Amerika

 

Als der sechzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafenvon New York einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mitdem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte. »So hoch!« sagte er sich und wurde, wie er so gar nicht an das Weggehendachte, von der immer mehr anschwellenden Menge der Gepäckträger, die an ihmvorüberzogen, allmählich bis an das Bordgeländer geschoben. Ein junger Mann, mit dem er während der Fahrt flüchtig bekannt geworden war, sagte im Vorübergehen: »Ja, haben Sie denn noch keine Lust, auszusteigen?« »Ich bin doch fertig«, sagte Karl, ihn anlachend, und hob aus Übermut, und weil erein starker Junge war, seinen Koffer auf die Achsel. Aber wie er über seinen Bekannten hinsah, der ein wenig seinen Stock schwenkend sich schon mit denandern entfernte, merkte er bestürzt, daß er seinen eigenen Regenschirm unten im Schiff vergessen hatte. Er bat schnell den Bekannten, der nicht sehr beglücktschien, um die Freundlichkeit, bei seinem Koffer einen Augenblick zu warten, überblickte noch die Situation, um sich bei der Rückkehr zurechtzufinden, und eilte davon. Unten fand er zu seinem Bedauern einen Gang, der seinen Weg sehr verkürzt hätte, zum erstenmal versperrt, was wahrscheinlich mit der Ausschiffung sämtlicher Passagiere zusammenhing, und mußte Treppen, die einander immer wieder folgten, durch fortwährend abbiegende Korridore, durch ein leeres Zimmermit einem verlassenen Schreibtisch mühselig suchen, bis er sich tatsächlich, da erdiesen Weg nur ein- oder zweimal und immer in größerer Gesellschaft gegangen war, ganz und gar verirrt hatte. In seiner Ratlosigkeit und da er keinen Menschentraf und nur immerfort über sich das Scharren der tausend Menschenfüße hörte undvon der Ferne, wie einen Hauch, das letzte Arbeiten der schon eingestellten Maschinen merkte, fing er, ohne zu überlegen, an eine beliebige kleine Tür zuschlagen an, bei der er in seinem Herumirren stockte.

 

 

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„Einen ‚amerikanischen Roman‘ nannte Franz Kafka die Geschichte des 16-jährigen Karl Roßmann, der von seinen Eltern nach Amerika geschickt wird, weil ihn ein Dienstmädchen verführte und ein Kind von ihm bekam. Roßmanns Bemühungen, sich in der Zivilisation der ‚Neuen Welt‘ mit ihren rationalisierten Arbeitsmethoden zurechtzufinden und sich im Konkurrenzkampf gegen ungerechte Behandlungen und Übervorteilungen zu behaupten, schlagen immer wieder fehl. Erst als er sich beim ‚Naturtheater von Oklahoma‘ bewirbt, das allen Menschen Beschäftigung bietet, die ‚Künstler‘ werden wollen, scheint sich eine Lösung abzuzeichnen, die ihn aus dem erlebten System von Abhängigkeiten befreit. Fremdheit und Isoliertheit mitten unter den Menschen sind das Grundthema in diesem Romanfragment, das Kafka in den Tagebüchern Der Verschollene nennt. Amerika unterscheidet sich von den anderen Kafka-Romanen Der Prozess und Das Schloss aber durch seinen positiveren, offeneren Schluss. ‚Kafka war sich bewusst und hob es gesprächsweise öfters hervor, dass dieser Roman hoffnungsfreudiger und ‚lichter‘ sei als alles, was er sonst geschrieben hat‘, notiert Max Brod, Herausgeber der Werke Kafkas, in seinem Nachwort zur Erstausgabe. Und weiter: ‚Es gibt Szenen in diesem Buch …, die unwiderstehlich an Chaplin-Filme erinnern.‘

Weiterführend → Bereits zum zehnten Todestag erkannte Walter Benjamin die Bedeutung dieses Autors.

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