Gottfried Keller

 

Man kann sich so Vieles erklären, aber vieles das man sich nicht zu erklären vermag, nimmt Tage Wochen ja oft Jahre von Einem Besitz, steigt immer wieder ins Gedächtniss, erklärt zu werden, zurück. Am ersten Tage meines Hierseins in der schönen Stadt Zürich begegnete ich ihrem grössten Dichter Gottfried Keller, und seitdem fast alle Woche einmal in der Bahnhofstrasse oder irgend steht er im Türeingang eines der alten Häuser aber auch auf dem Lindenhof auf der Bank gerade am Brunnen den Kopf auf den Knopf seines Spazierstocks wiegend, sitzt er der grosse Demant der wasserdemantensprudelnden Stadt der Schweiz. Immer schaut er mürrisch zur Erde oder gar zu den Bäumen auf oder selbst in das Mittagblau des Himmels. Aber Ich habe Gottfried Kellers Phantom in mein einsames Herz geschlossen. Er kommt mir immer gerade wenn ich getröstet sein möchte und ich les dann von seinem weiten Gesichte die zweite Stimme zu meiner ernsten Klage längst vergilbten ersten Supran. Dichter begleiten sich noch im Tode in Lied und Wort und Schritt. Davon bin ich nun überzeugt. Ich habe nie gefragt nie in Kallendern nachgeschlagen wann der grösste schweizer Dichter gestorben ist ich wusste nur dass er gestorben ist und mir doch begegnet so oft am lichten Tage aber auch am Abend irgend wo unter dem Laub eines Platzes.

 

 

 

 

 

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Essays von Else Lasker-Schüler. Mit einer Einbandzeichnung der Verfasserin. Verlegt bei Paul Cassirer in Berlin 1920

Weiterführend → Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.