Spracherweiterung durch formale Zwänge

Was 1998 mit Ulf Stolterforts fachsprachen I-IX. begann, scheint sich unterdessen zu einer Literaturrichtung entwickelt zu haben. Eine durchbildete Generation von Lyrikern durchforstet das Sprachmaterial der Fremd- und Fachsprachen nach Begriffen, die es vermögen, in ihrer poetischen Überformung etwas auf den Punkt zu bringen, das siesonst nur umschreiben können. Fachsprache und Mediensprache verdichtet sich bei den Stolterfortdianern nicht immer zu einem neuen stimmigen organischen Gedichtganzen.

Fachsprache reloaded

In ihrem neuen Gedichtband folgt Dagmara Kraus der Logik von Text, Satz und Spiel. Sie zeigt, wie das Postlyrische einem neuen Virtuosentum den Boden bereitet. Die Sprachcollagistin nutzt dabei eine Quelle, die bisher eher selten als Steinbruch für Gedichte genutzt wird: Plansprachen, wie sie immer wieder erfunden werden, um dem polyglotten Chaos in einer Zunge zu antworten. Die Einführung und Erfindung der Plansprachen, sollte der babylonischen Sprachverwirrung ein Ende bereiten und die internationale Kommunikation erleichtern. Unter einer Plansprache versteht man, im Gegensatz zu einer Weltsprache, eine bewußt und planmäßig ausgearbeitete künstliche Sprache. Esperanto ist die wahrscheinlich bekannteste und auch die einzige Plansprache die sich in gewissen Kreisen bislang wirklich durchsetzen konnte.

Kein Spiel funktioniert ohne Regeln

Das hier angewandte Konzept erinnert an Potentielle Literatur, eine Kunst, epische oder lyrische Werke unter Einhaltung von bestimmten selbstgewählten Regeln zu erstellen. Grundgedanke der potentiellen Literatur ist es, den Regeln der Sprache erfundene, aber auch wiedergefundene Regeln gegenüberzustellen. Dabei werden auch Regeln verwendet, die schon seit Jahrhunderten in immer wieder verschiedenen Kontexten in Gebrauch sind. Der Satz Kein Spiel funktioniert ohne Regeln wird von den Vertretern potentieller Literatur auf das literarische Schaffen angewendet: Zunächst wird eine Regel vorgegeben, die eine sprachliche oder auch eine mathematische Vorgabe sein kann. Dann wird darauf aufbauend das Gedicht erstellt. Ein Blaupause für diese Art von Literatur sind die Hunderttausend Milliarden Gedichte von Raymond Queneau: zehn Sonette, in denen alle Verse miteinander kombiniert werden können. Konzeptionell gleichfalls beeindruckend gelöst ist Horae ein Gedichtzyklus der Hungertuchpreisträgerin Swantje Lichtenstein und auch Dichterloh, ein Kompositum in vier Akten, fällt mir spontan dazu ein.

Eine Menschheit, eine Sprache

Diese Lyrikerin spielt quasi Triebfahrzeugführer und dekliniert das Ausgedachtengerede des Technowesens fahrplanmäßig durch. Vier dieser Plansprachen stellt Kraus dem Leser namentlich vor: Myrana von Josef Stempfl, Volapük von Johann Martin Schleyer, etwas unausgegoren wirkendes Tcatcalaqwilizi  und vor allem Langue bleue, nach ihrem Erfinder Léon Bollack auch Bolak genannt. Dessen Wunsch war, dass Bücher in Langue bleue in blauer Farbe gedruckt werden – den Wunsch haben Autorin und Verlag ihm zumindest für Gedichte in Langue bleue erfüllt. Durch diese Kombination entsteht ein undefinierbares Gefühl des sich Vertrautfühlens, mit der Sprache, der Mentalität, den Technikern.

Kein Gedicht ohne Gesetz?

Der Leser muß ein Enträtselungsfieber verkraften, denn nicht erfüllt hat Kraus die Bollacksche Erwartung, daß seine Sprache nur für den Handel genutzt werde, nicht aber für Literatur: „La devise de la langue bleue : dovem pro tle, ‚deuxième pour tous’ indique clairement que sa seule ambition doit être de traduire les besoins les plus usuels, ceux-là même qu’implique le mot ‘commerce’ dans sa plus large acceptation … Cette délimitation exclut toute prétention littéraire. La littérature … ne peut trouver place dans un idiome artificiellement crée par un individu. Cette ligne de démarcation est de la plus grande utilité …“ Das klingt so, als sein es in der Werkstatt für potentielle Literatur (Ouvroir de littérature potentielle, abgekürzt Oulipo) entstanden. Die Entwicklung dieser Poesie ging klarerweise in Richtung Sprache, wie sie in einem einzelnen träumt und wacht. Auch wenn sie nicht den Level des Gedichtbuchs Sleutel voor de hoogduitsche Spraakkunst erreicht, ist Kraus mit kleine grammaturgie  ein charmanter Eskapsimus gelungen.

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kleine grammaturgie von Dagmara Kraus. roughbooks # 26