Nachbarn

 

Gerade aus dem Wagen gestiegen, sieht er, dass am Törchen zwei Häuser weiter eine alte Frau steht. Er grüßt freundlich, habe sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Kennt sie noch aus seiner Kindheit, das ist jetzt 36 Jahre her oder noch länger, je nach dem, was man alles mitzählt. Sie war für ihn damals schon alt, sehr dünn und hatte dunkle Haare mit Wellen. Irgendwie und irgendwarum fand er sie immer nett, auch wenn er etwas Angst vor ihr hatte, sie war manchmal etwas streng. Sie war mit einem freundlichen Mann verheiratet, den mochte Herr Nipp wirklich, auch wenn er manchmal wütend auf die Kinder der Nachbarschaft war, wenn sie den Ball in den Vorgarten geschossen haben, wenn sie verstecken in seinem Garten spielten, das mochte er gar nicht. Die beiden hatten auch selber keine Kinder.

Irgendwann spielt man kein Verstecken mehr oder nur noch in anderen Zusammenhängen und mit dem Ball geht man auf den nächsten Bolzplatz oder hinter die Kirche auf die große Wiese. Mit vierzehn, fünfzehn interessierte Herrn Nipp das auch nicht mehr so richtig. Bücher wurden immer wichtiger, das Malen und Zeichnen. Den Garten fand er weiterhin toll, den des Vaters vor allem, weil er einen Gartenteich einrichtete, viele spannende Dinge waren dort zu beobachten. Nicht so toll war die Gartenarbeit. In den achtziger Jahren musste noch jedes Unkraut gezupft werden und zwischen den Stauden sollte man braunen Boden sehen (Soll es bei einigen Leuten immer noch geben.). Aber Gartenteich und Holzhacken fand er gut. Und Gemüse ernten.

Dann jedenfalls nimmt irgendwann man auch die Nachbarn nicht mehr so wahr, vielleicht gab es auch erste Freundinnen, vor allem aber wohnten die Freunde nicht mehr auf der eigenen Straße, den Jugendlichen hier hatte er nicht mehr so viel zu sagen und für sie war er zu langweilig, kein Moped. Man definierte sich immer über das, was man hatte und hörte. Da passte wohl auch der Musikgeschmack nicht mehr. Wenn andere Chartpopmusik im Walkman hatten, hörte Herr Nipp Iron Maiden im Zimmer von der Cassette, diese peinliche Phase war dann auch schnell vorbei. Zwischenphase Alternativtreff, sowas gab es damals noch. Trotzdem neben- bei immer Messdiener. Sogar Gruppenleiter. Wieder neue Freunde kennen lernen. Mit nächtlichem Naturinteresse. Die wohl schönste Zeit. Drei immer zusammen. Dann kam irgendwann die Vorliebe für sogenannte dubiose Independentbands und natürlich cure, smiths, boa. Eine große Entdeckung war die ganze Bande um Blixa, mit Cave… diese Musik prägt bis heute.

Irgendwann zieht man von zu Hause weg, Zivildienst, Studium, Beruf, vielleicht ein eigenes Haus. Man hat keinen Kontakt zu den Nachbarn mehr, ist nur noch in den Gesprächen existent, wenn überhaupt. Wenn die Eltern besucht werden, später gepflegt, huscht man über die Straße, grüßt kurz, die Blicke werden wissend ge- kreuzt. Kurze fragen, wie es geht, den Eltern. Auf Beerdigungen sieht man sich auch, später.

Jetzt hat die Frau graue, nein weiße Haare und ein nettes kleines Gespräch entsteht. „Wer sind Sie denn jetzt eigentlich, der Nipp?“ Sie ist wirklich die einzige Nachbarin, die ihn aus der Kindheit kennt, welche ihn heute siezt, für alle anderen ist er der Nipp und du. Trotzdem würde es ihm nicht im Traum einfallen, sie zu duzen. Das gehört sich einfach nicht. Selbst die Eltern der Freunde wurden damals noch gesiezt, könnte den Freunden meiner Kinder nicht passieren.

„Ja, der Nipp.“

„Ich kann mich immer noch daran erinnern, da hocktest du in unserem Garten, du musst so sechs gewesen sein und ich habe mich gefragt, was macht der da? Dann habe ich gefragt, was du da machst, ob du etwas suchst, ob dir ein Tier weggelaufen ist.”

[Herr Nipp hatte damals nur eine Landschildkröte].

„Und du hast gesagt, dass du dir nur alles anschaust, da habe ich dich gelassen.“ „Ja, geschaut habe ich immer schon gerne.“

Aus seiner Perspektive – er kann mich genau daran erinnern – sah das ganze völlig anders aus: „Ich war tatsächlich in deren Garten, wie jeden Tag fast. Bin gerne durch fremde Gärten geschlichen, vor allem in der Dämmerung. An diesem speziellen Tag allerdings wollte ich nicht entdeckt werden. Welche Scham, dass sie mich doch gesehen hatte. Die Erdbeeren waren reif.“

***

Die Angst perfekter Schwiegersöhne, von Herrn Nipp, Edition Das Labor 2011

Haimo Hieronymus ist ein Poet, wenn er Holzschnitte erstellt, und ein realistischer Träumer, wenn er mit Herrn Nipp kurze Texte verfaßt. Wie ein Dichter schreibt er nicht, dazu ist er zu nüchtern und zu lapidar; die Fiktion ist nicht seine Sache, es entstehen auch keine imaginären Welten. Die Wirklichkeit und die Erinnerung sind ihm rätselhaft genug. Herr Nipp betreibt das einfache, das wahre Abschreiben der Welt, er bewegt sich damit zwischen Ereignis und Reflexion und nähert sich einer Topografie der Melancholie. – Ein Sammlerstück ist die Vorzugsausgabe von Die Angst perfekter Schwiegersöhne. Hieronymus hat das Cover einer limitierten Auflage mit einem Holzschnitt versehen.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421