Ein vielstimmiger Roman über Primatenforscher

Wir waren allein, jeder für sich, die Geschichte ließ sich nicht teilen. Ich musste nicht mehr in den Krieg ziehen, aber der Krieg hörte nicht auf. Wir saßen in einem Backofen, schlie­fen unruhig. Vor der Haustür brannte ein Feuer, das keiner außer uns sah.

(Sieben Sprünge vom Rand der Welt, S. 381)

Was unterscheidet den Menschen vom Affen? Wer sich mit dieser komplexen Fragestellung, die vor allem in der deutschen anthropologischen Forschung seit Ende des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielte, mit literarischen Mitteln auseinandersetzt, der sollte mit den unterschiedlichen theoretischen Ansätzen vertraut sein. In Ulrike Draesners Epos, das sich nicht nur mit zwei Generationen von Primatenforschern im zeitlichen Umfeld der 1940er bis 2010er Jahre beschäftigt, ist diese Frage im Kontext eines Entwicklungs-, Migrations-, Kriegs-, Familien- und Wissenschaftsromans abgehandelt worden. Widerspricht eine solche Anhäufung von gattungsspezifischen Elementen nicht einer seriösen Auseinandersetzung mit einer solchen vielschichtigen, spannungsgeladenen Thematik? Im Prinzip ja, doch bei Ulrike Draesner handelt es ich um eine in mehreren literarischen Gattungen versierte Autorin handelt, die darüber hinaus sich auch auf dem Feld der Primatenforschung auskennt. Den ersten Nachweis erbringt die Autorin auf der Seite 559, die neben den Danksagungen an ihre Beraterinnen und Berater auch der Hinweis auf die eingesetzten Schmuckzeichen enthält, die zu Beginn der jeweiligen Textabsätze abgedruckt sind. Sie folgen, wie zu lesen ist, „der Affensprache Yerkish“, die auf 256 abstrakten Zeichen aufgebaut, das Ergebnis der Untersuchungen des Psychologen und Affenforschers Ernst von Glasersfeld am Yerkes National Primate Research Center in den USA aus den 1970er Jahren sind. Und diese Zeichen, auf der Tastatur eines Computers abgebildet, können Affen erkennen und auf diese Weise mit Menschen kommunizieren. Soweit die linguistisch-elektronische Grundlage für eine mögliche wechselseitige sprachliche Erkennung von Botschaften zwischen Menschen und Affen.

Und die sieben Sprünge vom Rand der Welt? Der Verweis auf die Website und die dort benutzten Stichworte führen zu keiner vorläufigen Aufklärung. Also hilft nur der Sprung in den Textraum, der aus einem atmosphärisch-gestimmten Einstieg und elf Kapiteln besteht. Der Einstieg, eine mit vielen Sinneseindrücken erfüllte Studie, eine Rückerinnerung an Emil, den behinderten Bruder von Eustachius Grolmann, und dessen Vater. Ort der Erinnerung: ein Wohnhaus mit Garten im Breslau der Vorkriegszeit. Und die handelnden Personen des Romans? Simone Grolmann, 52, Professorin für Verhaltensforschung, ihre Tochter Esther, der Vater Eustachius Grolmann, 83, emeritierter Professor im Bereich der Primatenforschung, Menschenaffen, wie er stets betont, vierzig Jahre Forschung. Und wie sind sie in den Erzählstrukturen verankert? Es gibt Orientierungspfade wie: Simone, Boris, Eustarius, Simone, Hannes, Jannifer, Lilly, Halka – so lauten Überschriften einzelner Großkapitel. Doch geben sie dem Leser gewisse Vorstellungen von dem, was ihn erwarten könnte? Im Kapitel Simone, das die Ziffer 1 aufweist, wird Eustachius aus der Perspektive seiner Tochter Simone vorgestellt. Bereits hier zeichnet sich die sprunghaft-assoziative Darstellungsweise der Autorin ab. Ihre Erzählerin wechselt von der Beschreibung der Verhaltensweisen ihrer Personen jäh zu markanten Erinnerungen an die Nazizeit, sie greift Oma Lillys Anekdoten aus dem 19. Jahrhundert auf, lässt Eustachius mit seinen Geschwistern Emil und Lilly an der Hand im bitterkalten Januar 1945 durch einen Breslauer schneebedeckten Wald auf der Flucht vor den Russen stapfen. Dann folgen Episoden über das Verhältnis von Eustachius und Johnny, dem Mann von Simone, nach der Geburt von Esther. Ein Familienroman also, vermutet der Leser, denn es handelt sich hier um die Aufarbeitung von Kriegserinnerungen. Erstaunlicherweise aus der Perspektive einer Frau, die Flucht und Vertreibung aus dem Schlesischen nicht selbst erlebt hat und sich dennoch vor Schnee fürchtet. Sind es, wie sie vermutet, die Alpträume eines anderen? Und spätestens an dieser Textstelle wird der Leser von dem Schicksal einer Familie gefesselt, in der sich die schlesisch-protestantische (Vater) mit der bayerischen-katholischen Linie (Mutter) mischen und dennoch einander fremd bleiben.

Auch der wissenschaftliche Plot des Romans ist spannungsgeladen, wenngleich der Leser manche Passage sich auch im Rückwärtsgang erschließen muss. Sehr überzeugend sind die Vater-Tochter-Gespräche, weil sie aus einer Mischung aus Dialogen, inneren Monologen und kommentierter Rede bestehen. Berührend ist zum Beispiel, wie Eustachius die schrecklichen Affenexperimente (Zwangsernährung, Bestrafungen etc.) aus den späten 50-er Jahren kommentiert. Er distanziert sich von ihnen, wobei er gegenüber seiner Tochter, der zukünftigen Primatenforscherin, zugleich seine Unsicherheit über den Zweck solcher Forschungen zum Ausdruck bringt. Die Erkenntnis von Simone aus einer zeitlich späteren Phase folgt sogleich: “… und wir sahen immer deutlicher, dass der Mensch nur evolutionär wurde, was er heute ist, weil er mit anderen Lebewesen und vor allem seinesgleichen (welch ein Wort) handelte, handeln musste.“ (S. 54)

Die zweite große Erzähllinie setzt mit Boris ein, einem aus einer bis 1945 in Lemberg lebenden polnischen Familie stammenden Wissenschaftler, den Eustachius für ein Projekt über Shared Memory einstellt. An seinem und dem seiner Familie dargestellten Schicksal, den vielfältigen Verflechtungen zwischen dem Leben in den östlichen Randgebieten Polens und der neuen Existenz im polnisch-schlesischen Wroclaw relativiert sich auch die deutsche Vertrieben-Problematik in der Einsicht: Wir sind alle Vertriebene, Opfer eines wahnwitzigen Eroberungskriegs.

Der dritte Erzählstrang ist Eustachius gewidmet. Er besteht aus inneren Monologen und den Kommentaren seiner Tochter Simone, die den hoch reflektierten und zugleich kindlichen Primatenforscher, beobachtet, wie dieser ständig mit seinen Affen redet, oder auch mal wie eine Affenmutter schnalzt, wenn sein Lieblingsaffe Vlek geflüchtet ist und er ihn wieder einfängt. In solchen Passagen gerät der Erzählfluss ins Strudeln. Affenliebe, verspielte Professionalität, Forscherdrang und vergebliche Liebesmühe überschlagen sich, so dass der Leser zwischen dem Spaß an der Fluchtszene und den ernsthaften Reflektionen über die Verhaltensweisen von Mensch und Tier hin- und hergerissen wird.

Es gehört zu den besonderen Eigenarten des Romans, dass er in manch verwirrenden Rückblenden auch die Vorkriegszeit und die Zweite Weltkriegsgeschichte in die fiktionale Handlung einbezieht. Hannes, der Vater von Eustachius, Lilly, seine Mutter und eine Reihe von Verwandten tauchen auf. Und alle werden Zeugen der letzten Monate des Krieges in Breslau, mit Straßenkampf, standrechtlicher Erschießung von Fahnenflüchtigen, mit der Flucht vor den Russen … In solchen Passagen herrscht Landser-Jargon, die Sätze verkürzen sich, schießen wie Pistolenkugeln durch den Text, die im Staccato-Tempo an den Augen des Lesers vorbeischießen. Spätestens hier erweist sich der ständige Wechsel zwischen präziser Beobachtung von menschlichen Verhaltensweisen und den treppenartigen Satzgebilden als abrupte Schilderung von Krieg und Vertreibung, wie sie in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa bislang noch nicht zu beobachten ist. Es ist der ständige Wechsel der Erzählerpositionen, der die Rezeption der Handlungsstränge so schwierig gestaltet. Es sind die häufigen, sich abwechselnden Sprünge durch wissenschaftliches und alltägliches Terrain, durch zivile und vom Krieg überzogene Räume, die Überlagerung von Migrationsgeschichten, der familiäre Jargon, der unverhoffte Einbau von polnischen Phrasen in die deutschsprachige Umgangsrede und zahlreiche andere narrative Verfahren, die Lektüre und Re-Lektüre der „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ so spannend und so mühselig zugleich machen. Es sei denn, die Autorin liest selbst, und in den Ohren der Zuhörer entstehen audiovisuelle Eindrücke, die sich in ein dichtes Erzählkonvolut verwandeln. In diesem alogischen Knäuel wird Evolutionsgeschichte des Menschen grundlegend in Frage gestellt. Sie kann auch nicht durch die der Affen ersetzt werden kann. Nicht infrage gestellt werden aber darf, dass sich in Ulrike Draesners mächtigem Romanepos Wissenschaft und Leidensgeschichte des Menschen so widersprüchlich und zugleich so einzigartig kombiniert werden, dass dem Leser selbst in dem kurzen Abschlusskapitel noch einmal der Atem stockt. Es ist das Schicksal des behinderten Emil, der noch in den letzten Stunden der Nazibanditen-Herrschaft in Breslau liquidiert wird: „Emil-lieb, euer Mühlchen und Mühchen“ klagt die Erzählerin im tragisch-lyrischen Ton, und der immer noch verwirrte Leser schlägt das Buch nicht zu, sondern beginnt seine Lektüre von vorne oder …?

 

 

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Sieben Sprünge vom Rand der Welt, Roman von Ulrike Draesner. München (Luchterhand Literaturverlag) 2014. 560 Seiten

 

Wir sind mehr. Bestehen aus einer Reihe von Menschen, sagt Ulrike Draesner  in einem NDR-Feature, in dem sie auch die dichterische Freiheit beim Schreiben betont, durch die es ihr gelang, die (realen) Figuren ein Stück aus diesem biografischen Kontext wegzurücken. Sowohl das Feature als auch eine Vielzahl von Quellen, Fotos und weiteren Informationen sind auf dem Weblog zum Roman zu finden.