Anmerkungen eines Ketzers

 

Ich mag Science Fiction. Vor allem so Leute, die sich frei durchs halbe Universum bewegen, von Captain Kirk bis Perry Rhodan. Mit Raumschiffen und durch Wurmlöcher oder Stargates.

Nun geht das nicht so einfach. Die Physik hat – zumindest bislang – etwas dagegen. Schneller als das Licht geht es nun mal nicht mit der materiellen Fortbewegung. Und man könnte auf die Idee kommen, dass das gut ist. Denn die Menschheit in ihrer jetzigen Verfassung käme einem Heuschreckenschwarm gleich, der auf den Kosmos losgelassen würde. Daneben nähme sich das von den Fundamentalisten geplante Armageddon aus wie eine Kindergartenparty.

Wir müssen anfangen, planetarisch zu denken. Alle.

Denn wir sind mit der Endlichkeit unserer materiellen Ressourcen konfrontiert. Unwiderruflich. Wir konstruieren unsere Welt, behauptet der Radikale Konstruktivismus. Ist daran auch nur ein Quäntchen wahr, dann ist zu folgern, dass wir für unsere Konstruktionen auch die Verantwortung übernehmen sollten. Und für alles, was davon betroffen ist.

Stattdessen nehmen wir es hin, dass unsere Lebensgrundlagen von finanziellen Massenvernichtungswaffen bedroht sind. Der Kabarettist Georg Schramm fügt mit Blick auf Warren Buffett hinzu: „Der Krieg Reich gegen Arm ist immer ein Angriff auf die Menschenwürde.“[604] Immer wieder. Die sogenannte Menschenwürde verbleibt dabei als hohles Etikett, solange Mitmenschen weiter erschlagen, vergewaltigt, gequält oder durch moderne Formen der Sklaverei ausgebeutet werden können.

Wir haben damit zwar einen prominenten Begriff erfunden, der es bis nach ganz vorn in viele Nationalverfassungen geschafft hat, allerdings ist es uns nicht wirklich gelungen, ihn mit Leben zu füllen. Die finanziellen Massenvernichtungswaffen aber gewinnen ihre Gefährlichkeit aus zwei Elementen, dem der Blödheit und dem der Habgier, bzw. der Boshaftigkeit.

Etwa seit Ronald Reagan beobachten wir eine epidemische Vermehrung der vulgäridealistischen Wirtschaftsapologeten, für die Welt ein simples Input-Output-System darstellt im Sinne einer Blackbox, wo nur das Verhältnis von dem, was hinten raus kommt, zu dem, was vorne rein geht, zählt. Monokontextural und auf monetärer Basis. Rückkopplungen und Selbstreferenzen existieren in deren betriebswirtschaflich kontaminiertem Lineardenken schlicht nicht. Da hilft es auch nicht, dass „Denktanks“ selbsternannter sogenannter Eliten wie Pilze aus dem Boden schießen. Unsere Probleme werden nicht für uns von Gruppen gelöst, deren Mitglieder sich bei Schampus und Canapés treffen. Um Problemhorizont zu entwickeln, muss man schon selber hinlangen. Deren Erfolge, die Erfolge unserer Eliten, sind die Erfolge von gestern, die die heutigen Probleme erst verursacht haben, folglich taugen deren Denk- und Handlungsgrundlagen nicht für das Morgen.

Besonders signifikant für unsere Zeit ist dieses Heer an ebenfalls selbsternannten Beratern. Diese Symptome unserer Krise des Denkens scheinen genau zu wissen, erstens welches das wichtigste Problem ist – natürlich immer das der eigenen Interessenlage und Marktposition – und zweitens, wie dieses zu behandeln ist. Man erkennt die Scharlatane und verbalen Hohldonnerer [605] ziemlich genau an der verarmten Problemstruktur. Fast immer gibt es ein und nur ein Problem, dass so dringend ist und an dem alle anderen dranhängen, dass es unbedingt sofort, am besten gestern, in Angriff zu nehmen ist.

Zum Beispiel ist es für den Neurologen Manfred Spitzer die digitale Demenz, der die Menschheit über kurz oder lang anheim fallen wird, wenn sie ihre Kinder weiter vor Bildschirme setzt und Smartphones benutzen lässt. Mittlerweile gibt es auch eine ganze Reihe von Digitaltherapeuten, die uns von der Geißel Email bis hin zur Plage Facebook befreien wollen. Die Möglichkeit konstruktiver Transformationen wird nicht einmal im Ansatz diskutiert. Psychotherapie und Psychoanalyse sind ohne Zweifel Spätfolgen von Buchdruck und Wissenschaft. Wäre dem nicht so, dann hätte es sicher schon zur Einführung des Buchdrucks Lese- oder gar Bildungssuchttherapeuten gegeben.

Neue Technologien und Kulturtechniken gehen immer einher mit Pro & Contra-Spielchen, die seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch das Fernsehen, das ja nun in hochaufgelöster Farbe und bald auch in 3D erhältlich ist, eine Polarisierung gewinnen, die jedoch eher an die Schwarzweiß-Bildtechnik erinnert. Da gehen die leiseren Töne und komplexeren Inhaltsmelodien unter, z.B. die – hier stellvertretend für sehr Viele genannt –  eines Noam Chomsky, eines Erwin Chargaff oder die eines Richard Sennett, die er nicht nur in seinem letzten Werk „Zusammenarbeit“ [606] – anschlägt.

Kennzeichen für diese Ratgeber oder Wissenschaftler oder meinetwegen Ratgeberwissenschaftler ist die Gesamtschau, das Eingebettetsein des jeweils beschriebenen Problems oder Teilproblems in das Gewebe eines größeren Ganzen, das Beschreiben und transparent Machen von Zusammenhängen innerhalb eines ganzen Beziehungsfeldes. Und das ohne den Anspruch, eine Heilslehre zum besten geben zu wollen.

Diese Leute und viele andere wissen, dass Erkenntnis eben nicht von heute auf morgen so einfach auf Abruf oder Mausklick zu haben ist. Denn die Tatsache, dass irgendwo in einem Buch oder im Internet sich jemand zu einem Problem sehr kompetent geäußert hat, heißt noch lange nicht, dass man diese Äußerung erstens gefunden und zweitens auch verstanden hat.

Verstehen ist Anstrengung, Denken ist Anstrengung. Wir brauchen eine neue Kultur der Anstrengung, die das Denken mitberücksichtigt. Eine, die sich vielleicht auch aus der Erkenntnis motiviert, dass der Genuss eines Glases Limonade oder eines kühlen Biers an einem Sommerabend um ein Mehrfaches größer ist, wenn man vorher eine Weile geschwitzt hat. Die Hürde, die genommen wurde, ist im Posterlebnis oft umso befriedigender, je höher sie wahrgenommen wurde.

Und der Rest? Er handelt und publiziert getreu dem Motto: „Bescheidenheit ist eine Zier, doch besser geht es ohne ihr …“ Das führt unmittelbar in ein leistungsunabhängiges Selbstwertgefühl und über kurz oder lang in die Depression. [607,608]

Daneben gibt es noch Leute, durchaus bewegte und sympathische Leute, in deren Köpfen die Maus Frederik, die Möwe Jonathan, der kleine Prinz und viele Andere seltsame Partys feiern. Partys, deren Getränke aus sozialromantischen Vorstellungen und dem unverbrüchlichen Glauben an die apriorische Existenz einer höheren Wertestruktur gebraut sind. Aber moralische Entrüstung allein hilft nicht. Denn „moralische Sollensforderungen an die Realität markieren […] genau die Stellen, an denen eine Gesellschaft nicht lernbereit ist“, wie Norbert Bolz einmal geschrieben  hat. [609]

Werte – im besten Sinne – sind aber das, worauf wir Menschen uns dank unserer Kommunikationsgaben und -möglichkeiten verständigen, bzw. verständigen sollten. Wer Werte verabsolutiert und nicht hinterfragt, leistet fundamentalistischen Denkverboten Vorschub. Und das in einer Zeit, in der wir vielleicht nichts so sehr brauchen, wie unsere Rationalität.

Als Voraussetzung dafür bedarf es nicht allzu viel, wir müssen uns nur mit offenen Sinnen in der Welt umsehen. Und dann unser Denken und unsere Arithmetik verändern und weiterentwickeln. Und unsere Maschinen effizient nutzen. Im Interesse eines Gemeinwohls. Und was wir unter Gemeinwohl verstehen wollen, darüber müssen wir uns unterhalten. Dringend.

Sie und ich, WIR sind das NETZ.

 

 

 

***

Vor zehn Jahren erschien: TRANS- Reflexionen über Menschen, Medien, Netze und Maschinen, Aufsätze 1996 – 2013 von Joachim Paul.

WeiterführendEin Pirat entert das Denken