Zwischenruf: Establishment-Avantgarde

Es gab eine Zeit, da war die künstlerische Avantgarde künstlerisch, da war sie tatsächlich vorn, vorn auf einem schöpferischen Weg. Die Empörung über die Gaskrieg-Massaker in Verdun und anderswo und auch über das Sterben so vieler  Künstler „für eine Hure mit verfaulten Zähnen“ (so Ezra Pound über das bzw. die Europa des Jahres 1914-1918), der aus nacktem Hunger geborene Aufschrei eines Malers wie Chaim Soutine, voller Mitleid mit jeder Kreatur, auch mit dem armen Menschen, die Prophetien und Verwünschungen gerade der großen Lyriker wie Georg Heym oder Georg Trakl, die Farbexplosionen des deutschen Expressionismus oder des italienischen Futurismus, die kühle Zauberwelt de Chiricos oder von Henri Michaux, die klaren Dome und Landschaften Feiningers, das Theater von Max Reinhardt, die Musik Strawinskijs oder Hindemiths – all das und vieles andere zwischen 1900 und 1950 war zunächst einmal aus den Köpfen und Herzen freier Geister geschaffen – es ordnete sich keinen Marktzwängen unter oder verdankte diesen gar seine Entstehung. Allerdings war es, ehe es entstehen konnte und nachdem es in die Welt und auf den Marktplatz getreten war, ähnlich konfrontiert mit Geldgier, Verwertungs- und Verwurstungsstreben war wie jede heutige Kunst. Aber damals war eben in aller Regel die Avantgarde unbequem und unerwünscht, sie brachte den Zwischenhändlern (den Galeristen, Kuratoren, Impressarios …) keine fetten Honorare und kaum Ehre. Genau das hat sich geändert. Zwar wird immer noch eine bis zum Koterbrechen ausgequetschte und abgeleierte Traditionsmasche in bestimmten Sektoren gut bezahlt (etwa in der Konzertsaal-Musik), aber mehr und mehr fließen öffentliche Gelder und private Mittel in ein gut geschmiertes und flott rotierendes Avantgarde-Karussell, das sich ebenso steril wie unaufhaltsam dreht. So wie die Politik zunehmender Verrottung und Verrothung unterliegt, so dominieren in der Kunst die mediokren Vermittler, die theatralischen Wiederaufbereiter, die ebenso berechnenden wie berechenbaren Großmeister einer anpasserischen Verformungsmanie und Provokationsinflationierung.

 

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Ein Hinweis auf das Geamtwerk von Rolf Stolz: WOLFSSEKUNDEN. Kurze Prosa 1995-2010. WERKE Band 1“, mit einem Nachwort von Nikolaus Gatter (367 Seiten, fester Einband, 22 x 17 cm, 24,90 €, ISBN 9783746092430).

Wolfssekunden ist nach Der Unvermiderte (1991 bei Dipa in Frankfurt am Main), Der Abschiednehmer (2003 im Verlag Freiburger Echo in Freiburg im Breisgau) und Gwalt (2010 im KIDEMUS Verlag, Köln) Rolf Stolz vierter erzählender und prosaischer Band. Es sind einfache Geschichten über Menschen und ihre Schicksale, meist zwischen 1900 und 1999, zwischen Deutschland und der Nirgendwo-Welt angesiedelt. Diese Prosa bewegt sich zwischen Traumphantasien, (auto)-biographischen Fragmenten, Kurzkrimis, Parodien, Historien und Legenden bewegen sich diese Texte durch Zeit und Raum.