Oh, heilig-graues liber profundus, oh sanctus sacer mundus!

 „Alles Lebendige ist heilig. Das Sakrale ist nicht a priori theistisch“.

Mit diesem Aphorismus schließt Axel Matthes in seiner Text-Sammlung das Feld seiner Erkundungen. Er verwendet dabei einen Fokus, dem sich der Leser über fünfhundert Seiten lang mit immer neuen Aspekten der komplexen Welt des Heiligen genähert hat. Unter den dort zitierten Quellen findet er eine weitere leitmotivische Aussage eines in der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte nur wenig bekannten Schriftstellers und Sammlers. Hans Jürgen von der Wense (1894-1966) erfasst mit seiner Erkenntnis, „Das Selbstverständliche ist das eigentliche Wunder. Alle Gewohnheiten waren einmal heilige echte, und das Alltägliche war im Anfang Tiefsinn,“ (S.544) die Kernüberlegungen des Herausgebers.

Axel Matthes, Mitgründer des Verlags Rogner und Bernhard, langjähriger Verleger von Matthes & Seitz, Lyriker, Mitherausgeber von Schriften zur Kunst und Wissenschaft, hat mit diesem voluminösen Band ein Kernfeld unseres postmodernen Weltempfindens getroffen, das erst durch eine aufmerksame Lektüre der einzelnen Texte zu erschließen ist. Doch wo beginnen? Ist die Schaukel, auf der Jean Giono, der sich als magischer Realist bezeichnete, der sensible Ausgangspunkt für die tiefsinnige Betrachtung des Heiligen im Alltag? Auf ihr sitzend signalisiert Gionos schwingender Körper das Bemühen um einen „Standort“, wobei er augenscheinlich ausruft: streift nur alle Masken ab und ihr werdet auch Realisten.

Und schon geht die Reise los! Mit Beobachtungen, Bekundungen von Freuden und Fingerzeigen aus der Feder renommierter Philosophen und Dichter. Dann der erste Sprung in einen Text des iranischen Kulturphilosophen Daryush Shayegan, der uns eine kompetente Einführung in die „Monopolisierung des Heiligen in das Alltagsleben“ liefert: Wer den Satz „Die Rätsel der Leere sind mehr als ein peripherer Reflex der Gattung Mensch, der Mensch ist mehr als die  Saldos seiner selbst“ nicht verinnerlicht hat, der erhält einen kurzen Nachhilfeunterricht bei Roger Gilbert-Lecomte. Er bezeichnet die Religion als Institution, „die alle Leidenschaft auf sich zieht“, nämlich die Gier, übermäßiges Streben, Verzweiflung und Stolz. Doch schon auf derselben Seite verwirrt den Leser ein gewisser Klemm, der in einem langen Poem den Aufbruch „in die Jagdgründe, Nimrode der Traumvogesen!“ (S. 39) fordert. Dann folgt ein Brief von Antoine de Saint-Exupery, in dem der bekannte Schriftsteller seine risikoreiche Begegnung mit katalanischen Anarchisten im spanischen Bürgerkrieg schildert. Dabei habe ein Lächeln – als Zeichen eines versteckten Heiligen? – über Leben und Tod entschieden.

Vielleicht bringt uns das Leuchten auf den Seiten 40 bis 62 zum Schwingen zwischen Ost und West? Zumindest wird der Leser zu Beginn des zweiten Themenfeldes mit Gedichten, und Sentenzen aus dem ostasiatischen Kulturkreis konfrontiert, bevor er in die „Wahrnehmung des Offenen“ eintaucht. Ein Text, der wohl vom Herausgeber stammt, und östliche Weisheit mit westlichen philosophischen Erkenntnissen verbinden möchte. Spätestens hier wird erkennbar, dass die meisten der in diesem Sammelband abgedruckten Textarten nur einen assoziativen Zusammenhang untereinander entwickeln.

Erst im Abschnitt ‚Jeder Augenblick ist ein König der Ewigkeit’ setzt mit der Abhandlung von Gerd Bergfleth über den Augenblick der Ewigkeit eine sinnstrukturelle Verdichtung mit dem Verweis auf Georges Batailles Aufsatz „Das Heilige“ ein. Diese Spur führt über ein breites Feld, auf dem europäische Geister ihre Überlegungen über das Heilige hinterlassen haben, noch einmal zu Batailles „Anfangspostulat“. in der der französische Philosoph über die Implikationen reflektiert, „wenn ich im gegebenen Augenblick der Sorge um den folgenden Augenblick entgehe“ (S. 93) Welche Funktion die unmittelbar danach abgedruckten Brief von Gustav Graf von Schlabrendorf einnehmen soll, bleibt der Suchbewegung des Lesers überlassen, der leider keine Orientierungslinien des Herausgebers entdecken kann.

Löst der Abschnitt ‚Dinge sind Sachwunder. Alltäglich wird heilig’ (S. 163ff.) einen Funken aus? Ja, denn Roland Barthes spricht dem Buch den Charakter eines großen heiligen Projekts ab. Dann aber meditieren Musiker und Musikkritiker über das Phänomen des Swing in den verschiedenen Stilrichtungen des Jazz, bevor der Leser in die Natur als Alltag und Offenbarung eingeführt wird … um endlich mal wieder etwas von Jean Paul, M.J. Lermontow (ah, dieser russische Romantiker!), Henry David Thoreau (Naturmystiker!), Hans Magnus Enzensberger (unser Allround-Dichter!) und Susanne Matthes zu lesen, die uns in das Atmen von Lilien einweiht.

Habe ich bis zu diesem Zeitpunkt, gemeinsam mit den vielen zitierten Großdenkern und –dichtern, die Fassung beim Lesen verloren, wie es der Umschlagtext verspricht? Ich hätte sie vielleicht, wenn ich einen Leitfaden in diesem Sammelsurium von klugen Aphorismen, poetischen Traktaten, theologischen Reflexionen, Ersatzhandlungen für Gebete, medizinischen Abhandlungen und vielen anderen erbaulichen Texten entdeckt hätte. Nicht zuletzt aus diesem Grund huscht mein Blick immer häufiger von Abbildung zu Abbildung, um dann das „heilige Buch“ enttäuscht beiseite zu legen. Findet sich der homo religiosus, der sich seit Jahrtausenden seine Illusionen von der Überwindung des Todes bewahrt hat, in diesen so unterschiedlichen Texten wieder? Sind seine geheimsten Visionen und Wünsche in diesem lose zusammen getragenen Almanach aufbewahrt? Ich schließe das gewichtige Buch mit einem aufmerksamen Blick auf „Das alltägliche Eurosieb“ mit dem Copyright für Heide Lindecke und sehe dunkle Trichter auf dem Umschlag: Oh, heilig-graues liber profundus, oh sanctus sacer mundus!

 

 

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Das Heilige im Alltag oder Vom Swing der Dinge. Gesammelt von Axel Matthes. München (Diederichs) 2012