Der Körper, mein Feind

Pfähle aus morschem Holz versinken im graublauen Wasser, das sich im diffusen Tageslicht irgendwo am nebligen Horizont verliert – sinnfälliger kann ein Blinder Übergang wohl kaum dargestellt werden. Es sind Titel und Cover von Gisela Hemaus 2013 erschienenem, nunmehr sechstem Gedichtband mit 156 lyrischen Texten und 32 Prosastücken. Hemau, eine im Online-Omnipräsenz-Zeitalter auffallend stille Lyrikerin (die gleichwohl bereits in verschiedenen Kultursendungen im Rundfunk zu hören war), bespielt in den fünf Kapiteln ihres Buches zwar ein von Dichtern aller Epochen behandeltes Thema, nämlich den Tod respektive den Übergang in eine andere Wirklichkeit. Aber die Autorin beherrscht die Klaviatur dieses Themenkreises so virtuos und scheinbar leicht, dass sie ihr immer wieder neue Töne und überraschende Klangfarben zu entlocken vermag.

Mit eindringlichen surrealen Bildern wird der Zugang zu verdrängten Wirklichkeiten erschlossen. Hemau untersucht gleichsam den Footprint, den wir in unserem Unterbewusstsein hinterlassen. Das Ich dominiert konsequenterweise die Texte, die in einem Ton geschrieben sind, der gewissermaßen in eine andere Daseinsform hinüberschwingt: „Was geht mich Pierrot an … Was sein trauriger Blick / Wenn in den Spiegel- / Scherben / der Boden sich öffnet / und fünf oder sechs / Skelette meine Haut / um sich drapieren / und tanzend / mich hineinziehen / in den grundlosen / Grund“ (Maskerade).

Das Verschwinden und die Verwandlung unseres Körpers sind die Grundmotive der Texte. Allenthalben tun sich Risse und Spalten auf, in denen die fleischliche Hülle entschwindet. In einer unumkehrbaren Metamorphose werden Hände zu Laub (Zählzwang), zu Fischen (Der vergilbte Robespierre), der Leib zum Klöppel einer Glocke (Das Läuten). Ebenso verleibt sich die Natur den Menschen ein: „Sein erinnerter Körper … verdeckt von dem Baum / der mich durchwächst / Ein Schattenweiß zwischen den Zweigen // das einmal mein Kleid war / Unwirklich und fremd mein ausgestreckter Arm“ (Im Scheinlicht).

Schon E. M. Cioran hob immer wieder hervor, dass die Angst vor uns selbst größer sei als alle Ängste, auch die vor dem Tod. Die Versuche des Menschen, vor sich selbst, dem bedrohlichsten aller Phänomene, zu fliehen, enden in den Scheinorten seiner Täuschungen und Illusionen, wie es die Prosaminiatur Hinter Mauern bedrückend beschreibt: „Sie [die Menschen] kommen nirgends mehr an … Bedrohlich auch der eigene Körper. Diese Angstengen, wenn er zum Feind wird und über sie herfällt, auf ihnen hockt, ihnen die Luft nimmt.“

Trotz ihrer Surrealität bleiben Hemaus Bilder konkret und sinnlich. Dem Leser eröffnen sie damit viel Assoziationsspielraum. Der Verwendung von philosophisch aufgeladenen ab-strakten Begriffen wie etwa dem „Nichts“ oder dem „raumlosen Raum“ hätte es da gar nicht bedurft; doch lässt sie andererseits erkennen, wie gut es der Autorin ansonsten gelingt, das Unausdenkbare in die Dingwelt zu holen.

Mit ihren traumartig verdichteten Texten schafft es die Autorin gar, in wenigen Versen ganze Psychogramme eines menschlichen Lebens zu entwerfen, so z. B. im Gedicht In der Gegend der Louise Bourgeois  oder in Wasserspiegel: „Die Häuser der / in den Wind geschlagenen / Kindheit / die das Ufer errichten / Einen Schritt weiter / ihr Zerfall // Und mein Körper / einen Wolkenaugenblick / noch / über dem lichtblinden / Grund // Schon verschwimmend.“

Neben den psychischen und physischen Grenzerfahrungen des Einzelnen werden auch die Ohnmacht des Individuums gegenüber politischen und gesellschaftlichen Zwängen thematisiert, etwa im beklemmenden Gedicht Im Namen der Freiheit oder im Prosastück Herrschaftsbeispiel: „Es ist das Jahr 1955. Gefangen in einem Klassenzimmer sitzen wir und starren auf den Pfarrer. … Wir sind Mädchen. Wir sind in unsere Röcke gezwängt. Die Röcke gehen über in den Rock des Pfarrers. … Kein Himmel, nur der Schrecken eines riesigen Horizontrunds. Und wir, die am Rand hinunterfallen.“

In einer diffusen Ferne an einem Abgrund hinunterfallen, dort, wo die Grenzen von Erde und Himmel verschwimmen – auch hier sollte der Leser wieder den Zeigefinger zwischen die Seiten legen, um sich einen Blick aufs Buchcover zu gönnen.

Dem Würzburger Verlag Königshausen & Neumann, bekannt für philosophische und kulturwissenschaftliche Publikationen, gebührt Dank, diesen feinsinnigen, zwischen den Welten schwingenden Gedichtband in sein Programm aufgenommen zu haben.

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Blinder Übergang. Gedichte und Prosastücke, von Gisela Hemau, Königshausen & Neumann · Würzburg 2013 · 216 S. · 24,80 € · ISBN  978-3-8260-5201-9