Schläferin

Zuerst starrt sie die Glaswände an. Sie hat die Füße an den Bauchnabel herangezogen. Auf der Wiese treiben es Karnickel miteinander. Das Rauschen eines Zuges von weit her ist zu hören. Wie wenn es das Meer wäre, denkt sie. Lauscht dem Summen nach und sieht sich den frischblauen Himmel an. Die Helligkeit sticht ihr in den Blick. Ihre Augen rollen herum. Immer wieder. Wollen nicht zur Ruhe kommen. Tollende Augen. Sie hockt in einem Quader aus Holz. Schaut und schaut. Die Schatten ihres eigenen Spiegelbildes schimmern in der Milchglasschichte der Frontseite. Ein Kuckuck ruft. Das Brausen eines Autos. Eines der Karnickel hopst von dem Zweiten herunter und hoppelt davon. Sie sieht sein Plüschwollschwänzchen von Hinten. Sieht weit ausholende Pfoten. Die Karnickel wuseln flink. Und weg sind. Kleine Fellknäuel. Sie lächelt. Ihre Augen rotieren wieder. Sie muss husten. Wartet auf die Veränderungen im Blau hinter dem Glas. Dass sich die Sonne ins vertrocknete Sommergras tunkt. Dass es Nacht wird. Nichts.

Man hat sie hierher gebracht. In dieses seltsame Glashaus. Nach dem Tod des Kindes hätte sie allem zugestimmt. Dichte Tage waren es. Schläferin, sagte Zoe. Sie bräuchten eine Schläferin. Sie hatte keine Angst mehr. Sie hatte alles verloren. Dass sie mit Licht experimentierten, hieß es. Photonenstrahlen. Sie war zu allem bereit. Ihr Herz war ein Kreisel. Ihr Kopf war ein Kreisel, der sich um alle Gedanken drehte. Schläferin.

 

Wie wenn alles mit den Glaswänden anfinge, denkt sie. Aber es stimmt nicht. Sie weiß von nichts, als dass sie das Gefühl hat, die Stille würde sie auffressen. Langsam bekommt sie Sehnsucht nach dem Meer. Möchte loslaufen und sich in die Fluten stürzen. Aber was sie da hört ist nur das Rauschen eines Zuges, der über die Schienen holpert, links vom Quader. Vielleicht sollte sie jetzt aufstehen. Irgendetwas tun gegen die äußere Ruhe, die sie unruhig macht. Ihr gegen die Pupillen drückt, dass es schmerzt. Aber sie schaut nur. Den Koffer halb ausgepackt in der Ecke.  Hin und wieder knackst das Holz auf. Macht dabei etwas wie ein Knistergeräusch. Ich sitze in einem Baum, denkt sie, und erinnert sich an die Baummaus und die Grasmaus in einem ihrer Kinderbücher. Wie sie mit spitzen Schnäuzchen aneinander nuckelten. Einander küssten. Sie muss grinsen. Ob sie dem Kind auch aus diesem Buch vorgelesen hätte? fragt sie sich. Schiebt die Gedanken schnell wieder weg. Knackst mit den Zehen und guckt stumpf ihr Spiegelbild an. Als ob aller Anfang Glaswände wären, denkt sie und lacht sich selbst aus für diesen peseudophilosophischen Gedanken. Stille. Sie fährt sich durchs Haar. Hinter der Glasscheibe das leise Zittern vertrockneten Grases. Bäume. Ein Himmel, der langsam seine Farbe verändert. Sonst nichts.

 

Sie steht auf und streift in das Badezimmer. Die Kacheln sind kalt unter ihren bloßen Füßen. Die Badewanne ist ein riesiger heller Hohlraum. Das Fenster halb offen. Trotz der Sommerwärme zittert sie ein bisschen. Ein Käfer aus grüner Schale hockt im Waschbecken. Das schimmernde Kreuz einer Spinne, die sich von einer Ecke abseilt, ist zu sehen. Ihr Körper bibbert. Ihr ist, wie wenn der Quader atmen würde. Als ob er aus organischem Material gemeißelt wäre, denkt sie. Als ob sie im Inneren einer Gebärmutter hocken würde. Von einer riesigen Vagina verschluckt. What to do, denkt sie und: Nowhereland. Lässt sich vom Duschkopf Wassertropfen auf die Haut rieseln. Kurze Zeit geht es den Augen besser und sie machen keine großen Sprünge mehr. Als sie aus der Badewanne steigt, muss sie Rotz aufziehn. Dann: Die Nässe aus der Haut rubbeln. Auf dem Waschbeckenrand liegt ein Föhn. Was das für einen Krach machen würde, den einstecken, denkt sie. Und dann: Aufdrehen. Damit Baden gehen. Bei dem Gedanken muss sie abrupt husten. Lenk dich ab, sagt sie sich. Steigt wieder aus der Wanne und reibt sich die Fusssohlen trocken. Läuft dann schnell ins andere Zimmer. Glaswände. Sie geht auf und ab. Nackt. Das Handtuch rutscht ihr von den Schultern. Bleibt am Boden liegen. Sie weiß nicht, was  sie tun soll  gegen die inneren Bilder. Greift sich an die Schläfen. Drückt mit den Fingerkuppen fest dagegen. Soll sie die Rolleau zuziehen? Die Farben am Himmel beginnen, sich zu verändern. Wann kann sie den nächsten Zug hören? Sie spuckt Schleim aus. Szenen aus ihrer Kindheit steigen auf vor ihrem inneren Blick. Sie muss zur Ruhe kommen, denkt sie. Setzt sich aufs Sofa und drückt eine Pille aus der Kapsel. Dann nickt sie ein.

 

 

 ***

 

Auszug aus: Schläferin, Erzählung von Sophie Reyer, Edition Atelier, 2016

Sophie Reyer kann hart zupacken, so daß es schmerzt. In dieser Erzählung unternimmt sie eine Expedition in die Schmerzzonen der Existenz, dies spiegelt sich in extremen geografischen Orten. Sara stellt sich als Probandin für eine medizinische Testreihe eines dubiosen Pharmaunternehmens zur Verfügung, wir lesen eine Art Tagebuchprosa und werden Zeuge der Zerreissprobe, und wie das geschädigte Opfer mit einer, ohne jedes Pathos bewerkstelligten Drehung über alles hinausgehoben wird. Am Schluß meint der Leser das Leben würde leicht sein, weil er erfahren hat, was Leere war. Das ist der Intensität geschuldet, mit der sich Reyer auf diese Figur einläßt.

Weiterführend →

Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. In ihrem preisgekrönten Essay Referenzuniversum geht sie der Frage nach, wie das Schreiben durch das schreibende Analysieren gebrochen wird. Vertiefend zur Lektüre empfohlen, das Kollegengespräch :2= Verweisungszeichen zur Twitteratur von Sophie Reyer und A.J. Weigoni zum Projekt Wortspielhalle. Hören kann man einen Auszug aus der Wortspielhalle in der Reihe MetaPhon.