Man nehme ein Fünftel … und verschweige den Rest.

Kann man ein Geschenkbuch rezensieren?

Oder ein Buch, das der Verlag zumindest als solches anpreist?

Im Fall von Peter Tilles zweitem Aphorismenband lohnt es sich, diesen Vorbehalt zu überwinden – nicht zuletzt, weil die Nonbook- Tendenz, die jedem erklärten Geschenkbuch innewohnt, hier ebenso vielfältig wie anschaulich hervorsticht.

Zunächst ist erfreulich, dass fast 30 Jahre nach den Sommersprossen, die 1983 im Mitteldeutschen Verlag erschienen, im Oktober 2012 ein weiterer Band mit Aphorismen von Peter Tille (1938–1996) herauskam. In den letzten Jahren, da seine zahlreichen Kinderbücher immer wieder aufgelegt wurden, drohte der Aphoristiker Tille in Vergessenheit zu geraten. Außerdem verstrich zwischen dem aphoristischen Debüt und Tilles Tod über eine Dekade; die Hoffnung, dass der Steffen Verlag auf einen beträchtlichen Nachlass zurückgreifen konnte, ist daher nicht ganz unbegründet. Umso mehr enttäuscht das Resultat. Auf eine angemessene Breite im Bücherregal kommt der quadratische Band dank seiner extrem dicken Buchdeckel und aufgrund des Layouts: Die geraden Seiten sind vollflächig von Harald Larisch illustriert, Texte stehen nur auf den ungeraden Seiten. Optisch und haptisch beeindruckt das konsequent in Rot und Schwarz gehaltene, stabil gebundene Buch. Der Umfang fällt mit 132 Aphorismen allerdings sehr bescheiden aus. Schlimmer noch: Kein einziger darunter ist neu! Alle wurden dem Band Sommersprossen entnommen, der laut Untertitel „666 aphoristische Gesichtspunkte“, also ungefähr die fünffache Textmenge enthält. Gegen die Veröffentlichung einer Auswahl wäre nichts zu sagen. Jedoch wird dieser Sachverhalt geflissentlich verschwiegen. Noch nicht einmal der Name der Quelle, aus der man ad libitum schöpfte, wird erwähnt – auch nicht in Tilles Kurzbiografie, die lapidar endet: „Zu seinem Werk gehören Prosa, Gedichte, Hörstücke.“ Offen bleibt zudem, wer die Auswahl besorgte und somit als Herausgeber fungierte. Angesichts der eingangs erwähnten Geschenkbucheigenschaft ist diese Frage, zugegeben, eine rhetorische.

Dass es auch seriös geht, bewies zum Beispiel Katharina Ayen mit Tagseite – Nachtseite. Der erstmals 1996 erschienene Band versammelt Maximen und Gedanken aus dem Werk Ernst Jüngers und benennt im Anhang alle Fundstellen. Beim Vergleich der beiden Tille-Bände fällt auf, dass vor allem Texte mit störendem DDR-Kolorit ausgesiebt wurden. Zwar muss man nicht jedem Einfall zur Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, zur Mitropa oder zu Marx nachtrauern, aber der chronistische Reiz ging damit natürlich verloren. Darüber hinaus trat ein Tille-Spezifikum völlig in den Hintergrund: Die in den Sommersprossen enthaltenen Aphorismuszyklen zu Persönlichkeiten wie Albert Einstein oder Bertolt Brecht wurden regelrecht zusammengestrichen. Nur ein Einstein-Aphorismus schaffte es in die Neuauswahl. Für Brecht war gar kein Platz. Schmerzlich vermisst der Rezensent den folgenden, vielleicht sogar besten Aphorismus von Tille: „Nach Auschwitz kann man auch Gedichte schreiben, aber es müssen Gedichte nach Auschwitz sein.“ Diese geniale Adorno-Replik, die aus der moralisch-politischen Verpflichtung eine poetologische ableitet, hat natürlich in einem Geschenkbuch nichts verloren.

Demgegenüber hätte man „Wer in sich geht, verirrt sich leicht“ kein zweites Mal abdrucken müssen. Das war schon 1983 nicht mehr neu; schließlich notierte der 1973 verstorbene Dieter Leisegang: „Er ging in sich. Kein Wunder, dass er sich verlief.“ Bei einer nicht minder populären Idee wie „Viele denken nach, wenige vor“ lässt sich kaum mehr recherchieren, wer sie zuerst hatte – Tille wahrscheinlich nicht. Das größte Husarenstück, das sich der Verlag leistete, bestand darin, einen Spruch wie „Unter Strohköpfen sind Geistesblitze lebensgefährlich“ zum Buchtitel zu küren. Der Rezensent kennt unzählige Aphoristiker (z.B. Jupp Müller, Gerhard Jörgensen, Hans Derendinger, Wolfgang Mocker, Detlef Dornbach, Manfred Ach, Gerhard Uhlenbruck, Ludwig Fienhold und Jürgen Flenker), die vor der leichten Entflammbarkeit von Strohköpfen warnten. Ein derart abgegriffenes Wortspiel heute noch an exponierter Stelle zu verwenden, zeugt von eklatanter Unkenntnis der Materie. Problematisch, wenn auch aus einem anderen Grund, ist die Wiederaufnahme des folgenden Aphorismus: „Ein ordentlicher Pariser Pflasterstein hat mindestens einmal einer Barrikade gedient.“ Das Original lautet nämlich: „Ein ordentlicher Pariser Pflasterstein hat mindestens einmal einer Barrikade gedient. Hier irrte Goethe: Leipzig ist kein Klein-Paris.“ Die Kürzung kommt diesem Aphorismus durchaus zugute. Dennoch setzen derartige Änderungen das Einverständnis des Autors voraus. Bei posthumen Herausgaben verbieten sie sich von selbst.

Die Gelegenheit, Tilles Aphoristik durch eine strenge Selektion insgesamt vorteilhafter aussehen zu lassen, blieb ungenutzt. Das qualitative Spektrum der Sommersprossen bildet sich in seinen Extremen unvermindert ab. Es reicht von Kalauern wie „Man soll den Schnaps nicht vor dem Rollmops loben“ über metaphorisch hervorragend gelungene Sätze, die den Kinderbuchautor erkennen lassen („Wenn das Kind mit dem Stock in den Dorfteich schlägt, zittert die Sonne“), bis hin zu Einsichten mittlerer Bedeutungsschwere wie „Durchs Schlüsselloch sieht man mehr als durch die offene Tür“ oder „Betrüge den Misstrauischen, es ist sein innerster Wunsch.“ Dabei könnten die letzten beiden Sätze für heutige Leser, im Unterschied zu 1983, einen fast dämonischen Doppelsinn entwickeln – vorausgesetzt, nötige Hintergrundinformationen würden nicht unterschlagen. Aber hier ist man wieder bei versäumten Chancen und beim Manko des Geschenkbuches. Die Journalistin Christiane Baumann geht in ihrer 2006 publizierten Studie Das Literaturzentrum Neubrandenburg 1971– 2005 ausführlich auf Peter Tilles, wie sie selbst schreibt, „zutiefst tragische“ Lebensgeschichte ein. Tille war im Zeitraum von 1965 bis 1976 als Inoffizieller Mitarbeiter für das MfS tätig. Unter anderem verriet er seinen Schriftstellerkollegen Ulrich Schacht, was zu dessen Inhaftierung 1973 führte. Ab Mitte der 1970er Jahre wurde Tille selbst überwacht. Als 1992 seine Stasi- Vergangenheit publik wurde, musste Tille als Mitglied des Pasewalker Kreistages zurücktreten. Von all dem ist in der Kurzbiografie nicht die Rede. Diese vermeldet in bedenklicher Knappheit lediglich: „Ab 1990 arbeitete er für zwei Jahre als Abgeordneter des Pasewalker Kreistages.“
Bei aller Fragwürdigkeit muss man dem Band zumindest lassen, dass er Peter Tille als Aphoristiker wieder ins Gedächtnis ruft. Wer sich ernsthaft für diese Form der Literatur interessiert, kommt an den heute nur antiquarisch erhältlichen Sommersprossen nicht vorbei.

 

 

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Unter Strohköpfen sind Geistesblitze lebensgefährlich, Aphorismen von Peter Tille, Steffen 2013

Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.