Und Stille dort

 

Dass es auf Friedhöfen durchaus viele Gräber gibt, dürfte wohl niemanden überraschen, vor allem auf städtischen, auf denen täglich mehrere Menschen zu Grabe getragen werden, in Särgen einerseits, in Urnen immer öfter. Platz und Geld sparend. Mal in echten Gräbern untergebracht, mal im Friedwald, wie es eben passt. Auch darin sind wir inzwischen recht demokratisch geworden und genießen unsere Freiheit. Man gedenkt dort normalerweise der meist viel zu früh verstorbenen Liebsten oder versichert sich regelmäßig, dass der Erzfeind der eigenen Jugend denn auch wirklich dort eine Heimstatt gefunden hat und bedauert auch dies vielleicht irgendwann, weil man niemanden mehr hat, an dem man sich reiben könnte. Das triumphierende Gefühl des Sieges, länger durchgehalten zu haben, wird doch recht schnell schal.

Tatsächlich ist der Friedhof letztlich auch ein Kontakthof der Witwen und Witwer, meist eher ersterer, da die Frauen meist eben länger leben, keine Ahnung warum, aber Fairness und Lebensrea- lität haben selten Gemeinsamkeiten. Wo anders kann man so viele nicht mehr Verheiratete treffen und mit ihnen über die Erlebnisse vergangener Zeiten plaudern und die Beschwernisse des Jetzt beklagen. Und wer weiß, vielleicht hat man Glück und man baut eine neue Partnerschaft auf, für die letzten Jahre, kann noch einmal glücklich sein, die Endorphine Walzer tanzen lassen. Offene Kontaktbörse für reifere Menschen mit gewissem Niveau. Jedenfalls sehen die Damen und Herren vor den Gräbern nach einem halben Jahr der endgültigen Trennung gar nicht mehr so unglücklich aus, man hat sich im neuen Leben eingerichtet und schaut ein Stück nach vorne. Zunächst tragen sie noch schwarz, ganz die Trauer, ganz existenziell, doch mit der Zeit kehren die Farben zurück, wuchern zu Ornamenten und zuweilen sieht man auch wieder Schmuck und an Pullovern angenähte Strasssteine und golddurchwirkte Kitschgarne. Schon im nächsten Frühjahr sieht die Welt wieder ganz anders aus, signalfarbig, ich bin frei. Ich bin hier.

Auch die Gräberpflege ist Selbstaussage, es gibt die vollfertigen, fast alles wurde mit einer großen Steinplatte belegt, nur zwei kleine Lücken blieben für Kerze und Blumenstrauß. Diese Grabbesitzer sieht man nach spätestens drei Monaten der innigsten und vor allem öffentlichen Trauer nicht mehr auf dem Friedhof. Daneben gibt es die Puristen, die das Grab mit Split oder Kies bestreuen und alle Jubeljahre durchharken müssen. Auch die echten Gärtner kennt man, die das Grab mit Sorgfalt, Liebe und durchaus großer Kreativität zu einer individuellen Erlebnislandschaft auf vier Quadratmetern gestalten. Da man hier das Meiste zu tun hat, muss man sich auch zwangsläufig häufig sehen lassen. Da werden gärtnerische Tipps ausgetauscht und in den Handtaschen finden sich Antikarnickelöl und Schneckentod, außerdem die obliga- torische Kerze. Nur wer sich von allen Plichten befreien oder den Angehörigen ein permanent schlechtes Gewissen ersparen will, der wählt das Streufeld, die anonyme Bestattung oder den Friedwald. Dort sieht man dann manchmal ganz stille, in sich gekehrte Besucher, sie starren in die Bäume und scheinen in Selbstgespräche vertieft. Wenn sie gehen, dann lächeln sie meistens. Still und bescheiden, aber durchdrungen. Es scheint sogar so, als habe dieser Besuch etwas Tröstliches.

Wer einen Tag über auf dem Friedhof verweilt, wer die Menschen dort beobachtet und sieht, was so auf das Gelände gebracht wird, vor allem kurz vor den Feiertagen, Blumen, Spezialgraberde in Säcken, Sträuße, Kränze, Gestecke, zuweilen kleine Figürchen, Engelchen, da und dort wird ein Grabstein gesetzt, dort eine Umfassung gebaut, der weiß, dass der Tod ein Wirtschaftsfaktor ist, der viele am Leben erhält.

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Die Angst perfekter Schwiegersöhne, von Herrn Nipp, Edition Das Labor 2011

Haimo Hieronymus ist ein Poet, wenn er Holzschnitte erstellt, und ein realistischer Träumer, wenn er mit Herrn Nipp kurze Texte verfaßt. Wie ein Dichter schreibt er nicht, dazu ist er zu nüchtern und zu lapidar; die Fiktion ist nicht seine Sache, es entstehen auch keine imaginären Welten. Die Wirklichkeit und die Erinnerung sind ihm rätselhaft genug. Herr Nipp betreibt das einfache, das wahre Abschreiben der Welt, er bewegt sich damit zwischen Ereignis und Reflexion und nähert sich einer Topografie der Melancholie. – Ein Sammlerstück ist die Vorzugsausgabe von Die Angst perfekter Schwiegersöhne. Hieronymus hat das Cover einer limitierten Auflage mit einem Holzschnitt versehen.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421