Die Diebischen

 

Der Ruhrradwanderweg kann inzwischen, da er immer weiter ausgebaut wird, immer besser von der Quelle bis nach Duisburg befahren werden. Dabei sind verschiedenste Entwicklungsstufen und Landschaftsformen zu entdecken. So wurden in den vergangen fünf Jahren die Bereiche im Raum Arnsberg renaturiert. An anderen Stellen sieht man noch den begradigten Fluss, Werk der fünfziger bis achtziger Jahre. Wieder andere waren nie vergewaltigt worden. Naturbelassen schlängelte sich das Gewässer hier durch die Landschaft. Herr Nipp fuhr diese Strecke immer wieder gerne. Ließ sich mal rollen, an anderen Stellen musste er feste in die Pedale treten, weil durchaus auch mal Hindernisse in Form von Hügeln zu überwinden waren. Neuerdings hatte er in Höhe Neheim einige Kunstwerke entdeckt, besonders bemerkenswert dabei eine Steininstallation flussabwärts hundertfünfzig Meter nach einem Café mit Ruhrblick. Der Künstler Yanic Rossmann hatte sie ganz neckisch mit der typisch sauerländisch anmutenden Wortneuschöpfung „Getriersel“ versehen. Ein Name, der trifft, wie die Faust auf das eh schon blaue Auge. Eine Steinspirale, die eckig ist, wie die Steine. Kantig wie die Sauerländer. Hier kann man anhalten, die Eltern setzen sich gerne auf die nahegelegen Bank und plauschen, während die Kinder mit Heidenspaß die immer größer werdenden Steine spiralförmig erklimmen. Ganz stolz stehen sie irgendwann auf dem höchsten Stein und haben plötzlich einen anderen Blickwinkel auf die Landschaft. Auch Erwachsene wurden schon dabei beobachtet, wie sie diese unerwartete Möglichkeit der Betätigung nutzten. Herr Nipp hatte vor nicht allzu langer Zeit auch zwei nett anzublickende Mittvierzigerinnen mit breitem Lachen dort oben erspäht. Sich gegenseitig festhaltend, wie zwei Mädchen.

Heute aber wollte er noch bis Haus Füchten kommen, er hatte von einem Freund erfahren, dass dort in den Ruhrwiesen über 250 Gänse kampierten, neben Kanadagänsen auch Graugänse, ein unglaubliches Bild musste dies sein. Zwischen der Mündung der Möhne und eben jenem alten hochherrschaftlichen Gebäude, das seit Jahren wohl renoviert wurde, allerdings nie zu einem Ende kam, führt die Strecke nur wenige Meter neben der Autobahn vorbei. Trotz der Geräuschkulisse ist hier jeden Sonntag Hochverkehr. Dann müssen sich die Spaziergänger in Acht nehmen, weil von hinten in rasender Geschwindigkeit auch Fahrradrowdies ihr Unwesen treiben. Meist Männer mit grimmigen Gesichtern, eingepfercht oder verschweißt (wie doppelsinnig) in Fahrradanzüge aus Polyester. Funktionskleidung, die aussieht, als seien diese Herren der Mittsechzigergeneration gerade einem Superheldenfilm der Siebzigerjahre entsprungen. Nörgelnd radeln sie an den Gehern vorbei, die das Wagnis eingehen, nebeneinander ihren Weg zu machen. Kurz hinter jener Flussmündung, auch Ruhr-Möhne-Eck geheißen, findet sich im Autolärm eine Bank zum Verweilen. Neben dieser steht der obligatorische Mülleimer. Als Herr Nipp sich in mäßigem Tempo näherte, vernahm er das Schimpfen und Krakeelen eines Kurzstreckenwanderers. Man kennt sie fast schon gar nicht mehr. Klassisch mit Stabelstock bewaffnet hatte er sich auf Schusters Rappen begeben. Verdauungsgang. Diese Spezies ist in den letzten Jahren von den sogenannten Stockenten verdrängt worden. Meist in kleinen Rudeln auftretenden Semi – Sportgehern mit zwei schrecklich klackenden Stöcken. „So eine Sauerei. Die Jugend von heute hat überhaupt keine Manieren. Jetzt steht hier schon ein Mülleimer und dann schmeißen die alles daneben. Schweinehunde und Saukerle das.“ Tatsächlich sah es nicht besonders gepflegt um dieses Gefäß herum aus. Papier und Verpackungsreste hatten sich dort gleichmäßig verteilt. „Da will man sich mal in Gottes schöne Natur setzen und dann so was. Die sollten sie mal zur Strafarbeit schicken, einen ganzen Monat lang oder noch mehr. Ja, damals wäre das nicht passiert. “ Er fühlte sich gemüßigt die Verdreckung zu beseitigen. Lobenswert. Spießte jedes einzelne Teil mit der Stabelstockspitze auf und streifte die Beute vorsichtig, aber gezielt ab. Herr Nipp hatte abgebremst, tat so, als blicke er auf die an dieser Stelle sehr langweilige, weil begradigte Ruhr und schaute sich das Schauspiel an. Amüsiert, denn er wusste, was passieren würde. Hatte es schon häufiger beobachtet. Nach gut drei Minuten hatte der Mann (grüne Lodenjacke, Hut und Rauhaardackel an der Leine) seine selbst gewählte Aufgabe vor sich hin motzend beendet. Er setzte sich jedoch nicht auf die Bank nieder, sondern entfernte sich ruhrabwärts. Kaum hatte er sich zehn Meter vom Tatort entfernt, stürzten zwei Elstern aus den nahegelegenen Büschen zum Mülleimer herab und zupften geschickt die Verpackungen wieder heraus. Auf der Suche nach Nahrung. Herr Nipp hätte das Gesicht des Mannes bei seiner Wiederkehr sehr gerne gesehen.

   

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421