Die bisher unerzählte oder unerzählbare Geschichte vom Reichen des Wassers

 

Diese Geschichte ist zu unwahrscheinlich, um wahr zu sein. Sie konnte sich so nicht ereignen. Aber sie ist in ihrem Kern genauso wahr wie jede andere kleine Geschichte der großen Geschichte, die wir erleben oder schon erlebt haben. Keine Geschichte hat sich so ereignet, wie sie erzählt wird. Alle Geschichten werden falsch, wenn sie erzählt werden. Sind die unerzählten deswegen wahrer? Schwer zu sagen. Man müsste die unerzählten Geschichten erzählen. Dann haben wir noch mehr unwahre Geschichten. Aber andere Geschichten gibt es gar nicht. Wir brauchen alle eine Geschichte, ohne Geschichte existieren wir nicht richtig. Erst wenn wir uns unsere Geschichte erzählen, verstehen wir uns. Mit jeder Geschichte, die wir erzählen, erschaffen wir uns. Stück für Stück erfinden wir uns in unseren Geschichten, oder wir finden uns in fremden Geschichten wieder. Wir lügen nicht immer absichtlich, wenn wir unsere Geschichten erzählen. Am meisten lügen wir im Interesse der Kunst oder der Wahrheit, was fast dasselbe ist. Wir wissen, unsere Geschichte wird umso durchschaubarer, je mehr wir lügen. Und so werden auch die vollkommen erfundenen Geschichten auf wunderbare Weise wahr. Vielleicht wird die schlimmste Lügengeschichte wieder wahr, wenn wir sie richtig lesen.

So eine Geschichte ist das hier auch. Sie hat sich nie ereignet, aber sie kann schon morgen so geschehen, wie sie hier erzählt wird. Vielleicht nicht bei dir. Aber vielleicht bei einem Anderen. Und nicht unbedingt morgen. Vielleicht hat sie sich schon ereignet, und wir wissen es nur nicht, weil sie keiner erzählt hat. Sie hat sich ganz woanders zugetragen, sie ist erzählt worden, aber wir kennen die Geschichte nicht. Oder keiner wollte diese Geschichte verraten. Daher sind die unerzählten Geschichten, die nicht verraten und doch noch erzählt werden, erratene Geschichten.

So eine Geschichte ist diese Geschichte.

Schon der Titel der Geschichte, von der wir nicht viel wissen, ist unklar. Was ist mit dem Reichen des Wassers gemeint? Verdurstete jemand? Oder ging es um die Art, wie einer dem anderen Wasser gab? Ging es vielleicht darum, ob einer dem anderen Wasser reichen konnte? Lassen wir das Wasser weg. Konnte der eine dem anderen irgendetwas reichen oder nicht? Was war es? Nahm der eine oder andere es an? Und was brachte es ihm? – Fragen über Fragen! Lauter Möglichkeiten! Das ist der Stoff der Geschichte.

Hier sind die Fakten. Die älteste Quelle, eine Handschrift aus El Fajum, erzählt: „Der ägyptische Schriftgelehrte Cha-ûz’ki, der in der Mitte seines Lebens erkannte, dass weder seine Schüler noch die denkende Elite der Gesellschaft ein wirkliches Interesse an der Philosophie hatten, sodass ihm sein Leben unter Menschen immer schwerer fiel, verließ eines Tages sein Kairoer Haus mit den Worten: Ich gehe in die Wüste, vielleicht finde ich dort Menschen. Die Verwandten und Nachbarn warnten Cha-ûz’ki vor einer solchen Reise ins Ungewisse: Du kennst dich dort nicht aus. Die Sonne dreht sich um dich, Sand weht dir in die Augen, die Nacht ist kalt. Du gehst in dein Grab. Ich weiß, sagte Cha-ûz’ki, aber wenn ich einen Menschen finde, hat sich meine Reise gelohnt. Du findest keinen Menschen, wenn du den Weg verlierst. In der Wüste ist es nicht anders als hier. [Die vordergründige Absicht solchen Philosophierens liegt auf der Hand: Sie wollten nicht ihn retten, sondern nur ihre arme Sicht der Dinge und ihre bequeme Lebensart.] Cha-ûz’ki ritt auf einem Kamel in die Libysche Wüste hinein. Er war für die Nacht gerüstet. Die Wasserschläuche reichten für drei Wochen. Und wenn ich nur einen finde, der so reist wie ich!, sagte Cha-ûz’ki noch einmal beim Abschied. Die ersten Tage in der Wüste empfand er als Befreiung. Er liebte die Einsamkeit. Ich brauche keine Menschen, sagte er sich, die Menschen verletzen mich nur, hier bin ich glücklich. Er spürte die Vermessenheit seines Hochgefühls. Bin ich der Mensch, den ich suche? Ich bin nicht besser als die anderen! Dann sagte er laut: Ich reiche mir selber das Wasser! [Es folgt ein unlesbares Textstück.] Cha-ûz’ki wusste nicht, wo er sich befand. Seit Tagen waren die Schläuche leer. Das Kamel wurde immer leichter. Er ritt in halben Kreisen um sich selbst. Die Zeit verging, ohne dass er einen Menschen traf. Ich bin ein Schiffbrüchiger, schrieb er, den Sand kann ich nicht trinken. Er legte sich schlafen, in der Nacht träumte er nichts. Als er am Morgen aufwachte, stand die Sonne noch halb im Sand.“ Hier endet die Quelle.

In einer nubischen Handschrift, in der die Geschichte ähnlich, wie eine Legende, aber viel kürzer erzählt wird, heißt es: „In der letzten Nacht konnte Cha-ûz’ki nicht einschlafen, er hatte Angst vor düsteren Träumen. Er ritt in der Nacht zum Mond, der am Morgen tief in die Sonne eintauchte. Cha-ûz’ki fiel beim ersten Strahl der Sonne, die aus dem Sand stieg [hier wird die Nähe zur ersten Quelle deutlich], erschöpft vom Pferd [?].“

In einer anderen Quelle, die in Turah, am rechten Ufer des Nils, etwa zehn Kilometer südlich des alten Kairo, gefunden wurde, steht, wenn man will, die Fortsetzung:   „Cha-ûz’ki kroch auf allen Vieren die letzten Meter zum Kamm der Sanddüne hoch. Er hat noch das Wasser des Nils gesehen, ehe seine Augen brachen. Keiner weiß, was er in diesem Moment dachte.“

Der Schluss der Handschrift aus El-Gizeh lautet: „Wir fanden den Philosophen Cha-ûz’ki am Fuße der Großen Pyramide im Staub der Morgensonne. Er war ganz allein und schlief mit offenen Augen, die den Nachtmond nicht loslassen wollten, in sein neues Leben hinein. Als er erwachte, sagte er: Ich habe einen Menschen gefunden. Cha-ûz’ki begründete eine Philosophie der Tat. Er setzte sein Leben aufs Spiel, um zu beweisen, dass wir uns selbst finden können, wenn wir uns wirklich suchen.“  [Die Fälschung ins Gegenteil ist immer die leichteste.]

Am linken Ufer des Nils, in Schabramant, unweit der Pyramiden von Gizeh, fanden sich vor wenigen Jahren Fragmente mit einer ganz anderen Sichtweise. Dort liest man folgenden Schluss: „Cha-ûz’ki sah die Sonne nicht mehr, als er aus seinem Traum erwachte. Er lag unter den Palmen am Ufer des Bahr el-Libeini, als man ihn entdeckte. Als er die Sprache wiedergefunden hatte, waren seine ersten Worte: Niemand konnte mir das Wasser reichen.“ [Diese Quelle schließt sich motivisch an die älteste Handschrift aus El-Fajum an.]

Die Wahrheit bleibt verborgen. Nur so viel steht fest: Die Quellen, nach denen der Schriftgelehrte Cha-ûz’ki das philosophische Abenteuer seiner Menschensuche überlebt, obwohl [oder weil?] sie scheitert, überwiegen.

 

 

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Leseprobe aus: Morgen-Land, ein Themenheft des Dichtungsrings # 55.

Heute präsentiert das Kultur-Café im MIGRApolis-Haus der Vielfalt (53111 Bonn, Brüdergasse 16-18) die neue Ausgabe der Literaturzeitschrift DICHTUNGSRING. Die Veranstaltung beginnt um 11:30 Uhr. Dr. Hıdır Çelik wird die Gäste begrüßen, durch die Matinee führen Franz Hofner und Ulrich Bergmann. Der Eintritt ist frei.

 

Weiterführend → 

Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. Lesen Sie zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper gleichfalls einen Essay von Holger Benkel.