Kimberly

Kimberly hätte eigentlich in einer städtischen Geburtsklinik zur Welt kommen sollen. Aber ihre Mutter Agnes S., die für das amerikanische Verteidigungsministerium als Beamtin im dritten Verschwiegenheitsgrad arbeitete und als Datenranger offiziell beauftragt war, unwegsame Gegenden des Cyber auszukundschaften, hatte es versäumt, rechtzeitig den ihr zustehenden Karenzurlaub anzutreten. So wurde sie, hochschwanger, wie sie war, am Computer auf einer ihrer Expeditionen von heftigen Wehen überrascht. Als unerfahrende Mutter – es war ihr erstes Kind – hatte sie die ersten ankündigenden Wehen übersehen, als erfahrener Ranger wußte sie, daß der Weg zurück ein langwieriger war, und der Schmerz, der sich in ihrem Unterleib aufbauschte, kappte Stück für Stück die dafür notwenidgen Synapsen ihres Gehirns. Ein entschiedener Griff zur Escape-Tast hätte ihre Situation auf der Stelle verbessert, aber als verantwortungsbewußte Beamtin hatte sie Skrupel, nur wegen einer körperlichen Unpäßlichkeit ein System abstürzen zu lassen. Und viel Zeit, die Dinge gegeneinander abzuwägen, hatte sie auch nicht. So sicherte sie ihre Daten, schleppte sich an den Rand des Highways, der eine öde Wüstenlandschaft wie ein Messer durchschnitt. Auf einem geschützten Platz preßte sie unter heftigem Keuchen und Schreien ihr Baby aus dem Leib. Ein Mädchen, Gott im Himmel, ein Mädchen, dachte sie glücklich. Sie nabelte ihr Kind ab, wickelte es in ihre blütenweiße Bluse aus dem Versandkatalog, küßte es auf den Mund und fiel in eine tiefe Ohnmacht, die sie vom Kind wegschwemmte, zurück an ihren Arbeitsplatz, wo man sie wenig später fand. So waren Mutter und Kind getrennt und das Kind in der Wüste zurückgeblieben.

 

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Auszug aus dem Roman Kimberly, Roman von Patricia Brooks, edition selene, Wien, 2001.

„Sicher aber kann man über Kimberly sagen, dass es sich um lustvolle und gekonnte Trashliteratur handelt, die mit Versatzstücken und Klischees locker jongliert, zugleich aber erstaunlich sympathisch altmodisch mit ihren Figuren umgeht. Sozusagen mit einem Herz für Retro, für Blues und Rock’n Roll, für Hippies und das unaufgeregte Leben, mit guter Musik und netten Leuten um sich. Beziehungen und Sex kommen durch die Bank ohne Cyber- Klischees aus. Und en passent wird die Musikgeschichte von Hendrix bis Punk und Maschinenmusik abgehandelt. Ein interessanter Mix: Cyberspace mit Bodenhaftung.“

Karin Cerny (Quelle: Wochenzeitung „Falter“. )

Weiterführend

Wir verleihen Patricia Brooks für ihr erzählerisches Werk in 2017 den KUNO-Prosa-Preis, lesen Sie hier die Begründung. Ein Kollegengespräch mit Patricia Brooks finden Sie hier.