ zu erreichen.

Es darf also kein Zweifel bestehen, wer die Deutungshoheit hat. Und damit, wer entscheidet, was wahr ist: Die Wahrheit ist immer genau das, was die Machtelite als Wahrheit definiert. Und allen oktroyiert. Übrigens auch der Masse des deutschen vulgo arischen Volkes:

Die Masse ist nicht in der Lage, nun zu unterscheiden, wo das fremde Unrecht endet und das eigene beginnt“.

Man darf der tumben Masse bloß nicht zu viel verschiedene Eindrücke oder Gedanken zumuten, alles muss so einfach wie das Volk gestrickt sein: Denn der „in seiner überwiegenden Mehrheit so feminin“ veranlagte Arier, sein ganzes Denken und Handeln wird allein bestimmt durch die „Primitivität der Empfindung“. Der ‚feminin veranlagte Arier’. Soso.

Propaganda nutzt stereotype Argumentationsmuster. Animalische Reiz-/ Reaktionsschemata. Schlichte Denk- und Entscheidungsstrukturen. Gut vs. böse. Wahrheit vs. Lüge. Recht vs. Unrecht. Positiv vs. negativ. Wir vs. ihr. Mit großer Beharrlichkeit hat man der „feminin“ konstituierten und geistig limitierten arischen Herrenmasse, die zudem noch an dem typisch deutschen „Objektivitätsfimmel“ leidet, mit „einer tausendfachen Wiederholung einfachster Begriffe“ den ewig gleichen Inhalt bis in die letzten Windungen ihres archaischen Reptilienhirns zu hämmern.

Solange, bis endlich die Trägheit der Masse überwunden ist und diese unbesehen all das glaubt, was man ihr vorsetzt. Und sei es die Unwahrheit. Der größte Unfug. Oder eben auch das größte nur vorstellbare Unrecht.

„Wer dich veranlassen kann, Absurditäten zu glauben, der kann dich auch veranlassen, Unrecht zu begehen.“ 
Voltaire, Questions sur les miracles, 11. Brief (1765)

Um einzusehen, dass diese wirkmächtige Struktur durchaus kein historischer Einzelfall ist, genügt bereits ein flüchtiger Blick in die diversen Foren asozialer Medien. In unschöner Tradition werden auch hier diese so eingängigen wie simplifizierenden Gegensätze gepredigt. Wir vs. ihr. Deutsch vs. undeutsch. Fleißige Hände vs. schmarotzende Gutmenschen. Es geht einzig um simple Freund-Feind-Schemata für die simple Masse.

Von Belang ist nicht, was der Andere sagt oder denkt. Ob er Recht hat oder Unrecht. Von Belang ist einzig, dass der Andere als ‚der Andere’ definiert wird. Als ‚Keiner von uns’. Als Außenseiter. Ausgegrenzter. Fremder. Als Bedrohung, die klar benannt werden kann: Wir sind das Volk – ihr seid die Bedrohung.

Wir: Das ist die Solidargemeinschaft der Bedrohten und Verängstigten. Und ihre irrationale, diffuse Angst vor der subjektiv als real empfundenen Bedrohung ist nichts anderes als das eiserne Band, das sie zusammenschweißt: In einer Zeit des Traumas, der Unsicherheit und Orientierungslosigkeit erhebt sich Phoenix gleich ein neues völkisches Gemeinschaftsgefühl aus der Asche der Geschichte.

Eine erwachende Identität, die, vice versa, die ‚Anderen’ ausgrenzt. Mit dieser neu entstandenen Zugehörigkeit gibt es endlich wieder, zumindest in der subjektiven Wahrnehmung, klare, geordnete Verhältnisse. Sie geben dem ‚Wir’ einen festen archimedischen Punkt, um ihre Welt, die für sie aus den Fugen zu geraten scheint, im Sinne dieser Solidargemeinschaft aus den Angeln zu heben.

Dazu werden ebenso diffuse Werte beschworen, auf die sie sich in weihevollen, quasireligiös gestimmten Demonstrationen gemeinsam einstimmen. Werte, die sich nicht ansatzweise rational begründen lassen. Was aber auch überhaupt nicht nötig ist. Hauptsache, sie schaffen eine tiefe, innere Verbundenheit. Eine intuitive Übereinkunft der Verängstigten.

Da lässt sich jede noch so absurde Ansicht glaubwürdig vertreten. Denn sie ist ja, siehe oben, die ‚eigene Wahrheit’. Ich mach mir die Welt widdewidde wie sie mir gefällt. Das allein reicht. Auch denen, die diffuse Ängste, Vorstellungen und Werte zu ihren Zwecken instrumentalisieren wollen. Denn je diffuser, desto besser. Weil ungenauer. Unklarer. Und Unklarheit ist ein herrlicher Tummelplatz für alle möglichen Interpretationen, die dann die neuen Heilsbringer einer erwachenden nationalkonservativen Bewegung, je nach Gusto oder situativer Erfordernis, flugs aus dem Hut zaubern können.

Klarheit hingegen hieße Aufklärung. Und Aufklärung motiviert zum Zweifel. Zweifel ist aber per se machtzersetzend. Autoritätszermürbend. Dysfunktional. Sand im Getriebe. Denn er hat die Kraft, Prämissen in Frage zu stellen, die doch das feste Fundament für eine neue Ordnung sein sollen.

Somit wirkt Klarheit, zumindest für die Vertreter unserer neuen deutschen Schicksals-, Volks- und Wertegemeinschaft, potentiell destabilisierend, wohingegen irrationale, diffuse Ängste das fragile System stabilisieren. Verständlich, dass ihre größte Angst die ist, dass ihnen ihre diffusen Ängste genommen werden. Sie sind der Strohhalm, an dem sie sich klammern können: ihr verbindendes, identitätsstiftendes Element.

Damit einher geht ein befriedigendes Gefühl von Zugehörigkeit und Orientierung in orientierungsloser Zeit. Es immunisiert zuverlässig gegen alle rationalen Argumente. Auch wenn die Bedrohung, wie die muslimische Überfremdung in Sachsen, Polen oder Ungarn, objektiv irreal ist, wird sie doch von ihnen subjektiv als unmittelbare, reale Bedrohung empfunden. Und damit ist sie eine Bedrohung.

Die Differenz zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiver Realität. Dieses Phänomen haben die amerikanischen Soziologen Dorothy Thomas und William Thomas bereits 1928 beschrieben – sinniger Weise am Beispiel paranoiden Verhaltens: „Wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich.“


Geradezu idealtypisch funktioniert dieser Mechanismus, wie der amerikanische Soziologe Robert Merton zeigte, bei sozialen Vorurteilen: Angenommen, ich behaupte, muslimische Flüchtlinge sind eine Bedrohung für den sozialen Frieden und die Lebensqualität. Ganz egal, ob diese Behauptung nun objektiv begründet ist oder nicht – sie mündet unweigerlich in der Forderung, muslimische Flüchtlinge vor Ort auszuschließen, sie auszugrenzen, ihnen jegliche Integrationsmöglichkeit zu verwehren.

Die Folge sind fast zwangsläufig verstärkte soziale Konflikte, auch innerhalb der Gruppe der Flüchtlinge. Im Extremfall werden diese zu genau dem, was prognostiziert wurde: zu einer Bedrohung für den sozialen Frieden und der Lebensqualität. Resultat ist die Prophezeiung, die sich selbst erfüllt.

Durch die Zugehörigkeit zu einer Wertegemeinschaft, die diese irreale Bedrohung als ebenso als real empfindet, fühlt man sich solidarisch eingebettet. Und was alle Mitglieder dieser Wertegemeinschaft, der ja die alleinige Deutungshoheit zukommt, empfinden, wird als die Wahrheit wahrgenommen.

Das enthebt den Einzelnen vollständig von der Notwendigkeit zur Rechtfertigung seiner objektiv kruden Ansichten. Und vermittelt ihm die subjektive Gewissheit, nicht nur im Recht zu sein. Sondern auch in allen Punkten recht zu haben. Keine Spur mehr von irgendwelchen störenden kognitiven Dissonanzen. Endlich wieder heile Welt.

Eben deshalb ist jeder Diskurs mit exponierten Vertretern der NPD, der Pegida-Bewegung und der AfD nicht nur schwierig, sondern notwendigerweise zum Scheitern verurteilt. Ein solcher Diskurs würde die prinzipielle Bereitschaft voraussetzen, den eigenen Standpunkt in Frage zu stellen und ihn gegebenenfalls zu revidieren. Aber genau das ist es ja, was a priori ausgeschlossen ist. Denn es hieße, die alleinige Deutungshoheit aufzugeben, die ‚eigene Wahrheit’ nicht mehr als alleinige Wahrheit zu definieren.

Damit würde man das Risiko eingehen, das mühsam geschmiedete Band der neuen Volks- und Wertegemeinschaft auf eine Zerreißprobe zu stellen. Aber genau das gilt es ja zu verhindern. Unter allen Umständen. Gegen alle Widerstände. Vielleicht sogar mit allen Mitteln. Wer weiß.

 

 

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Essays von Stefan Oehm, KUNO 2013

Die Essays von Stefan Oehm auf KUNO kann man als eine Reihe von Versuchsanordnungen betrachten, sie sind undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Er betrachtet diese Art des Textens als Medium und Movens der Reflektion in einer Zeit, die einem bekannten Diktum zufolge ohne verbindliche Meta-Erzählungen auskommt. Der Essay ist ein Forum des Denkens nach der großen Theorie und schon gar nach den großen Ideologien und Antagonismen, die das letzte Jahrhundert beherrscht haben. Auf die offene Form, die der Essayist bespielen muss, damit dieser immer wieder neu entstehende „integrale Prozesscharakter von Denken und Schreiben“ auf der „Bühne der Schrift“ in Gang gesetzt werden kann, verweist der Literaturwissenschaftler Christian Schärf. Im Essay geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend.