Wer die Beschreibung einer gleichsam reflexartigen Alltagsgeste für den Einstieg in eine turbulente Geschichte benutzt, den Leser mit unerwarteten Situationen so in Spannung hält, dass er nicht erwarten kann, wie die verrückte story ausgeht, der ist ein maître de plaisir. Franz Hohler, der gerade seinen 70. Geburtstag feierte, hat mit Fug und Recht diesen Titel als ein raffinierter Erzähler verdient, der die Dauer zwischen der Signalisierung eines Ereignisses und dessen mentale Verarbeitung bei seinen Lesern abzuschätzen weiß. Wie auch im Fall seiner Protagonistin, der Pflegefachfrau Isabelle, die auf dem Wege zum Zürcher Flughafen sich von einem älteren Mann ihren Koffer tragen lässt, der am Ende einer Treppe angekommen, plötzlich umfällt. Alle ihre Versuche, ihn durch Massage zu reanimieren, scheitern, selbst die medizinische Soforthilfe muss den Tod des Passanten registrieren. Für Isabelle, die durch diesen Zwischenfall ihren Flug nach Neapel verpasst hat, von wo aus sie für zwei Wochen mit ihrer Freundin ihren Urlaub auf Stromboli verbringen wollte, beginnt nun eine ganz andere fast abenteuerliche Entdeckungsreise: der Suche nach der Herkunft des so jäh Verstorbenen. Dabei kommen geschickt arrangierte Ereignisse ihr zu Hilfe. Das Handy des Verstorbenen, das Isabelle zufällig eingesteckt hat und das unerwartet klingelt und die Recherchen der Zürcher Polizeidienststelle, die zu dem Ergebnis führen, dass es sich um gewissen Martin Blancpain, einen Kanadier aus Montreal handelt. Es sind zwei Handlungsstränge, die den plot von nun an vorantreiben: Isabelles Suche nach dem mysteriösen Anrufer, der mitteilt, dass Marcel auf keinen Fall zu der Beerdigung auf dem Friedhof in Nordheim kommen soll, und die Nachricht der Polizei, dass die Witwe des Verstorbenen Veronique nach Zürich kommen werde, um Abschied zu nehmen von ihrem Marcel. Ob sie denn die Witwe treffen wolle? Spätestens zu diesem Zeitpunkt konzentriert sich die Geschichte, in die Sarah, die Tochter von Isabelle in der Zwischenzeit involviert ist, auf die Herkunft von Marcel. Über sie informiert die in der Zwischenzeit in Zürich angekommene Witwe, die in einem langen, auf französisch geführten Gespräch Isabelle in die Hintergründe der Schweizer Herkunft des Verstorbenen informiert. So weit, so klar, könnte an dieser Stelle ein routinierter Leser sagen: eine vertrackte Familiengeschichte, nichts Wesentliches. Doch Hohlers Erzähler ist viel raffinierter als vermutet. Er setzt nun auf Sarah, die dunkelhäutige 22-jährige Jurastudentin, Frucht einer Liaison, die ihre Mutter mit einem afrikanischen Arzt aus Mali hatte. Sie kümmert sich von nun an – gemeinsam mit ihrer Mutter – um Veronique, betreut sie auf deren Dienstwegen durch die Schweizer Behörden auf der Suche nach der Herkunft von Marcel. Und der ist, soviel sei hier verraten, in einer betreuten Familie aufgewachsen, deren Angehörige es verhindern wollten, dass Marcel Abschied nehmen wollte von seiner Pflegemutter. Und der geheimnisvolle Fremde, der Isabelle auf das Handy des bereits Verstorbenen angerufen hatte? Auch er taucht auf und stellt sich zu einem klärenden Gespräch mit Isabelle. Dieser Albert Meier, der den Toten mit allen Mitteln in ein übles Licht stellen will, erweist sich als einer Trauergäste auf dem Friedhof von Nordheim, auf dem die Pflegemutter von Marcel beerdigt wurde. Ein Sachverhalt, der Isabelle misstrauisch macht und sie in ihren nunmehr kriminalistischen Bemühungen anspornt. Auch die anderen beiden Spurensucherinnen sind in der Zwischenzeit auf der Suche nach jenem Wyssbrod, alias Blancpain, fündig geworden. Nun häufen sich die Überraschungen und die Enthüllungen über die unbarmherzige schweizerische Gesellschaft und deren Amtsträger. Und nicht nur diese Einblicke in die puritanischen Regeln und Gesetzmäßigkeiten seines Vaterlands erlaubt der Erzähler. Er beleuchtet auch die komplizierten Beziehungen zwischen den Einheimischen und den farbigen Einwanderern am Beispiel von Sarahs Haltung gegenüber ihren afrikanischen „Halbschwestern“. Zunächst konstatiert der Erzähler Sarahs Mangel an Solidarität mit ihnen, dann aber verändert sich ihre Einstellung. Sie lernt die dunkelhäutige Nubi kennen, deren Vater, Jo, augenscheinlich über magische telepathische Fähigkeiten verfügt. Und wieder gewinnt die Handlung an Fahrt. Eine Gefahr, so Jo in seinem auf Englisch geführten Gespräch mit Sarah, lauere auf die Frauen.
Doch das Finale entfaltet sich weniger dramatisch als vermutet, wenngleich die Aufdeckung der mysteriösen Umstände, unter denen Marcel aufgewachsen war, von immer neuen Überraschungen begleitet ist. Auch diese Peripetien zeichnen einen Roman aus, der noch im Schlussteil mit der Entdeckung des Tagebuchs von Marcel den Leser verblüfft. Doch nicht nur das spannungsgeladene Sujet mit seinen zahlreichen Wendungen und Windungen machen die mehr 200 Druckseiten zu einer vergnüglichen Lektüre. Es ist auch die geschickte Dialogführung, die begleitet von den Kommentaren des Erzählers dem Leser die Fähigkeit erlaubt, mit den Protagonistinnen zu denken, zu fühlen und zu handeln.
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Gleis 4, Roman von Franz Hohler, München (Luchterhand) 2013, 220 S., 19,99 €. ISBN 978-3-630-87420-3