Heuschrecken

 

„Wenn ich jetzt nicht esse, sterbe ich auf der Stelle!“ sagt Ka-thrin und geht in die Küche. Das Fenster ist gekippt und die Jalousien klappern wie tollwütige Heuschrecken. Was für ein Gestöber. Gestern war das Wetter milder und es blieb zum Glück einigermaßen trocken, sonst wären sie sich nicht begegnet, sie und Günther. Kathrin schließt das Fenster, zieht die Jalousien hoch und sieht auf das Display der Mikrowelle. Viertel nach elf.

Kathrin stellt den Kaffee auf.

Sie kocht türkischen Kaffee, seitdem sie einen türkischen Freund hatte. Der türkische Kaffee schmeckt ihr besser als der türkische Freund. Der war ihr zu eifersüchtig. Davor hatte sie eine Weile Espresso getrunken, davor Inka-Mate und noch früher indischen, gewürzten Tee. Ihre Betterfahrung ist international, genau wie ihre berufliche Kompetenz. Das Geheimnis beim türkischen Kaffee ist, ihn nur einmal oder höchstens zweimal kurz aufkochen zu lassen, so, dass das Aroma erhalten bleibt.

Günther trinkt Filterkaffee, hat er erzählt. Er scheint nicht auffallen zu wollen. Vielleicht ist er gefährlicher, weil unscheinbarer. Stille Gewässer sind trüb. Aber sie ist es auch. Gefährlich. Gestern war sie es, zumindest am Anfang des Spiels. „Kathrin, du warst großartig!“ flüstert sie und gießt konzentriert einige Tropfen kalten Wassers in den Kaffee.

So lässt sich der Kaffeesatz schneller nieder.

Ja, sie war spritzig, schlagfertig und dennoch ein wenig naiv, voller Bewunderung, so wie es Männer mögen, und dann, hier zu Hause, hat sie Günther total verblüfft, als sie ihre Taktik um hundertachtzig Grad änderte, die Initiative ergriff und zu einem verführerischen, sexbesessenen Vamp wurde. Um sich dann im Bett wieder einmal total zu verwandeln und einen ausgesprochen großen Überraschungseffekt bei ihm zu erzielen. Ja, sie ist gefährlich, sie ist eine gute Spielerin, weil sie die Regeln kennt. Er kann nicht anders, als sich in sie zu verlieben. Weniger als das würde sie kaum befriedigen. In seinem Fall zumindest. Ein Kompensa-tionsgesetz, denn er ist, na ja, er war zumindest in dieser Nacht nicht gerade umwerfend. Wenn er selbst nicht perfekt sein kann, denkt Kathrin, so soll es zumindest seine Zuneigung werden.

Daran muss sie aber noch arbeiten.

Sie nimmt den Kaffee von der Kochstelle, gießt sich eine Tasse voll. Wenig Licht im Raum auch bei hochgezogenen Jalousien. Sie macht die Lampe an und lässt die Jalousien wieder runter.

Der Kaffee erwärmt sie ein wenig, aber den Hunger stillt er nicht. Ihr Magen knurrt schon wieder.

Sie öffnet den Kühlschrank. Leer!

Verdammt, sie hat’s vergessen, die Einkaufstüten sind noch immer im Kofferraum. Und der Wagen? Den hat sie in der Altstadt stehen lassen! Sie sind mit seinem Auto gefahren! Verflixt! Was macht sie jetzt? Sie hat Hunger! Sie öffnet die Tiefkühltruhe: darin drei Kompresse-Gel-Päckchen und eine Packung Fischstäbchen. Fischstäbchen! Na gut, wenn nichts sonst da ist, isst sie erst einmal das. Den Wagen wird sie später abholen. Und Brot? Hat sie wenigstens Brot? Sie findet im Brotkasten einen Rest, hart und trocken. Halb so schlimm, sie kann es toasten.

Kathrin legt die Stäbchen in die Pfanne und steckt zwei Brot-scheiben in den Toaster. Show me it’s real, or let’s forget about it! summt sie.

Sie wird sich bemühen, auch bei Günther das Geheimnisvolle zu finden. Er verbirgt etwas, sie hat es in seinem Blick gesehen.

Sein Blick wirft keine Reflexion zurück, sondern saugt sie auf, lässt sie teilnahmslos in sich versinken. Gestern hätte sie nicht sagen können, was er sah. Er saß nur da und starrte sie ausdruckslos an, als sie sich im Rhythmus der Musik auszog und ihm die Kleidungsstücke eins nach dem anderen an den Kopf warf. Das war doch perfekt! Ein sicheres Szenario! Warum reagierte er nicht? Sie wollte ihren Büstenhalter und ihr Höschen nicht selbst ausziehen, sie wollte, dass er es tut! Plötzlich stand er auf, sie dachte, na endlich, aber er hielt sie still und begann an ihr zu riechen. Er zog sie nicht aus, küsste sie nicht, sagte kein Wort, streifte nur leicht ihren Hals und ihre Schultern mit seinem Gesicht. Als sie ihn küssen wollte, wich er ihr aus. Mich necken willst du? dachte sie, packte ihn am Gürtel und zog ihn ins Schlafzimmer, stieß ihn aufs Bett und warf sich über ihn. Sie sah ihm in die Augen und er blickte zurück. Sie hätte noch immer nicht erraten können, welche Kathrin sich darin widerspiegelte. Waren seine Augen blau? Waren sie grün? Er rollte sie zur Seite und setzte sich rittlings auf ihr Becken. Sie spürte das Gewicht des Hodensacks auf ihrem Schambein und wagte einen Blick auf seine Hose. Viel konnte sie nicht entdecken, keine Schwellung, nicht die geringste. Hatte er nun einen Ständer oder nicht? Er folgte ihren Augen und vernahm den Seufzer, den sie aus Ungeduld oder Unbehaglichkeit – das hätte sie ebenfalls nicht sagen können – ausstieß. Das hat ihn offensichtlich rasend gemacht. Er ist danach ganz wild gewesen.

Kathrin dreht die Fischstäbchen in der Pfanne auf die andere Seite. Die ist noch roh. Rosige Würmchen. Wie Günthers bestes Stück. Er ist morgens schleunigst abgehauen, zu eingeschüchtert, um ihr beim Frühstück in die Augen zu sehen. Gott sei Dank, was hätte sie ihm, bitteschön, anbieten können?

Fischstäbchen mit Toast?

Kathrin legt die Pfanne mit den Fischstäbchen auf den Tisch. Die Brotscheiben sind längst aus dem Toaster herausgesprungen und mittlerweile schon wieder kalt. Sie nimmt sie und legt sie direkt auf den noch heißen Herd. Die Brotscheiben fangen bald an, kleine Rauchwolken zu produzieren. Kathrin nimmt sie vom Herd, verbrennt sich die Finger und schmeißt die Brotscheiben in den Mülleimer. Sie öffnet den Kühlschrank und zieht die untere Schublade heraus. Irgendwo hatte sie noch eine Zitrone. Da ist sie. Ausgetrocknet. Wegschmeißen. Fischstäbchen ohne Toastbrot und ohne Zitrone. Igitt! Sie beißt ein Stückchen ab und kaut misstrauisch. Sie möchte gern wissen, was für einen Eindruck sie bei Günther hinterlassen hat. Vielleicht kann er vor Aufregung überhaupt nicht essen, verblüfft wie er sein muss von den vielen Facetten ihrer Persönlichkeit. Vielleicht wartet er darauf, dass sie ihn anruft. Was sie auch tun wird, sobald sie mit Sarah telefoniert und ihr alles erzählt hat.

 

 

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Am Todestag von Ioona Rauschan erinnert KUNO an diese Autorin mit einer Leseprobe aus: Abhauen. Dieser Roman erschien 2008 beim Pop Verlag, Ludwigsburg.

Auf der Schwelle. Ein Filmessay über Heinrich Heine von Ioona Rauschan. Edition Biograph, 1997

Die schöne Strickerin, Novelle von Ioona Rauschan, Edition Biograph, Düsseldorf 1995. (Antiquarisch erhältlich).

Weiterführend →

Ein Kollegengespräch mit Ioona Rauschan findet sich hier. Das Live-Hörspiel 5 oder die Elemente wurde in der Regie von Ioona Rauschan mit Marion Haberstroh und Kai Mönnich im Gutenberg-Museum zu Mainz uraufgeführt. Señora Nada, in der Regie von Ioona Rauschan, ist auf Hörbuch Gedichte erhältlich. Probehören kann man das Monodram Señora Nada in der Reihe MetaPhon.