Tinnitus

Wie der Gesang der Sirenen klingt, sagt Arthur, wissen wir alle. Die Sirenen, einst am Ufer unbekannter Inseln, stehen heute auf den Dächern der Stadt. Aber schrecklich betörender Gesang tönt nicht von den Dächern und auch nicht aus schönen nackten Weibern zu uns herüber, das kann ich mir nicht vorstellen.

Was sonst?, sage ich.

Die Stimmen kommen nicht von außen, sagt Arthur, sondern sie klingen in uns selbst.

Das kann ich mir aber auch nicht vorstellen, sage ich.

Weil du nicht hinhörst, sagt Arthur, wie du dich selbst verführst!

Was soll ich denn hören?, sage ich.

Die Musik, die in dir tönt! Die Sirene bist du selber. Wenn du richtig zuhörst, hörst du, wie du dich warnst.

Aber hört nicht jeder etwas anderes, sage ich, und hört nicht jeder, was er will?

Das ist die größte Gefahr, sagt Arthur. Bei manchen Tönen musst du dich taub stellen oder die Sirenen übertönen, je nach dem.

Du meinst, sage ich, dass ich mich doppelt täuschen muss?

Ja, sagt Arthur. Ich gebe meiner lebenslangen Irrfahrt einen Sinn, wenn ich mich richtig verhöre.

 

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Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann. KUNO 2017.

Als intensiver Beobachter verfügt Ulrich Bergmann über die Begabung, noch die alltäglichsten Details in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken, um etwas über das Leben und die menschlichen Beziehungen zu erzählen. Er nennt seine Kurzprosa ironisch „gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs“. Wir präsentieren in diesem Jahr auf KUNO alle Arthurgeschichten und warnen Sie: Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Toten oder lebenden Toten sind zufällig, rein zufällig, absichtlich zufällig, zufällig absichtlich, rein absichtlich und nichts als die reine Absicht.

Weiterführend → Lesen Sie zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier.