Schläuchmaschin

„Drei Tage später drangen spielende Kinder in das Schwimmbad ein und fanden die Schnapsleichen auf dem Betonboden des tiefen Beckens, die Augen ins Blut gerollt. Bei einem der drei Männer steckte das Mundstück der Schläuchmaschin im zerschmetterten Kopf.“ (4. Mai)

Der Chef war zufrieden, als Raffa sein Gesellenstück aus der Hosentasche zog. Zwei ineinander gesteckte Plastikschläuche. Eins der drei Enden wird auf den Hals einer Flasche gestülpt, das entgegengesetzte Ende, das Mundstück, zwischen die Zähne gesteckt, der Daumen hält das Luftloch zu, bis alles sitzt. Dann lässt der Daumen los, der halbe Liter stürzt nach unten, die Luft pfeift seitlich raus, das Bier kriegt Fahrt und schießt in den Rachen („Turbo“). „Der Winkel muss stimmen“, sagte der Chef, „die Flasche muss stehen, Hals unten, das ganze System muss fest sein. Und was noch?“ „Kopf hoch und Augen zu!“, sagte Raffa. „Genau.“ Lanski nahm die Schläuchmaschin in die Hand und prüfte den Widerstand des transparenten Materials. „Und was noch?“, fragte er. „Du musst den Mond über der Stirn fühlen“, sagte Raffa. „Genau“, sagte Lanski. Der Chef hielt die Schläuche dicht vor seine Augen und prüfte die Fugen. „Ein Kunstwerk!“, sagte er anerkennend. „Und was noch?“ „Der G-Punkt“, sagte Raffa, „wenn der Mond aufgeht, im richtigen Moment loslassen, Mund auf, Daumen weg!“

Die Schläuchmaschin war die Zerschlagung des gordischen Knotens mit anderen Mitteln, dachte Raffa manchmal, nur ohne Schwert, das Ganze im Kopf, unten bewegt sich nichts, genial, der innere Abgang war bombig, Körper und Geist eine Einheit. Heute Morgen sprachen sie in Geschichte über Alexander den Großen. Ein Stratege an allen Fronten. Dem war kein Loch zu groß, dachte Raffa, der fand jedes Loch und steckte sich da rein, oben und unten. Wahrscheinlich hatte Alexander die Vision, der Indus ströme aus tausend Wodkaquellen, oder noch besser, er sei die Verflüssigung der schönsten Mädchen Indiens. Aber dann… der Winter in Samarkand… Klitus… mein Lebensretter… Schwarze Schläge pulsten durch seinen Kopf. Ich erschlage nicht meinen besten Freund im Rausch! Raffa vernetzte alle Stoffe der Welt. In Mathematik nahmen sie gerade das Gödelsche Band durch. Natürlich sah er in der Entstehung einer einzigen Ebene (bei  Drehung des Bandes um 180 Grad) die Mathematisierung des Gordischen Knotens, ein Bild für die Verschmelzung von Realität und Rausch, das Unendlichkeitssymbol als endgültige Formel für die Schläuchmaschin! Immer und immer trinken!, das ist die Lösung, sagte sich Raffa. „Funktioniert das Ding auch?“, fragte Lanski. „Klar!“, sagte Raffa, „die Flasch war weg wie nix!“

In der Nacht zum 1. Mai fand im Höhengebiet das Saufexamen der Junggesellen statt. Die 16-Jährigen hatten schon lange geübt, zwei Jahre, drei Jahre, aber darauf kam es gar nicht an. Es war völlig egal, wieviel einer vertrug. Heute ging es nur um die erste Stufe der Männlichkeit. Raffa kannte das alles schon aus eigener Anschauung. Heute Abend musste er trinken bis zum Erbrechen. Danach gingen sie mit Lanski über die Dörfer und stellten ihre Maibäume an die Fenster der Mädchen. Lanski war ein guter Chef, er machte den Job schon seit zwanzig Jahren. Er führte die Jungen hart aber gerecht in die lange Nacht der kontrollierten Trunkenheit, aus der er selber noch immer nicht auftauchen wollte. Er fühlte sich wohl in seiner Rolle. Keine Frau störte ihn in dieser Nacht, die er beherrschte wie kein anderer. Lanski war ein weit über die Grenzen des Höhengebiets hinaus bekannter Meister der Nacht. Er soff wie ein Fass ohne Boden, aber er verlor nie den Halt unter den Füßen. Er war ins Zentrum von Bier und Wodka vorgedrungen und kannte das Geheimnis des Korns. Je mehr er trank, umso klarer wurde sein Geist in der Nacht, die er zum Tag machte. Lanski war nicht frauenfeindlich oder anders herum gestrickt. Im Gegenteil. Die Frauen waren seine zweite Sucht, mit der er die erste rechtfertigte. Er nahm die Frau wie ein Glas Wasser zwischendurch. Vor dem Wasser müssen wir uns in Acht nehmen, sagte er immer wieder zu den Jungen, im Wasser ersäuft der Mann. Raffa hörte ihm gern zu, wenn er so redete. Die Frau war die schärfste Feindin des Biers, die will ich nicht trinken, ich will mich selber saufen. Er dachte die ganze Zeit nur an seine beiden Freunde, Tom und Jansen. Jansen war aus Frohngau, Tom aus Rohr. Sie wollten nach dem Aufstellen der Maibäume zu Raffa nach Nitterscheid kommen. Dann weiter mit den Mopeds zum Weißen Wald über der Steinbachtalsperre. Dort wollten die drei Jungen die Hauptprobe bestehen, an die Grenze der definitiven Betäubung gehen und sehen, was dahinter liegt. Schon oft hatten sie über den finalen Schluck diskutiert, die wahre Probe. „Der letzte Schluck ist immer der beste“, behauptete Jansen. Er liebte die Nacht so sehr, dass er den Tag hasste. Tom hielt dagegen, dass es besser sei, die lange Nacht aufzuteilen, damit man mehrere Nächte habe, um den Tag zu verachten. „Du musst die Nacht verdünnen, damit sie länger wird“, meinte er. Jansen sagte, diese Liebe sei nicht wirklich konsequent. Die Verdünnung der Nacht sei schon die Anerkennung des Tages, die Verwerfung des Glücks. Raffa hielt sich da raus, er sagte nichts, er stand aber mehr auf der Seite Toms und wollte sich neben den Nächten auch lieber noch eine Tür offen lassen. Vielleicht ist die Frau ja der allerbeste Stoff, mit dem ich mich vollknalle, um den Tag zu ertragen. Das war nur so eine verschwommene Ahnung, meist im Suff. Nüchtern sah er das Gegenteil, die Frau als Stoff für den Tag, langfristig die bittere Pille. Die drei Jünglinge setzten sich unter den Mond, der durch die Birkenäste in die Augen stach. Alles war längst beschlossen.

Jeder haute sich eine Flasche Wodka mit der Schläuchmaschin in den Hals. Jeder eine Flasche mit den zwei Türen. Gleichzeitig, von Hals zu Hals. Sie rissen sich die Kleider vom Leib und gingen los. Raffa ging etwas krumm. Er hatte plötzlich einen Traum oder eine Erinnerung oder ein Bild. Mir fallen die Arme aus der Schulter, die Beine aus der Hüfte, jetzt fällt der Rumpf, platsch. Mein Kopf schwebt über der Wanne, im kochenden Wasser schwimmen die Knochen, ich habe mich in die Wanne gewürfelt. Die Augen verdampften.

Sie erreichten das Schwimmbad, tasteten nach dem Loch im Zaun und krochen durch die Tür zur Nacht. Sturzbesoffen zogen sie sich die Schläuchmaschin über die Schwänze und bestiegen den Zehn-Meter-Turm. Jansen sprang mit einem langen Schrei, der in der Luft zerbrach. Tom sah Jansen unten, der hatte die weißen Arme weit ausgestreckt und winkte: Spring! Tom nahm Anlauf, stolperte vorn am Sprungbrett und fiel, ein Sack, in die Tiefe. Raffa hörte das Wasser aufspritzen, wie Wodka aus der Schläuchmaschin, federte auf dem Brett mehrmals hoch, und sprang, während Turm und Becken im Salto um ihn herumhüpften, mit ausgebreiteten Flügeln in die schaumige Luft. Stockdunkel. Null Mond.

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.