Luftkuss

 

Zwanzig nach zehn. Kathrin reckt sich unter der Decke. Sie liegt seit einer halben Stunde wach im Bett und starrt die Wände lä­chelnd an.

– „Jetzt Schluss mit der Tagträumerei, auf, ich habe Hunger!“

Mit einem Ruck schwingt sie sich über die Bettkante und steht auf. Sie ist nackt und friert. Sie nimmt unter dem Bett ihre Hausschuhe hervor und vom Boden ihre Unterwäsche, die sie gestern dahin warf. „War das eine Show, was? But leave your hat on!“ trällert Kathrin und zieht die Höschen an. Sie müsste duschen. Macht sie später. Erst einmal will sie etwas essen.

Das Kleid liegt zerknittert zu ihren Füßen. Sie nimmt es in die rechte Hand, hält es hoch und mustert mit kritischem Auge die Falten. Sie zieht den Saum dreimal kräftig nach unten, führt die Hand über den blauen Stoff und hängt das Kleid in den Schrank. Sie holt das rote Hauskleid. Der Kragen und die Manschetten zerfasern an einigen Stellen, die Kanten der Taschen auch. Sie müsste es flicken, irgendwann, aber nicht heute, Sonntag. Sie öffnet die Schublade der Kommode, kramt und nimmt eine rote Socke in die Hand. Wo ist die andere? Sie lässt die rote Socke fallen und fischt aus dem Durcheinander von Strumpfhosen und Socken zwei weiße heraus.

Unordnung ist ein Ausdruck verführerischer Weiblichkeit, ist Kathrin der Meinung. Eine Taktik der Koketterie. Sie deutet auf die liebenswürdige Zerstreutheit eines tagträumerischen Wesens hin, das den Beistand eines bodenständigen Mannes braucht. Und danach sucht. Nicht dass Kathrin tatsächlich glaubt, Männer seien bodenständiger oder würden unbedingt geordneter denken als manche Frauen, oh nein, aber sie weiß, Männer hätten es gern, dass die Frauen das glauben. Sehr einfach, eine einfache Gleichung, ein einfacher Kodex: das So-Tun-Als-Ob. Man steckt die Info herein und heraus kommt die erwartete Reaktion. Die Münze reinwerfen und den Gewinn einstecken. Spielautomaten. Unordnung ist ebenfalls ein Ausdruck ihrer Selbständigkeit. Im Gegensatz zu der Ordnungsbesessenheit so mancher Frauen, die Kathrin kennt, zeigt ihr Lebensstil, dass keiner sich ohne ihre Erlaubnis da einmischen darf. Ihre Ziele und Bestrebungen sind höherer Natur, als sich allein mit der Hausarbeit zu beschäftigen. Das versucht sie jedem Mann beim zweiten oder dritten Mal schonend beizubringen.

Die Reaktion des Mannes liefert Kathrin ein gutes Kriterium zur Beurteilung seiner Persönlichkeit und allgemein auch seiner Einstellung Beziehungen gegenüber. Auch einfach kodifiziert. Wenn er nur eine Affäre will, dann ist es ihm völlig egal, ob sie ordentlich ist oder nicht. Wenn er eine ernsthafte Bindung eingehen will, dann achtet er darauf. Es sei denn, er ist ein Schmutzfink, dann schert es ihn einen Dreck, ob sie in einem Saustall oder in einem Kristallpalast lebt. Ordnung liebende Männer wollen ordentliche Verhältnisse, sauber verteilt und hierarchisiert, übersichtlich und kontrollierbar. Außerdem wollen sie gut gepflegt werden, gefüttert, gewaschen, gebügelt.

Sie würde es ja gern tun, wenn sie den richtigen finden würde. So emanzipiert ist sie ja auch nicht. Feministinnen findet sie manchmal schlechthin übertrieben. Sie sieht sich in vielen Hinsichten sehr wohl als Feministin, aber prinzipiell hat sie nichts gegen die klas­sische Rollenverteilung, wenn der Mann in ihrem Leben ebenfalls die klassische Rolle zufriedenstellend einnimmt.

Sie hätte nichts gegen einen Mann, der sie lieben, versorgen und verwöhnen würde, ihr bei der Steuererklärung helfen und alle Reparaturen in der Wohnung durchführen würde. In dieser Hin­sicht muss sich Kathrin eingestehen, dass sie eine konservative Einstellung hat: Frauen kennen sich mit Elektrogeräten nicht aus, Männer tun es. Es sei denn, sie haben zwei linke Hände. Ja, nun, nobody is perfect. Je nach Mann, kann sie entscheiden, ob sie sich ihm als unordentliche Tagträumerin oder als ordentliche Pragmatikerin zeigt. Wenn das letztere der Fall ist, muss sie sich fürchterlich anstrengen, um ständig Ordnung zu halten.

Manch­mal ist das so anstrengend, dass sie lieber auf den Mann verzich­tet. Mit Günther ist es noch nicht so weit.

Das Um-Sich-Schmeißen mit Klamotten war von beiden als Show-Einlage stillschweigend akzeptiert worden.  

Übrigens, wo ist die Strumpfhose geblieben, die sie gestern an hatte? Wo begann sie, sich auszuziehen? Im Wohnzimmer!

Show me your heart, make it real, or let’s forget about it! singt Kathrin und tänzelt über den Flur bis ins Wohnzimmer.

Sie hat gestern Supernatural aufgelegt und sie haben getanzt, allerdings nur auf den ersten Song, beim zweiten waren sie schon im Bett! Auf der Türschwelle findet sie die Strumpfhose, in der Mitte des Raums die Stiefel und auf der Couch die Jacke. Sie sammelt tänzelnd die Sachen auf, schmeißt die Stiefel in den Schuhschrank, die Jacke in die Garderobe und die Strümpfe in den Wäschekorb im Badezimmer.

Heute hat sie doch einen Anflug von Ordnungsbesessenheit.

Sie kommt zurück ins Wohnzimmer und lässt die alte Santana-CD noch einmal laufen. Sie tanzt in ihrem Hauskleid und erblickt sich im großen Spiegel. Das rote Hauskleid hüllt sie wie ein Ballen aus Watte ein. Sehr sexy sieht das nicht aus.

Sie nähert sich dem Spiegel, zieht den Reißverschluss bis zum Bauchnabel herunter und mustert den schmalen Streifen entblößter Haut, der die Rundun­gen der Brüste ahnen lässt. Sie führt beide Zeigefinger vom Schlüsselbein langsam abwärts, über die kleinen Hügel links und rechts abweichend, dann über den flacheren des Bauches wiedervereint. Sie gleiten weiter nach unten, bis sie im Tal unterhalb des Nabels ankommen. Kathrin hält einen Augenblick inne und zieht den Reißverschluss wieder zu. Ja, sie ist heute eine ganz andere Frau als in der vergangenen Nacht. Feurig, lei­denschaftlich, großartig war sie. Sie kann alles sein, was sie will. Das ist eine ihrer außergewöhnlichen Qualitäten: ihre Wand­lungsfähigkeit. Sie ist sehr stolz darauf.

Sie lächelt ihrer Spiegelreflexion zu, spitzt die Lippen und flüstert:

– „Kompensationsgehabe!“

Alles andere folgt unweigerlich dem viel zu eintönigen Kodex.

Vielleicht liegt die Ursache tatsächlich in ihrer Kindheit, dass sie so gern in jede Rolle, die sie sich ausdenkt, schlüpft. Sie langweilt sich nie.

Nur wenn sie wirklich zu lange ohne Publikum bleibt.

Das heißt ohne einen Mann.

– „Aber das passiert uns selten, nicht wahr?“ haucht sie in den Spiegel.

Manchmal akzeptiert sie auch Frauen im engen Kreis der Zu­schauer. Zwei Arten von Frauen: Diejenigen, die sie verblüffen möchte, und diejenigen, die von ihr verblüfft werden möchten. Sie macht es ihnen vor, denn sie findet, sie könnten von ihr etwas lernen. Der allgegenwärtigen Realität ab und zu mal eine auszuwischen, zum Beispiel. Es gibt unerschöpfliche Möglichkeiten, abenteuerliche Schicksale nachzuahmen. Zumindest sie nachzuempfinden. Deshalb hat man doch Phantasie. Die Phantasie ist ein Mittel und kein Weg. Der Weg ist das Leben selbst.

– „Darauf kann man sich verlassen!“ sagt sie und nickt.

There’s an angel with her hand on my head / She says I’ve got nothing to fear! mimt Kathrin vor dem Spiegel. Das ist ihr Lieb­lingsstück auf der CD.

Das Leben kann so spannend sein, auch wenn andere sich dessen kaum bewusst sind. Sarah, zum Beispiel. Kategorie: Frauen, die Kathrin gern verblüffen würde. Ihre Freundin ist fürchterlich unromantisch. Zumindest was Männer anbelangt. Sie kann sich überhaupt nicht daran erinnern, Sarah verliebt gesehen zu haben. Das ist nicht gut, sie verpasst so viel. Jedes Schicksal hat ein Geheimnis, jeder Mensch auch, dass heißt eben auch jeder Mann. Das gilt es zu entdecken! Man soll den richtigen Riecher entwi­ckeln, ein Gefühl für das kriegen, was sich hinter dem Kodex versteckt, was jenseits der einfachen Gleichung schlummert.

– „Und ich habe ihn, diesen Riecher!“

Kathrin rückt mit dem Gesicht näher an den Spiegel heran, mus­tert ihre Nasenspitze und klopft zärtlich mit dem Zeigefinger gegen ihr scheinendes Ebenbild. „Du hast ihn!“ sagt sie.

Sie kann das Geheimnisvolle in jedem Mann entdecken, am bes­ten nach Beendigung einer Beziehung. Dann weiß sie fast immer, weshalb sich der Mann so oder so verhalten hat. Immerhin. Auch wenn Sarah in dieser Hinsicht ebenfalls anderer Meinung ist.

Sarah will einfach nicht einsehen, dass dies eine gute Methode ist, mit Männern klarzukommen. Nämlich sich an erster Stelle auf den Eindruck, den man bei einem Mann hinterlässt, zu konzen-trieren und nicht umgekehrt.

Der Eindruck, den man sich über einen Mann macht, hängt weni­ger von ihm ab, viel mehr von den Wünschen, die er bei einer Frau erweckt. Bei ihr, Kathrin, ist es meistens der Wunsch, ihn zu erobern und einen so starken Eindruck auf ihn zu machen, dass er ihr erliegt. Warum sich den Kopf damit zerbrechen, was er wirk­lich ist, wenn man ihn dazu bringen kann, das zu sein, was man selbst haben will, nämlich einen Spiegel.

Jeder Mann reflektiert anders, schickt ihr neue  Bilder zurück.

In der Hinsicht spielt auch seine Persönlichkeit eine Rolle, zugegeben. Die Hauptrolle gehört aber ausschließlich ihr, Kathrin. Die Faszination ist perfekt, wenn sie neue Persönlichkeiten testet, um zu sehen, was sie wohl re­flektieren würden. Das spornt sie an. Sie verfeinert ihre Rollen bis ins Detail, ist perfektionistisch. Sie wäre bestimmt eine gute Schauspielerin geworden, wenn nicht sogar berühmt. And the Oscar goes to

Kathrin kreuzt ihre Hände auf der Brust, begrüßt das Publikum im Spiegel, bedankt sich bei allen und spürt dabei ihre Brüste härter werden und ihre Scheide feucht. Tja, Sonntagsphantasien.

– „Du kannst nie genug davon kriegen, was?“ schimpft sie schalk-haft mit ihrem Spiegelbild. Sie kann es sich leisten, sonntags zu spielen. Über die Woche kann sie es nicht.

Die Kathrin im Spiegel zieht ein wenig die Augenbrauen und die Lippen zusammen. „Nun, das stimmt, oder?“ fragt die Kathrin vor dem Spiegel.

Über die Woche ist sie eine ernstzunehmende Übersetzerin.

Obwohl noch jung, nicht wahr, mit einunddreißig ist man doch noch jung, ist sie bereits eine geschätzte Mitarbeiterin in der Firma. Sie ist fleißig, zuverlässig und freundlich. Ihr Chef hat sie mehrmals ausdrücklich komplimentiert. Ein charmanter Mann. Verheiratet, drei Kinder. Schade. Er ist zu ihr immer nett, er mag sie bestimmt. Vielleicht ist er sogar ein bisschen verliebt, nur kann er am Arbeitsplatz nichts unternehmen. Er zeigt ihr Bewun­derung, überträgt ihr Verantwortung, überhäuft sie mit Aufgaben. Dumm, dass sie die meisten Überstunden nicht bezahlt bekommt. Dies ist eine Gleichung, die nicht immer funktioniert, ein Kodex, der nicht immer respektiert wird. Dennoch, Kathrin hat Verständ­nis für die Schwankungen des freien Marktes, sie kennt seine Tücken und Grausamkeiten aus den Wirtschaftsberichten, die sie täglich übersetzen muss.

– „Es ist nicht leicht für ihn, die Firma zu leiten!“ versucht sie die etwas skeptisch blickende Kathrin im Spiegel zu überzeugen. „Es steht Männern gut, in Führungspositionen zu sein!“ argumentiert sie weiter.

Das ist die einfachste aller Gleichungen. Man weiß genau, womit man den Spielautomaten füttern muss. Mit Schmeicheleien. Man soll Schwächesymptome vorgaukeln. Män­ner mögen es rumzukommandieren, sie blühen richtig auf, stol­zieren wie aufgebauschte Pfauen herum. Dann sind sie unwider­stehlich. Weil sie sich dann kindisch verhalten und nichts, rein gar nichts von den Frauen kapieren, mit denen sie zusammen sind. Wenn man sich darüber nicht ärgert und dadurch nicht ver­blendet oder, noch schlimmer, gekränkt wird, kann man es leicht erkennen. Sie werden durchschaubar, ja, manipulierbar. Es ge­lingt nicht immer, manchmal leidet man selbst darunter.

– „Ich habe in dieser Hinsicht reichlich Erfahrung, was? Ich bin genug Pfauen begegnet…“, sagt Kathrin und sieht tief in die Au­gen ihrer Doppelgängerin. „Ja, die Pfauen. Schönes Gefieder.“

Entweder toben sie wie aufgeregte Machos vor Eifersucht, was ihre Unsicherheit und Verletzbarkeit nur noch mehr bestätigt, oder spielen auch privat den Chef, legen einen undurchdringlichen Gesichtsausdruck auf und lassen sich bedienen, als wären sie querschnittgelähmt. In beiden Fällen schmollen sie, und das findet Kathrin nach wie vor unwiderstehlich, weil sie dann ver­söhnlich je nach Situation als Engel der Barmherzigkeit, Femme fatale oder verführbare Kammerzofe auftreten darf.

Nur einmal ist es schief gelaufen, sie hat die Kammerzo-fennummer abgezo­gen und der Blödmann hat ihr eine verpasst, dass sie die ganze Woche ein Veilchen hatte. Ein Idiot! Sie hat ihn direkt rausge­schmissen und ihm mit der Polizei gedroht. Er hat sich auch nicht mehr blicken lassen.

Kathrin betrachtet ihr Gesicht im Spiegel. Kein Veilchen diesmal, bloß Augenringe. Kein Wunder nach dieser Nacht, sie hat hart gearbeitet. Mal sehen, ob sie was verändern wird – die Nacht. Ob ihr Lebenslauf dadurch eine neue Richtung nimmt, ob sie einen neuen Kodex erlernen wird. Sie ist eine selbständige, unterneh­mungslustige Frau, die Spaß versteht und sich ihn durchaus gönnt. Dies zu ändern, ist nicht gerade ihr innigster Wunsch, nicht wahr? Sie wird nicht leiden, wenn sie allein bleibt. Nein! Vorausgesetzt, dass es nicht zu lange dauert, bis sie einen neuen Mann findet.

Ihr Magen knurrt.

Kathrin wirft einen letzten Blick in den Spiegel, schickt sich einen Luftkuss und findet, dass Rot ihr gut steht.

 

 

 * * *

Am Todestag von Ioona Rauschan erinnert KUNO an diese Autorin mit einer Leseprobe aus: Abhauen. Dieser Roman erschien 2008 beim Pop Verlag, Ludwigsburg.

Auf der Schwelle. Ein Filmessay über Heinrich Heine von Ioona Rauschan. Edition Biograph, 1997

Die schöne Strickerin, Novelle von Ioona Rauschan, Edition Biograph, Düsseldorf 1995. (Antiquarisch erhältlich).

Weiterführend →

Ein Kollegengespräch mit Ioona Rauschan findet sich hier. Das Live-Hörspiel 5 oder die Elemente wurde in der Regie von Ioona Rauschan mit Marion Haberstroh und Kai Mönnich im Gutenberg-Museum zu Mainz uraufgeführt. Señora Nada, in der Regie von Ioona Rauschan, ist auf Hörbuch Gedichte erhältlich. Probehören kann man das Monodram Señora Nada in der Reihe MetaPhon.