Über den Zustand der Liebe in lyrischen Texten

Über Liebe als Beziehung zwischen den Geschlechtern
gebe es nichts Neues mehr zu berichten,
das habe die Literatur dargestellt in allen Varianten
ein für allemal, das sei für die Literatur,
sofern sie diesen Namen verdient, kein Thema mehr –
solche Verlautbarungen sind zu lesen; sie verkennen,
daß das Verhältnis zwischen den Geschlechtern sich ändert,
daß andere Liebesgeschichten stattfinden werden.

Max Frisch: Montauk

Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, das in lyrischen Texten von Peter Paul Wiplinger aufgezeichnet wird, ist mit dem Stigma des Abschieds behaftet, als sei es unrealistisch, eine Partnerschaft zu erhalten und Krisen zu überwinden. Die im Diskurs der Liebe bevorzugte Erfahrungsmodalität ist eine „trauernde Liebe“ im Bewusstsein der Trennung und des erfahrenen Verlustes, ein Umstand, der den analytischen Rahmen des vorliegenden Beitrags absteckt. In Wiplingers Texten kommt es im Kontext einer liebenden Beziehung zwischen dem jeweiligen Ich und einem Du zu verschiedenen Überlagerungsformen von Nähe, Zuneigung und Wärme, Zugehörigkeit und Geborgenheit, die in der Gefühlstiefe zugleich einen Erfahrungsbereich von Verlust, Trauer, Traurigkeit, Bedrücktheit, Bitternis, Schmerz, Leid und Angstzuständen einschließen. Die um die Liebe gruppierten Gefühle schließen sich in ihrer Polarität nicht aus, sondern sind komplementär aufeinander bezogen. Dadurch wird bei der Thematisierung und Präsentation von Liebe in manifester oder verdeckter Weise eine Dialektik zwischen dem Zugehörigkeits-, Geborgenheits- und Sicherheitsgefühl und dem Gefühl des potenziellen Verlustes durchgespielt. Die Sehnsucht nach einer harmonischen, beglückenden und die ganze Existenz erfassenden Partnerbeziehung ist in Wiplingers Texten zwar mitgedacht, deren Möglichkeit lässt sich aber kaum erkennen. Der Autor schreibt von einer Zuneigung, die sich als unbeständig, flüchtig und zerbrechlich erweist. Liebe und Abschied sind bei Wiplinger ein unzertrennliches Paar. Die Trennung wird oft als Schlusspointe suggeriert, wenn es in „Liebesgedicht I“ heißt:

im glanz der lichter
sehe ich dein gesicht

schnee fällt herab
auf die dunkle stadt

die liebe ist ein traum
sagst du leise zu mir

wir werden aufwachen
entgegne ich dir darauf

wir werden uns trennen
irgendwann das weiß ich

Der Sprachgestus des Textes ist trotz der expliziten Hinwendung zum Du ganz aus der Perspektive des sprechenden Subjekts her angelegt. Es ergibt sich zwar eine kommunikative Gemeinsamkeit mit der Partnerin durch den direkten Bezug auf ihre Worte, und die Anwendung der Personal- und Possessivpronomen „dein“, „du“, „wir“, jedoch nehmen die Empfindungen des Ichs eine dominante Stellung ein. Trotz der thematisierten Liebesbeziehung des Ichs zu einem Du ist der Text von Trauer als Grundemotion bestimmt. Sie wird mit Hilfe der rekurrenten Ausdrücke und Bilder präsentiert, die Trauer implizieren. Um diese Stimmung sparsam, aber identifizierbar zu entwerfen, setzt Wiplinger die Eigenschaften, mit denen der Naturraum ausgestattet wird, und die Attribute, die den Naturszenarien zugeordnet werden, ein. Sie gelten oft als Topoi und Versatzstücke, die herangezogen werden, um Emotionen zu vermitteln. Im herabfallenden Schnee ist ein jahreszeitlich geprägter Raum eingelagert, der mit Trauer und Sehnsucht als negativer Emotion konnotiert wird. Darüber hinaus bietet der Hinweis auf die dunkle Stadt einen der Quell-Bereiche, aus denen die Trauer implizierenden Metaphern ihre Bildlichkeit beziehen, denn Trauer ist auch Dunkelheit. Simone Winko verweist auf eine metaphorische Verbindung zwischen Trauer und Angst, die evolutionär bedingt von Dunkelheit ausgelöst wird. Dass der Zustand des Ichs in Wiplingers Text nicht als eine zur nächtlichen Winteratmosphäre passende Stimmung zu verstehen ist, sondern auf einer Emotion beruht, die einen konkreten Hintergrund hat, wird im Verlauf des Textes deutlich. In einer dunklen Winternacht beobachtet das Ich „im glanz der lichter“ das Gesicht seiner Geliebten. Leise sagt sie zu ihm: „die liebe ist ein traum“. Davon spricht die mittlere Strophe, der aufgrund ihrer zentralen Stellung ein besonderes Gewicht zukommt. Ihre Aussage macht den Sinn des Textes aus und wird auch in ihrer Relevanz kursiv geschrieben. Es gibt allerdings keinen Hinweis dafür, ob diese Worte auf die Leidenschaft der Erotik oder eher auf die Unbeständigkeit der Liebe zu beziehen sind. Für das Ich ergibt sich aus dieser zweifelsohne unter dem Einfluss der herrschenden Intimität gewonnenen Erkenntnis nur eine Konsequenz: „wir werden aufwachen“. Die nahezu idyllische Wirkung der ersten Strophe geht also ganz verloren. Bietet der Traum noch das Reich, in dem die Beständigkeit und Verwirklichung der Liebe vorstellbar sind, so erweist sich die dauerhafte, gelungene und harmonische Zuneigung zwischen Liebenden auf der realen Ebene als Illusion. Traum und Aufwachen gehören immer zusammen. Der Text vermittelt somit ein Bild von der Liebe, die keine Dauer, sondern nur eine flüchtige Existenz aufweist. Mit dieser Vorstellung korrespondiert auch die letzte Strophe, in der vom Ich lakonisch festgestellt wird: „wir werden uns trennen / irgendwann das weiß ich“. So bekommt das Moment der unvermeidlichen Trennung eine alles überschattende Bedeutung und wird daher im Text kursiv gesetzt. Mit diesem negativen Resultat des Liebesausgangs formuliert Wiplingers Text eine Grundtendenz, in der die Möglichkeit, eine die ganze Existenz erfassende Liebesbeziehung zu verwirklichen, nur im Traum zugelassen wird.
Die Zweierbeziehungen in Wiplingers Texten müssen sich immer vor der Lebenswirklichkeit bewähren. Mit ihrem engen Bezug zur Realität, die auf jede romantische Überhöhung verzichtet, vermittelt der Autor einen wirklichkeitsnahen Liebesbegriff, der im Spannungsfeld zwischen Erwartung und Enttäuschung oszilliert, wie etwa in „Liebesgedicht II“:

spät bist du
heimgekommen
erst im morgengrauen

das erste licht
zeichnet den umriss
deines körpers an die wand

ich will dich berühren
aber du sagst hart
nein jetzt nicht

da weiß ich alles
du denkst an trennung

In „Liebesgedicht II“ wird auf den Widerspruch zwischen räumlicher Nähe und seelischer Ferne verwiesen, der als ein zentrales Problem der modernen Liebeslyrik gilt. Das Ich verbringt eine schlaflose Nacht mit dem Warten auf seine Geliebte und registriert den Zeitpunkt ihrer Ankunft „erst im morgengrauen“. Im „ersten licht“ beobachtet er „den Umriss ihres Körpers an der Wand“. Das späte Heimkommen der Frau – der Grund dafür bleibt rätselhaft – löst beim Ich keine heftige Reaktion aus. Ganz im Gegenteil, es bekundet seine Sehnsucht nach körperlicher Nähe. Es wird jedoch mit einem harten Nein abgewiesen, wenn notiert wird: „ich will dich berühren / aber du sagst hart / nein jetzt nicht“. Die ablehnende Geste der Frau bekommt in diesem Fall einen zusätzlichen Sinn. Ihre distanzierte Unbeteiligtheit und Kälte, die keine Berührung des Ichs zulassen, verweisen auf den drohenden Zerfall der Liebe. Eine solche Gefahr wird auch vom Ich diagnostiziert, wenn es heißt: „da weiß ich alles / du denkst an trennung“. Die Verhaltensweise der Geliebten, die vom Ich eindeutig als Anzeichen für den bevorstehenden Abschied wahrgenommen wird, deutet auf die Spannung zwischen dem Wunsch nach intimer Nähe und einer emotionalen Distanziertheit. Gleichzeitig verdeutlicht sie einen Zustand, in dem die Liebenden durch die räumliche Nähe und innige Begegnung gar nicht mehr zueinander finden können. Das Ich und das Du leben sich auseinander, indem sie miteinander leben.
Auch in „Unsere Wege“ wird die private Thematik der Liebesbeziehungen unter dem Aspekt des Abschieds gesehen – wenn auch in verschlüsselter Form. Die Verschlüsselungen im Text sind jedoch so leicht durchschaubar, dass unmittelbares Verstehen seiner Aussage sich ohne weiteres einstellt:

Du gingst
den Weg hinauf
zwischen den Wiesen
bis unter den großen
blühenden Kastanienbaum

Ich dachte:
Wo wird er enden Dein Weg
Und wo endet dann meiner?

In den Blüten im Mai oder
flammendrot im Herbst?

Dann liefst Du barfuß
von oben herab zu mir.
Und wir umarmten uns.

Es war Frühling.
Es war mitten im Mai.
Und alles blühte voll Pracht.

Der Text kann durch die verwendete Präteritumform als Erinnerung an eine vergangene Liebesbeziehung aufgefasst werden. Die Vergänglichkeit der Liebe wird bereits im Titel suggeriert. Die Formulierung „unsere Wege“ legt nahe, dass kein gemeinsamer Lebensweg im Singular vorausgesetzt wird. Im Verlauf des Textes, der ein Gemisch von Emotionen inkludiert, wird die Aussage des Titels konkretisiert und bestätigt. Liebe, Freude, Traurigkeit und Erwartung, die den Inhalt durchgängig bestimmen, werden in den entsprechenden Jahreszeiten, im Frühling und im Herbst, angesiedelt. Das Ich erinnert sich an eine Liebesbegegnung „mitten im Mai“. Rückblickend sieht es das Du, das im Text nicht weiter genannt wird, „den Weg hinauf / zwischen den Wiesen / bis unter den großen / blühenden Kastanienbaum“ gehen. Die in diesen Zeilen aufgebaute Erwartung gilt als Teil einer bevorstehenden Liebeshandlung. In der vierten Strophe wird das Hinaufgehen durch das Herablaufen und die Umarmung vervollständigt, wenn es heißt:

Dann liefst Du barfuß
von oben herab zu mir.
Und wir umarmten uns

Der Weg des Du führt einmal vom wartenden, beobachtenden und reflektierenden Ich weg, aber derselbe Weg führt auch im Herabgehen zu ihm zurück. Der Erwartung folgen Freude und Liebe. Es handelt sich dabei um elementare Emotionen, die oft miteinander, in verschiedenen Situationen und Intensitätsstufen, kombiniert werden. Einen der beliebtesten Kodes für die Vermittlung dieser Emotionen bilden Jahreszeiten. Die Vorstellung vom Mai wird verdeutlicht durch Hinweise auf typische Attribute – den blühenden Kastanienbaum, die Blüten und das prachtvolle Blühen – während die Erwartung einer Liebeshandlung und die daraus resultierende Freude durch das Laufen der Geliebten „barfuß von oben herab“ und die Umarmung der Liebenden bestätigt wird. Der Monat Mai steht für das Liebeserwachen. Er hängt aber auch mit der Jugendlichkeit, Leidenschaft und Intensität der Liebesbeziehung zusammen. In dieser Hinsicht muss der Mai nicht im Mai enden, sondern eine zeitliche Ausdehnung erfahren. Auch im Herbst – und damit ist auch das Alter gemeint – ist eine intensive liebende Zuneigung möglich. Die Reflexion des Ichs betrifft also eine leidenschaftliche Liebeserfahrung, die von unterschiedlicher Länge sein kann. Die Gedanken des Ichs in der zweiten Strophe lassen jedoch auch darauf schließen, dass er um die Unbeständigkeit der Liebe im Voraus weiß, wenn notiert wird:

Ich dachte:
Wo wird er enden Dein Weg
Und wo endet dann meiner?

Die Unterscheidung zwischen „meinem“ und „deinem“ Weg konnotiert das Ende der Liebesbeziehung. Es wird vorausgesetzt, dass sich die Wege des Ichs und des Du irgendwann, noch „In den Blüten im Mai oder / flammendrot im Herbst“ trennen werden. Auch der Hinweis auf die herbstlich geprägte Natur hat einen ambivalenten Charakter. Mit dem Flammendrot – gemeint sind die sich im Herbst verfärbenden Blätter als Zeichen der sterbenden Natur – wird einerseits die Vergänglichkeit des menschlichen Gefühls konkretisiert, andererseits aber ist die Farbe „flammendrot“ immer noch intensiv und lebendig genug.
Auch im Text „Ein Abschied“ sind die Naturvorgänge mit den Gefühlserlebnissen der Menschen verwoben. Vor allem zur Beschreibung der Emotionen benutzt Wiplinger Naturphänomene, deren Sinn es zu erkennen gilt:

drüben am wasser
die verlorene spur

im kalten wind
der vogelschrei

wortlos und wild
die umarmung

ein abschied
gewaltsam wie tod

im wasser treiben
ziellos die blätter

der himmel ist blau
als wäre es herbst

die hände sind leblos
mich friert

In den Text werden motivartig Liebe und Natur integriert. Er wird in dieser Konstellation eröffnet. Der kalte Wind, das Frieren und die Konjunktiv-Form des Vergleichssatzes in der vorletzten Strophe „als wäre es herbst“ lassen an den Winter denken, der mit traurigen Stimmungen parallelisiert wird. Mit dieser Vorstellung korrespondiert die bereits im Titel implizierte Perspektive des Abschieds. Sie erleichtert den Übergang zum Kern des Textes, aber erst in der vierten Strophe wird dem Leser signalisiert, das es hier um eine Liebesbeziehung geht, die beendet werden muss. Auf die Zwangsläufigkeit der Trennung verweist die „wortlose und wilde Umarmung“, ein Hinweis auf das traute, jedoch der Vergangenheit angehörende Zusammensein der Liebenden. Diese Geste, deren Wärme mit der in der Natur herrschenden Kälte kontrastiert, bildet jedoch kein wirkungsvolles Gegengewicht zur Gewaltsamkeit des Abschieds. Im Text wird der Moment der Trennung mit dem Tod verglichen, wenn es heißt: ein abschied / gewaltsam wie tod“. Im Schrei des Vogels, der auch im Kontext eines Aufschreis des Ichs zu betrachten ist, wird die isolierende Wirkung der Trauer bildlich umgesetzt. Und durch die Einsamkeit des Vogelschreis im Wind – es ist kein anderer Laut zu vernehmen – wird die Einsamkeit des/der Trauernden noch zusätzlich verstärkt. Zur Einsamkeit des/der Trauernden gehören auch die im Wasser treibenden Blätter, auf die die Wahrnehmung reduziert wird. Durch die Hervorhebung des ziellosen Treibens wird eine der Trennung eingeschriebene Verunsicherung suggeriert. Der Vergleich des Abschieds mit dem Tod lässt vermuten, dass die Trennung abrupt geschehen muss. Ihre Notwendigkeit resultiert jedoch nicht aus dem Scheitern der Beziehung, sondern wird durch andere widrige Umstände, denen die Liebenden willenlos ausgesetzt sind, bewirkt. Durch „die verlorene Spur drüben am Wasser“ wird die Vorstellung von der Unabwendbarkeit der Entscheidung und die Unmöglichkeit einer Wiederbegegnung evoziert. In der letzten Strophe sind zwei Lesarten möglich. Einerseits können das Zittern und leblose Hände als Resultat der herrschenden Kälte interpretiert, andererseits aber kann die Reaktion des Körpers als Zeichen der Trauer verstanden werden. Die Kälte ist eine der Basis-Metapher, auf die sich die zahlreichen Ausdrücke und Bilder für Trauer zurückführen lassen. So sind herabgesetzte Körpertemperatur und leblose Hände als physiologisches Symptom der Trauer aufzufassen. Diese Deutung entspricht der Logik des Geschehens. Die Liebesbeziehung muss unterbrochen werden. Die Trennung von der Geliebten wird vollzogen und als eine einschneidende Erfahrung erlebt. Das Frieren wird auch in die Zukunft projiziert, weil der Abschied schmerzt und nicht leicht zu verwinden sein wird. In „Liebesgedicht III“ findet die Trennung unter ähnlichen Bedingungen statt:

lange habe ich
dir nachgesehen

durch den staub
dieser stadt

winter war es
und die kälte

trieb mir tränen
in die augen

Der Abschied wird bereits in den ersten Zeilen angedeutet, wenn notiert wird: „lange habe ich / dir nachgesehen // durch den staub / dieser stadt“. Die Trennung fällt dem Ich nicht leicht. Sein Blick folgt lange Zeit dem sich entfernenden Du. Auch in diesem Fall wird die Trennung an einem kalten, winterlichen Tag vollzogen. Und ähnlich wie im Text „Ein Abschied“ sind es die unwillkürlichen Äußerungen des Körpers, die den Schmerz bezeugen. Die mit dem Abschied verbundene Kälte treibt dem Ich die Tränen in die Augen. Die Sprache des Körpers hat somit Teil an der Zeichenlehre, die von der Liebe erfunden wird, und in der die Tränen die Legitimation für das dargestellte Gefühl übernehmen. So beschreibt Roland Barthes in Fragmente einer Sprache der Liebe die Funktion der Tränen beim liebenden Subjekt:

Mit meinen Tränen erzähle ich eine Geschichte, ich bringe einen Mythos des Schmerzes hervor und richte mich folglich darin ein: ich kann mit ihm leben, weil ich, wenn ich weine, mir einen empathischen Gesprächspartner zulege, der die „wahrste“ aller Botschaften empfängt, die meines Körpers, nicht meiner Sprache[…].

Demzufolge werden die Tränen als der unwillkürliche, körperliche Ausdruck des Schmerzes verstanden. Sie wenden sich exklusiv an diesen einen empathischen Gesprächspartner und gelten als Beweis für die Wahrheit des Gefühls, das sich sprachlich nicht artikulieren lässt. Aus dieser Perspektive – so Sabine Kyora – kann die gesprochene Sprache die Liebe als subjektives und wahres Gefühl nur ungenügend zum Ausdruck bringen, weil sie auf Wiederholbarkeit und damit auf Konventionalität basiert und sich als ein allgemeines Kommunikationsmittel potentiell an jeden Zuhörer der Sprachgemeinschaft wendet. So sind auch die Tränen des Ichs in Wiplingers „Liebesgedicht II“ als die „wahrste“ Botschaft des Körpers zu deuten, die sich exklusiv auf diesen einen geliebten Empfänger und niemand anderen bezieht. Sie sind ein Beweis dafür, dass der durch den Abschied ausgelöste Schmerz keine Illusion ist.

Als Ergebnis dieser Darstellung ist festzuhalten, dass die von Wiplinger geschilderten Liebesbegegnungen und Liebesbeziehungen vordergründig um das Motiv der Trennung und des Abschieds zentriert sind. Lyrische Narrative der Trennung und des Abschieds sind eine Sinnerzeugung und ergeben ein spezifisches, individuell wichtiges Grundmuster für einen rekonstruierten und konstruierten, emotionalen Erfahrungsbereich. Jedoch ist Liebe selten die einzige Emotion, die in einem Text gestaltet wird. In den meisten Fällen tritt sie, abhängig von der geschilderten Konstellation, mit Trauer oder Freude auf. Darüber hinaus scheint noch ein Ergebnis auffällig zu sein: die Beobachtung, dass traurige Stimmungen – sie entstehen bei Wiplinger aus dem geahnten oder schon vollzogenen Verlust der Liebe – oft mit Naturerscheinungen gekoppelt sind, als ob das Subjekt nur in der Begegnung mit diesen Erscheinungen seine Emotionen artikulieren könnte. Es lässt sich auch nicht übersehen, dass das weiblichen Du ein Wesen ohne scharfe Konturen ist. Es wäre aber verfehlt, seine Rolle in lyrischen Überlegungen des Autors herabzusetzen. Diese ‚Verschwommenheit‘ ist auf das Hauptziel zurückzuführen, auf den gespaltenen Gefühlszustand des textlichen Ichs zu verweisen. Einerseits sucht es den Kontakt zum Du, versucht, sich ihm zu nähern, sehnt sich nach ihm, andererseits aber kann er den Gedanken an das unabwendbare Scheitern der Beziehung nicht loswerden, als ob es bei ihm vorprogrammiert wäre. Man gewinnt sogar den Eindruck, dass der Traum von einem lebenslangen harmonischen Liebesverhältnis nicht in Erfüllung gehen kann, weil das Ich im Grunde von seiner Unfähigkeit weiß, eine intakte Beziehung aufzubauen. Der Weg in die Isolation, in die Unverbindlichkeit scheint einfacher zu sein als die Strapazen des alltäglichen Lebens zu zweit. Eine entschiedene Abkehr von den die Liebe begleitenden Gefühlen der Melancholie und Trauer scheint also nicht möglich zu sein. Sie lassen eine merkliche Verunsicherung des Ichs entstehen, die im Ausdrucksmedium von Fragen, Überlegungen, Zweifeln und Vorbehalten artikuliert und festgehalten wird. Die von Wiplinger praktizierten Befragungsformen der Liebe gelten zugleich als affektiv-emotionale Verortungsversuche und stellen eine wichtige Dimension der Ich-Konstitution dar. Auf diese Weise können dank der poetischen Sprache ‚Regungen des Herzens‘ als ein wichtiger Erfahrungsbereich der Individualbiografie reflektiert und verarbeitet werden.

 

 

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Schattenzeit, Gedichte von Peter Paul Wiplinger, Arovell 2014

Weiterführend → Lesen Sie auch den Essay Poetik des Humanen über Peter Paul Wiplinger.

 Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.