Wo du lebst

 

Wo Haut und Schmerz sich Guten Abend sagen

und nichts dein Innenzeug vom Außen trennt –

wo es nur Antworträtsel gibt und keine Fragen

und dir die Lösung auf der Magenschleimhaut brennt –

 

Wo Blasen platzen, Schranken brechen, Türen

von Träumen eingetreten durch die Flure schlittern –

wo deine Sinne ohne Smartphone­-App die Welt antwittern

und regennasse Ahornfinger deine Stirn berühren –

 

So lange du nur gehst und dich bewegst,

musst du nicht ständig wissen, wie du heißt

und ob dein Leben irgendwas beweist.

 

Es reicht, dass du sein Ungewisses stur erträgst,

damit an manchen Ahornfinger-­Tagen

dir deine Glückshormone Guten Morgen sagen.

 

 

 

***

Im kommenden Jahr erscheint: Auf das Glück. Beinahelieder und Gedichte von Thomas Frahm. Chora-Verlag 2016

Die Gedichte und Beinahelieder des vorliegenden Bandes umspannen einen großen Teil meiner Bulgarienjahre, beginnend mit dem Jahr, in dem sich dieser Aufenthalt auf meine Lyrik auszuwirken begann. Wer nun direkte inhaltliche Bezüge sucht, wird außer in dem abschließenden Sofia-­Poem von 2005 wohl nicht fündig werden. Das war nicht geplant, das hat sich so ergeben. Landschaften und Stadtansichten gab es früher mal, jetzt kamen die Menschen, vielleicht, weil es nicht das Land, sondern eher die Leute sind, die dem Lyriker die einmalige Chance geben, nichts mehr zu verstehen, alles neu erfahren zu müssen: Ja, nun ist er wirklich ein Fremder auf dieser Welt und fühlt sich nicht mehr bloß so.

Aber im völligen Gegensatz zur westlichen Denk-­ und Geistestradition fasst ihn dabei keineswegs des Daseins ganzer Jammer an, so mit Zweifeln bis zur Verzweiflung, Melancholie bis zur Depression und dergleichen, sondern genau umgekehrt: eine Euphorie ergreift ihn, die Euphorie dessen, der sich plötzlich Neuland sieht!

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.

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