Häcksel und die Bergwerkflöhe

 

Häcksel war der Sohn des Finsterer, und der war Bergmann im Annaschacht gewesen. Und Finsterer war der Sohn des Labemann, und der war Bergmann im Annaschacht gewesen. Und Labemann war der Sohn des Flegels, und Flegel war Bergmann im Annaschacht gewesen. Keiner von denen war ehelich geboren. Dieses aber ist der Stammbaum der Geliebten der Mütter jener Bergmänner.

Häcksel war, was alle seine außerehelichen Vorfahren gewesen, Bergmann, und er war mehr unter der Erde als auf der Erde zu Hause.

Der junge Bursch von fünfundzwanzig Jahren war, solange er sich unter der Erde befand, höflich, friedlich und zufrieden. Aber oben auf der Erdoberfläche, beim Tageslicht besehen, schien Häcksel das Gegenteil zu sein, störrisch, unfreundlich und ungemütlich. Teils war es das Licht und die laute Welt, die ihn im Gegensatz zur molligen Grabesstille und traulichen Dunkelheit, an die er unter der Erde gewöhnt war, immer wieder von neuem reizten. Aber Licht und Lärm waren es nicht allein, die den stillen harmlosen Burschen in ein widerhaariges Ekel verwandelten. Wenn Häcksel sichs klar gemacht hätte, warum er sich oben auf der Erde, außerhalb des Schachtes, verwandelte, so würde er erzählt haben, daß ihm draußen im Leben, außerhalb der Kohlengrube, seine liebsten Unterhalter fehlten, die Bergwerkflöhe, denen er zugetan war, und die neben der Arbeit seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen.

Die Bergwerkflöhe aber lieben nur die laue Wärme, die im Erdinnern herrscht, und sind nicht zu bewegen, jemals an die Oberfläche zu kommen. Sie begleiten den Bergmann, den sie sich als Nahrungsfeld ausersehen haben, nie ans Licht. Sie springen immer im letzten Augenblick ab, ehe der Förderkorb den Schacht verläßt.

Häcksel hatte sich durch nichts als durch sein süßes Blut bei den Flöhen des Annaschachtes beliebt gemacht. Vielleicht war er deshalb beliebter, weil sein Blut seit Geschlechtern außerehelich, also wildsüß, gezeugt worden war.

Wenn keiner einen Floh im Schacht hatte, Häcksel hatte immer einen zur Unterhaltung bereit, und dieses verschaffte ihm manchen wahren Freund im Bergwerk. Denn die Bergleute rechnen in ihrem unterirdischen Dasein die Anregung und Unterhaltung, die ihnen die Bergwerkflöhe bieten, als eine Erhöhung ihrer lahmgelegten Lebenslust.

Wenn irgendwo in einem entlegenen Stollen zur Erhöhung der Geselligkeit ein Floh fehlte, schickten die Leute hin zu Häcksel und erhielten auch schon für einen Schluck kalten Kaffee einen schönen ausgewachsenen Floh von Häcksel geliefert.

Man weiß aber, daß durch fortgesetzte Inzucht auch die lebhaftesten Flöhe allmählich verblöden können, und das geschah, – nachdem aus den Zeiten Flegels, Labemanns und Finsterers, die, solange das Bergwerk bestand, drei Menschengeschlechter hindurch, immer nur untereinander gelebt und sich fortgezeugt hatten, – zur Zeit, da Häcksel fünfundzwanzig Jahre alt wurde und von Schwächezuständen befallen war. Die Bergleute stellten fest, daß die heutigen Flöhe ihres Geschlechtes nicht mehr so hoch springen konnten, daß sie sich auch nicht mehr so lebhaft untereinander angezogen fühlten, nicht mehr dieselben Tänze vollführten, die vorher die halbnackten Bergleute auf Brust und Rücken ihrer Kameraden bewundert hatten. Man konnte ihrem Mutterwitz nicht mehr vertrauen. Sie ließen sich von jeder täppischen Hand fangen. Sie versimpelten so sehr, daß es eine Schande für das ganze Bergwerk war.

Eines Tages, es war im Februar, im Taumonat, der die Erde aufweckt und auch die Triebe der Bergwerkflöhe in der Erde beleben kann, fühlte sich Häcksel, der eben Feierabend machen wollte und seinen Pickel, womit er Kohlen gehackt hatte, an die Flötzmauer stellte, besonders lebhaft hinterm linken Ohr gebissen, so lebhaft, wie seit langem nicht mehr. Häcksel glaubte, es sei Stänker, sein Leibfloh, der frühlingslustig geworden wäre. Aber als der Bergmann mit dem Zeigefinger hinters Ohr fühlte, merkte er, daß ein kleiner, zierlicher, weiblicher Floh dasaß, und er erkannte auch bald, daß es Zinnoberchen war, eine Flöhin, die so genannt wurde, weil sie am rötesten von allen Flohdamen leuchtete, wenn sie sich an Menschenblut satt getrunken hatte und man sie auf der Hand vor das Grubenlicht hielt. Zinnoberchen war so zart, daß das Menschenblut aus ihrem Körper einen rötlichen Schatten neben sie legte, wo sie gerade saß.

Häcksel war über den unerwarteten Besuch ein wenig erstaunt. Denn um die Feierabendstunde, die die Flöhe gut kannten, war meistens jede Unterhaltung zwischen den Bergleuten und ihren lieben Leibtierchen zu Ende. Die kleinen Herrschaften zogen sich jeden Abend unaufgefordert in den Pferdestall des Bergwerks zurück. Dieser Stall lag neben den Kohlenschachten und befand sich ebenso wie diese viele Hundert Fuß unter der Erde. Die alten Gäule, die dort fern vom Tageslicht in der Grube zum Ziehen der Kohlenkarren gehalten wurden, bekamen niemals die Sonne zu sehen und wurden mit der Zeit blind. Im Mähnenhaar der Blinden, auf den Rückenwirbeln und in den Schwanzhaaren übernachteten die Bergwerkflöhe mit Vorliebe. Dorthin eilten sie, wenn die Feierabendstunde nahte.

„Ich dachte, du wärest schon schlafen gegangen,“ sagte Häcksel, als er Zinnoberchen auf seinem Zeigefinger ans Grubenlicht hielt. „Du bist ja ganz abgehärmt, liebes Kind,“ fuhr er in Gedanken lautlos zu reden fort. „Ich weiß, Euch fehlt neues Blut.“ Er nickte und hüstelte.

Der junge Häcksel war nicht stark. Er war schwer lungenleidend. Seine Vorfahren, die da unter der Erde in der weichlichen Luft seit einem Jahrhundert Kohlenstaub schluckten, hatten ihm keine starke Lunge vererben können. Der Bergwerksarzt hatte zu dem schwindsüchtigen Häcksel gesagt, ein schwacher Mann wie er dürfe nicht heiraten, und er dürfe auch keine Frau küssen, da er mit Kuß und Umarmung nur Unheil anstiften könne. Ein Schwindsüchtiger müsse nicht daran denken, Kinder zu zeugen. Durch ihn würden nur armselige kranke Menschen entstehen, die ihm und der Welt zur Last fallen würden.

Häcksel hatte es am Feierabend darum nie so eilig wie seine Kameraden, um hinauf ans Licht der Welt zurückzukehren. Ihm war im Bauch der Erde wohl, wo es in Dunkel und Einsamkeit keine Wünsche gab. Nichts erwartete ihn außerhalb des Bergwerkes als ein Strohsack in seiner Kammer, und es lockte ihn nicht einmal dieser, da das Stroh ein Geheimnis verbarg. Häcksel hatte im Stroh seit Jahren eine alte Geldtasche verborgen. Die war voll alter Silbergulden. Die hatte er in einem blinden Stollen unter der Erde gefunden, in einem Gang des Bergwerks, der nur ihm allein bekannt war, und der im Bergwerksbuch als vor Jahren von einem schlagenden Wetter verschüttet aus dem Bergwerkplan ausgestrichen und nur als blinder Stollen bezeichnet stand.

Häcksel hatte von jenem Unglück von seinem Vater öfters erzählen hören. Der Alte hatte behauptet, bei den Verschütteten dort in dem blinden Stollen müsse sich auch Geld befinden, denn es war bei den Verunglückten damals ein zufälliger Besucher des Bergwerks mit umgekommen. Man hatte wohl versucht, nachzugraben, hatte aber die mühsamen Arbeiten bald eingestellt und den Stollen verlassen.

Häcksel strolchte dort gern im Bergwerk herum und klopfte mit seinem Pickel jahraus jahrein nach Feierabend in dem verschütteten Gang das Gestein zur Seite. Eines Tages stieß er auf ein Gerippe, bald auf ein zweites und drittes Gerippe, und dort fand er auch die alte Geldkatze voll alter Silbergulden bei den Gebeinen liegen.

Häcksel konnte gut schweigen. Wenn ihn manchmal der Gedanke lockte, seinen Kameraden von dem Fund zu erzählen, so hustete er sich schnell und heftig den Sprechreiz aus Brust und Kehle fort.

Das Bergwerk lag in der Nähe eines oberbayrischen Sees, in den Vorbergen der Alpen, und eine kleine Bummelbahn führte von dort an den Dörfern vorüber bis München. In mancher Nacht, wenn Häcksel daheim in seiner Hütte die alten Silbergulden mit gepulverter Kreide blankputzte, nahm er sich vor, am nächsten Tag hinein nach München zu fahren und das Geld bei einem Wechsler in Markstücke umzutauschen. Aber er hatte sich fest vorgenommen: zum Leben wollte er nichts von diesem Geld ausgeben. Das Geld sollte nur für sein Begräbnis ausgegeben werden. Denn der Todesgedanke war Häcksels Lieblingsgedanke. Er sagte sich immer, vom Tod könne er nur das Beste erwarten. Vor allem erwartete er vom Tod Gesundheit. Wenn er diesen kranken, elenden, ewig hüstelnden Körper abgelegt hätte, dann würde er gesund auferstehn, meinte Häcksel. Es stand fest und klar in ihm, daß er mit seinem Tod ein neues und gesundes Dasein beginnen würde. Darum war sein Sterben sein schönstes und stolzestes Ereignis, das er zu erwarten hatte, und er wünschte sich, um diese Verwandlung von Krankheit zur Gesundheit würdig zu begehen, ein würdiges Begräbnis, eine teuere Seelenmesse, mit Orgel, Musik und Glockengeläute, ebenso wie das, das unlängst der Hauptmann der Feuerwehr des Bauernortes, in welchem Häcksel wohnte, bekommen hatte, welches ein erstklassiges Begräbnis gewesen war. Ob nun das Silbergeld im Berg bei den Gerippen lag, untätig und unnütz, oder ob es für ein schönes Grab und einen schönen Sarg Verwendung finden würde, das konnte den Gebeinen des Kaufmanns, den der Kohlenschutt deckte, wohl gleich sein.

An diesem Feierabend, an welchem Häcksel auf seinem Zeigefinger die kleine Flöhin Zinnoberchen vor das Grubenlicht hielt, dachte er eben lebhaft daran, einen Tag festzusetzen, um endlich die Silbergulden in der Stadt in Markstücke umzuwandeln, als ihm die Flöhin lebhaft hinter das linke Ohr gebissen hatte. Dann ging er mit dem Tierchen nach dem Pferdestall, um Zinnoberchen sorgsam auf einen Pferderücken zu setzen. Aber auf halbem Weg war ihm seine alte Flohbekanntschaft vom Finger verschwunden. Er glaubte, sie habe allein den Weg zum Pferdestall gesucht. Der Floh aber war auf seine Bergwerkmütze gesprungen. Dort saß er zwischen Hutschirm und Band, und in der Nacht in Häcksels Kammer blieb er beharrlich auf Häcksels Mütze sitzen, und als es ganz still im Zimmer war, hörte der Bursch den Floh auf der flachen Mütze leise springen.

„Ah,“ sagte Häcksel zu sich, „Zinnoberchen hat meinen Entschluß gehört! Vielleicht habe ich laut vor mich hingesprochen im Bergwerk unten? Zinnoberchen will mit nach München.“

„Ja, das will ich,“ gab der fröhlich hüpfende Floh durch Tanzlaute auf der Mütze kund.

In der Nacht noch band sich Häcksel die alte Geldtasche voll Silbergulden um den Leib. Ehe das Tageslicht kam, setzte er seine Mütze auf, auf der der Floh Sprünge machte, die, wenn man sie in Töne umgesetzt hätte, Juchzer gewesen wären.

Der Bursch ging durch den Wald zur nächsten Bahnstation. Es war Sonntagmorgen, und er wollte nicht vom Bahnhof des Heimatortes abreisen, damit man seine Reise nicht bemerken sollte. Am nächsten Tag wollte Häcksel wieder zurückkehren und wollte eine Ausrede gebrauchen. Er wollte sich im Bergwerk entschuldigen und sagen, er habe sich zwei Tage im Walde verirrt und verlaufen.

Der Floh, den morgens im kalten Februarwald fror, setzte sich hinter Häcksels linke Ohrmuschel unter das warme Haar des Burschen und betrachtete von dort die Gegend. Bald merkte Häcksel, daß alle Gedanken, die er im linken Ohr hörte, ihm von Zinnoberchen eingegeben waren, und nur die Gedanken im rechten Ohr waren seine eigenen. So schritt er mit den zweierlei Gedanken wie im Frage- und Antwortspiel über den holprigen Waldweg, wo der Schnee getaut war und fast laues Vorfrühlingswetter herrschte.

„Ich bin der erste Bergwerkfloh der Welt, der an das Tageslicht kommt,“ sagte Zinnoberchen zum linken Ohre Häcksels.

„Nun weiß ich, warum ich so zufrieden bin,“ meinte das rechte Ohr zum linken Ohr, „weil ich Bergwerkgesellschaft habe am hellen Tag.“

Zinnoberchen hing sich an einem Schläfenhaar fest und schaukelte an diesem Haar im Winde hin und her, denn es war ihm kreuzwohl.

Plötzlich aber fuhr dem Häcksel ein schrecklicher Gedanke durch das rechte Ohr, und fuhr ihm vom Ohr in Hals und Brust, so daß er heftig und schmerzhaft husten mußte.

Die Flöhin sprang bei der Erschütterung aus dem Haar fort und rasch hinter Häcksels Ohr, kam aber gleich wieder zurück, unerschrocken, und hing sich wieder fest an das Schläfenhaar und schaukelte weiter.

Der wilde Gedanke schoß aber in Häcksel kreuz und quer und rief:

„Vielleicht ist dir deshalb heute ein Bergwerkfloh zum erstenmal ans Tageslicht gefolgt, weil es heute in der Grube ein Unglück gibt. Denn man sagt, die Bergwerkflöhe verlassen nur dann die tiefen Stollen, wenn sie schlagende Wetter vorauswittern.“

Dieses wußte Häcksel aus dem Munde seines seligen, außerehelichen Vaters.

„Nein, nein und nochmals nein,“ antwortete aber darauf das linke Ohr, das von Zinnoberchen beraten war. „Es ist eine höhere Notwendigkeit, warum ich das Bergwerk heute verließ.“

„Eine höhere Notwendigkeit?“ echote es in Häcksel erstaunt.

„Jawohl,“ rief die Flöhin auf Häcksels Kopf von links. „Daß ich heute reise, geschieht aus allerhöchster Notwendigkeit. Ich bin eine Abgesandte. Ich muß Flohmänner ins Bergwerk herbeiholen, frische kräftige gesunde starke Flohkerle.“

„Warum ist Stänker, mein Leibfloh, zu diesem Auftrag nicht gut genug gewesen,“ fragte Häcksel ein wenig verletzt die Flöhin.

„Hat man je gehört, daß ein Flohkerl so reizend ist, daß seinetwegen andere Flohkerle einen Sprung machen? Es muß schon eine Flöhin kommen, wenn Flohmänner sich holen lassen sollen.“

„Und da hat man dich also, die Zarteste, mit mir nach München geschickt?“

„Ach was! Man hat nicht mich mit dir geschickt. Sondern du bist von mir und uns allen ausersehen worden, mich nach München zu bringen,“ behauptete die Abgesandte hinter Häcksels Ohr.

„Ich gehe meinethalben und nicht deinethalben, nicht in Flohangelegenheiten, sondern in meinen gesunden Todesangelegenheiten gehe ich nach München,“ meinte Häcksel störrisch, als eben das Morgenlicht aus den Waldbäumen grell auf seine Nase schien. „Licht und Lärm kommen immer zusammen,“ fügte er mürrisch und gereizt hinzu. „Wenn ich nun aber umkehre?“ setzte er fort. „Was dann?“

„Dann lassen wir dir irgend etwas Schlechtes geschehen. Unsere Art zu erhalten, dazu ist uns kein Ausweg zu ungeheuer. Und ein Menschenleben ist noch lange kein Flohleben wert, noch dazu ein so wackeliges Menschenleben wie deines, das nur noch an einem Faden, sagen wir lieber, nur noch an einem Fädchen hängt.“

„Ich wußte es ja,“ schmunzelte Häcksel plötzlich aufgeräumt. „Ich sterbe bald. Ich habe es auch nur deshalb so eilig, weil ich die alten Gulden umwechseln will, um Geld zu einem schönen Begräbnis bereit zu haben.“

„Den Glauben will ich dir gern lassen,“ meinte die Flöhin zweideutig.

„Wie meinst du das?“ fuhr Häcksel auf. „Werde ich am Ende doch nicht bald sterben? Oder werde ich das Geld am Ende gar nicht zum Begräbnis verwenden dürfen?“

„Das kommt darauf an. Versprechungen oder gar Belehrungen teilen wir Flöhe eigentlich selten aus. Wir denken zuerst an uns. Und da du als Mensch in unserer Flohgewalt bist, mußt du gehorchen.“

„Hoho!“ hustete Häcksel und hustete sich blaurot vor Eifer. „Ich bin in niemandes Gewalt. Ich bin ein freier Bergwerkarbeiter. Nicht mal der Grubenherr hat mir außerhalb des Bergwerkes etwas zu sagen. Heutzutage herrscht Freiheit im Arbeitervolk. Wir sind keine altmodischen Knechte mehr.“

„Daß ich nicht lach,“ kicherte Zinnoberchen und ließ das schaukelnde Schläfenhaar los, sprang zurück und biß herzhaft dem Häcksel in das linke Ohrwatschel, so daß ein Blutstropfen, groß wie der dickste Floh, dem Burschen aus der Haut quoll.

Häcksel hielt wie immer still, wenn ihn ein Floh biß, teils um seiner Gesellschaft nicht verlustig zu gehen, teils weil er es so seit Väterszeiten im Bergwerk gewöhnt war.

Zinnoberchen setzte sich an den Blutstropfen, sagte nichts mehr und frühstückte lebhaft beschäftigt, während der arme Bursche unter den kahlen Waldbäumen ging, manchmal von Husten geschüttelt und von Hunger gekrümmt.

Als die Flöhin von Menschenblut satt war, sagte sie nicht einmal „danke“, sondern kroch unter dem Mützenrand unten durch auf Häcksels Kopf, wo die Luft zwischen Haar und Mützenfutter gemütlich warm war. Dort machte sie sich’s bequem. Zuerst putzte sie ihre furchtbaren Beißwerkzeuge, strich dann ihre gewaltigen Springbeine glatt, dehnte sich und streckte sich auf dem weichen fettigen Haarboden zu einem Verdauungsschläfchen aus. Sie hüstelte nicht, sie dachte nicht an den Tod. Sie dachte nur an Lebensfortsetzung und Lebensgenuß. Sie murmelte im Einschlafen, indem sie mit den Hinterbeinen zum Vergnügen ein wenig auf den Haarboden trommelte: „Dummkopf! Dummkopf! Du meinst, du bist der Stärkere! Du, der mir doch zum Frühstück dienen muß!“ Dann schlief die altadlige Flöhin aus dem vornehmen Bergwerkgeschlecht sanft ein, indessen der hungrige Bergmann unter ihr wie ein Kamel weitertrabte und hungernd und hustend den Bahnhof des nächsten Dorfes erreichte.

Häcksel hatte auf der letzten Strecke zum Bahnhof stark nachgegrübelt, wie er unauffällig mit dem nächsten Zug nach München kommen könnte. Niemand sollte seine Abwesenheit oder seine Reise bemerken. Da war ihm eingefallen, daß immer ein langer Kohlengüterzug um diese Morgenstunde nach München fuhr. Er kannte aber den Bremser des Zuges, und dieses schien ihm gefährlich, denn er wollte sich niemandem anvertrauen, um seine Silbergulden ungestört umwechseln zu können. Er beschloß, sich unter einem Kohlenwagen anzuklammern und dort in dem Versteck sich nach München fahren zu lassen.

Der Kohlenzug kam immer langsam und gemächlich daher und hielt einen Augenblick draußen vor dem Bahnhof, bis die Weiche gestellt wurde und er dann ebenso gemächlich weitertrotten konnte. Dieses hatte Häcksel früher beobachtet, und diesen Augenblick wollte er benutzen und sich unter den Wagen an den Ketten dort anhängen. Der Platz war schrecklich unheimlich und grauenhaft qualvoll, und der Güterzug würde erst in der Nacht in München ankommen. Aber was machte das dem Burschen, der so dringend ein reiches Begräbnis erster Klasse haben wollte. Für die Ehren, die seinen Leichnam später dann einmal erwarten würden, hätte er gern noch Schlimmeres ertragen.

Indessen nun der junge Bergmann eingeklemmt und gemartert zwischen Rädern, Ketten und Eisenstangen hing und in ewiger Todesgefahr schwebte und der furchtbare Eisenlärm, das Schütteln und Rasseln und Stampfen des Wagens, unter dem er schweißtriefend angeklammert war, ihn zu betäuben drohte, schlief die Flöhin im Kopfhaar des Burschen köstlich, und wenn sie hungrig wurde, krabbelte sie an Häcksels Nacken entlang und suchte sich eine möglichst zarte Stelle seines Rückens oder seiner Brust aus, biß herzhaft zu und sog das süße heiße Menschenblut in sich ein.

So kamen beide, jedes auf seine Art, vorwärts. Der Mensch geplagt, geängstigt und verliebt in seinen Tod, der Floh zufrieden, gesättigt und verliebt in Blut und Leben.

Spät in der Nacht fuhr der Güterzug langsam in den Bahngeleisen von München ein. Unbemerkt machte der erschöpfte blinde Mitreisende sich unter dem Wagen los und schlich sich im Güterbahnhof auf Seitenwegen über Schienen, über einen Stachelzaun und eine Plankenwand kletternd davon.

Der Güterbahnhof lag abseits, und in dem Stadtviertel in nächster Nähe standen einfache schweigende Häuserreihen, und in weiten Abständen brannten einsame Laternen. Häcksel wollte einen Gasthof aufsuchen und am nächsten Morgen die alten Guldenstücke umwechseln und dann mit der Bahn gemächlich auf einem Sitzplatz zurückfahren und auf einer Haltestelle, etwas entfernt vom Heimatdorf, aussteigen. So würde dann die Reise unbemerkt geblieben sein, er wäre dann nur als Waldverirrter in die Kohlengrube zurückgekehrt und hätte ohne viel Worte seine Arbeit im Stollen aufgenommen, nachdem das gewechselte Geld im Strohsack versteckt und eingenäht worden wäre.

Aber es sind immer bei Entschlüssen mehrere Mächte mitbeteiligt, und niemand führt einen Entschluß allein aus. Das sollte jeder bedenken, ehe er Heimliches tun will. Unser Alleinsein ist immer nur ein scheinbares, in Wirklichkeit ist jedes Handeln unsichtbar mit tausend Mithandelnden verknüpft.

So hatte Häcksel nicht daran gedacht, daß nach der langen Fahrt unter dem Kohlenwagen sein Kopf betäubt, seine Kräfte erschöpft, sein Herz schreckhaft und gedankenlos sein würde, wie es nicht am Morgen, da er frisch ausgeschlafen die Reise angetreten, gewesen war.

Außerdem hatte er vergessen, daß es Fastnachtsonntag war. Der Fastnachttrubel in der Großstadt München war ihm ganz unbekannt. Häcksel lebte jahraus, jahrein menschenscheu und ins Bergwerkleben versunken, so daß er ganz abseits stand von allen Lebenserfahrungen. Nie war er in einer Stadt gewesen, nichts wußte er von Faschingstagen, nichts vom närrischen Treiben einer Maskenwelt, die er nie gesehen oder erlebt hatte.

So ging er, in München angekommen, mit schwankenden müden Knien unter den dunkeln Vorstadthäusern hin, die ihn mit ihren vielen Stockwerken und ihren vielen dunkeln Fenstern einschüchterten. Als seine Schritte in der Nacht so einsam auf dem leeren Vorstadtpflaster hallten, wurde ihm schwindlig vor Hunger, Schwäche und Aufregung. Und ängstlich gemacht, weil er glaubte, die stillen Häuserbewohner wecken zu können, zog er seine harten Stiefel aus und ging auf lautlosen Socken weiter.

Er hatte keine Ahnung, daß in den leeren Häusern, die meistens Neubauten waren, noch gar keine Menschen wohnten, und so schlich er an den unbewohnten frischweißen Häusern stumm und behutsam und lautlos wie ein Nachtvogel hin und wußte nicht, daß er wie ein ertappter Dieb aussah.

Zinnoberchen aber, seine Flohherrin, war längst wach und aufmerksam und witterte mit Begierde, von Häcksels linker Schläfe aus, die tausend Flöhe der Stadt München, die jetzt in der Nacht alle auf waren und springend bei Tanz und Leibesfreuden wacher als die Sterne am kalten Februarhimmel lebten. Trotzdem die Häuser hier unbewohnt waren, witterte die eifrige Flöhin den menschlichen Blutgeruch aus den nächsten bewohnten Stadtteilen, und Häcksels Beine gingen ihr viel zu langsam vorwärts; sie wäre am liebsten in großen Sprüngen über die nächsten Dächer dem vor Schwäche taumelnden Häcksel vorausgeeilt.

Und nun stieß Häcksel gar mit dem Kopf an einen Laternenpfahl, wankte und fiel, von Hunger und Überanstrengung geschwächt, besinnungslos neben der Laterne nieder.

Das brachte die Flöhin ganz aus ihrer Ruhe, und sie stieß einen jener Pfiffe aus, den nur die feinen Flohohren hören können, der aber weiter zu hören ist als jeder Menschenruf. Dem groben Menschenohr aber ist ein Flohpfiff zu fein, das menschliche Trommelfell steht wie eine Mauer tot dort, wo ein Flohohr noch Laute hört. Sofort antwortete der Flöhin ein Antwortpfiff. Es war aber kein Floh, sondern auch eine Flöhin, die sich aus einem Neubau bemerkbar machte. Im dunkeln Bau brannte ein rotglühender Trockenofen und dort bei dem Arbeiter, der den Ofen bewachte, saß ein Mädchen auf ein paar aufgeschichteten Backsteinen. Das hatte die Flöhin, die Häcksels Flöhin zupfiff, im Nacken sitzen. Der Arbeiter vor dem Ofen hatte eine Teufelsmaske auf seine Stirn hinaufgerückt, so zeigte er zwei Gesichter übereinander. Der Mann war gerade von einem Maskenball in der Nacht auf den Bau gekommen, und seine Tänzerin, die eine „Königin der Nacht“ vorstellte, hatte ihn begleitet. Beide stritten eben, wer von ihnen das meiste seiner Habe zum Pfandhaus getragen habe. Das Mädchen behauptete, sie habe nur noch einen Sonnenschirm bei einer Tante vergessen, den könne sie morgen noch versetzen. Der Arbeiter aber behauptete, das Mädchen habe ihn betrogen, weil sie bei einer Freundin noch ein Bügeleisen verborgen halte, das sie nicht versetzen wolle. Er sagte, er wolle morgen nicht mehr mit ihr zum Tanzen gehen, sie solle sich einen andern Tänzer suchen.

„Ich habe auch noch einen Floh, den ich nicht versetzt habe,“ lachte das Mädchen übermütig und sagte frech, sie werde sich nicht erst morgen, sondern gleich für diese Karnevalsnacht noch einen neuen Tänzer suchen.

Der Arbeiter gab ihr einen Tritt, daß sie von den Backsteinen aufflog und es an der Zeit fand zu verschwinden. Aber ehe sie ging, warf sie noch einen Backstein hinter sich in den Trockenofen, so daß Funken und Feuer dem fluchenden Mann um seine zwei Gesichter flogen.

Die Königin der Nacht öffnete rasch die Plankenzauntüre und wollte nochmals dem Arbeiter eine rohe Antwort zurückrufen, als sie nahe bei sich unter der nächsten Laterne den ohnmächtigen Häcksel liegen sah.

Inzwischen hatten sich aber die beiden Flohweiber schon laut verständigt und verstanden.

„Ich habe da einen Esel von einem Kerl,“ rief Zinnoberchen der andern Flöhin, die sich „Vielliebchen“ nannte, zu. „Ich will nicht in der Nacht mit dem Dickschädel zusammen erfrieren. Wissen Sie nicht, wie man einen solchen Tölpel zur Besinnung zurückruft? Ich habe nämlich Eile und will auf ihm weiterreiten. Nein, was einen doch manchmal die Menschentiere ärgern können! Ich habe ihn schon in den Augendeckel gebissen, aber er schlägt die Augen nicht auf.“

„Guten Abend,“ rief Vielliebchen vom Nacken des Mädchens. „Ist Ihnen Ihr Mensch gestürzt? Ach Gott, springen Sie doch lieber ab und kommen Sie herüber zu mir. Ich nehme Sie auf meinem Vieh mit zur Stadt.“

„Ach, nein, das geht nicht,“ pfiff Zinnoberchen, „ich würde den Schwächling schon gern verlassen, da er doch bald krepiert, der Kerl. Aber erst muß er mich doch noch nach unserem Bergwerk zurücktragen.“

„Ah, ah, Sie sind aus einem Bergwerk,“ wunderte sich die Stadtflöhin laut. „Sie sind wohl zum Tanzvergnügen in die Stadt gekommen?“

„Ja, hm, hm,“ meinte die Flöhin Häcksels, welche sich ärgerte, daß die Rednerin kein Floh war, den sie hätte ins Bergwerk einladen können. Doch ihren Auftrag, Männer zu suchen, wollte sie nicht gleich verraten.

Der Kopf der „Königin der Nacht“ bog sich eben ganz nah über Häcksels Kopf, und die beiden Flohfrauen konnten sich schweigend betrachten, indessen die maskierte Menschenfrau die Westentaschen des besinnungslosen Bergmannes nach Geld durchsuchte. Als sie [103] nichts fand, nahm sie die Stiefel, die neben Häcksel lagen, und warf den einen über den Bretterzaun dem Arbeiter am Ofen an den Kopf.

„Das geht nicht. Den Stiefel her, sie muß sofort den Stiefel wieder holen,“ begehrte heftig ärgerlich Zinnoberchen. „Wir brauchen den Stiefel zum Heimweg.“

„Den Stiefel her,“ rief jetzt auch Vielliebchen.

„Er kommt schon,“ antwortete ein dritter weiblicher Floh fernher vom Bauch des Arbeiters am Trockenofen. Und zugleich warf der erboste Arbeiter, der das Wurfgeschoß im Eifer für einen zweiten Backstein gehalten hatte, den Stiefel über den Zaun zurück, und er fiel Häcksel auf die Stirn, so daß der Besinnungslose erwachte, als eben die Maskierte seine Hosentasche nach Geld durchsuchen wollte.

„O, o,“ seufzte Häcksel und starrte auf die in schwarze Schleier gehüllte Gestalt, an der unzählige stählerne aufgenähte Paillettensterne im Laternenlicht bläulich glitzerten. „Wer bist du?“ fragte der Erwachte.

„Wer ich bin? Ich bin halt eine von der Gasse. Ach, du betrachtest meine Sterne am Gewand! Ja, ich stelle nämlich die Königin der Nacht vor. So heißt man meine Maskentracht.“

Verdutzt und verblödet vor Schwäche und Staunen schüttelte Häcksel den Kopf.

„Wenn ich nur was zu essen hätte,“ murmelte er, „dann wär alles gut.“

„Wenn du ein Geld hast, gehst halt mit mir; ich bring dich schon wohin, wo du bald satt wirst.“

Erschrocken fuhr Häcksel mit den Händen um seinen Leib und tastete nach seinem Leibgurt, und er wurde kräftig, als er merkte, daß ihm die Silbergulden nicht fehlten.

Nachdem er verwundert zugesehen, wie ihm die Königin der Nacht geholfen, die Stiefel anzuziehen, wanderten beide nebeneinander weiter.

Aber vorher sah Häcksel noch etwas Schreckliches. Er erblickte durch die offenstehende Plankentür im Erdgeschoß eines Hauses einen großen fensterlosen Raum, dort stand ein glühender Ofen, und vor der offenen roten Ofentüre stocherte ein Mann mit zwei Gesichtern im Feuer herum.

„Was tut der dort?“ stotterte Häcksel erschrocken.

„Komm weiter!“ sagte die geheimnisvolle Schwarzverschleierte, „das ist mein Schatz gewesen, der war mit mir beim Tanzen heute. Aber ich laß ihn laufen, weil der arme Teufel kein Geld nie hat. Du bist jetzt mein Schatz, wenn du ein Geld hast. Aber erst zeigen!“

„Was zeigen?“ fragte Häcksel.

„Geld zeigen,“ schnauzte ihn die Königin der Nacht barsch an.

„Niemals,“ gab der Verwirrte zurück. „Das ist mein Begräbnisgeld, das verausgabe ich nicht fürs Tanzen. Das gäb ich auch nicht dem Teufel!“

„Was, du Aff, du blöder,“ kreischte ihn das Frauenzimmer an. „Von mir aus kannst du dich auf dem Mist begraben lassen!“ Und da sie von fern den Schritt eines Schutzmannes hörte, gab das Frauenzimmer dem Häcksel eine sausende Ohrfeige und sprang in die Nacht davon.

Dieser Backenstreich hatte das Gute, daß er den Burschen wärmer machte, als wenn er einen Kognak bekommen hätte. Und ganz wach geworden, begann auch er zu laufen, so rasch er konnte, dorthin, wo am Ende der dunklen Neubautenstraße der Nachthimmel heller leuchtete, und wo ihm Leben zu sein schien, das ihn lockte.

„Danke Ihnen!“ hatte Zinnoberchen dem Vielliebchen noch nachgerufen, als sie spürte, wie ihr Menschenvieh wieder flott weitertrabte. Sie hatte, während Häcksel sich mit Hilfe des Mädchens aufgerafft hatte, allerhand Ratschläge von der Flöhin erhalten, besonders nachdem sie berichtet hatte, welches ihr Reisezweck war. „Sie müssen Ihren Kerl in ein Haftlokal lenken,“ hatte ihr die kluge Stadtflöhin noch zuletzt geraten. „Dort wimmelt es von allerhand Möglichkeiten, Flohmännerbekanntschaften zu schließen.“ Dann hatte sie ihrem Menschenvieh ins Ohr geschrien: „Haue ihm eine Ohrfeige hin.“ Was auch geschah. Also ermuntert von dem guten Einfall Vielliebchens, war Häcksel stark und unternehmend ins Leben zurückgekehrt und fühlte sein Blut besonders auf der linken Gesichtshälfte, wo der Schlag hingefallen, angenehm warm kreisen.

Man ist doch in der Hauptstadt gleich mitten im Leben, dachte heiß der Geohrfeigte. Die Königin der Nacht und der Teufel sind mir schon begegnet. In unserem Bergwerk daheim werden die Flöhe staunen, wenn sie davon hören.

Und er überzeugte sich, mit dem Zeigefinger hinter sein Ohr tastend, daß er die Flöhin Zinnoberchen noch nicht verloren hatte, und war zufrieden darüber.

Dann fand Häcksel endlich eine lebhaftere Straße, und da funkelte Licht, und erleuchtete Wagen ohne Pferde surrten heran und jagten vorüber. Und in der nächsten Straße war so viel Licht, als wenn Häcksel einen Schlag mit der Faust ins Auge bekommen hätte und Feuerfunken tanzen sehen könnte. Menschen, Männer und Frauen, Arm in Arm, sich wiegend und lachend und kreischend, kamen herangezogen. Manche hatten weiße, andere rote, andere schwarze Gesichter, und einige hatten besonders große Nasen vom Gesicht abstehen, aber alle grinsten vergnügt. Häcksel hatte niemals ähnliche Menschen gesehen und wurde scheu und ängstlich. Und wie er an ein besonders hellerleuchtetes Haus kam, dachte er, das müsse ein Gasthaus sein. Denn es war ein leuchtendes Schild davor, das glänzte auf und verschwand, und der Wirt, der das Gasthaus besaß, hieß „Kino“.

Der Mann stand in einem langen grünen Rock vor der hellerleuchteten Türe, und viele goldene Knöpfe glänzten an ihm und goldene Tressen.

„Ach, Herr Wirt,“ grüßte Häcksel den Türwächter des Kinotheaters, das er für ein Wirtshaus hielt, „kann ich hier ein Glas Bier trinken.“

„Natürlich,“ nickte der, „Bier gibt es auch in den Zwischenpausen.“

Dann mußte Häcksel an einer Kasse einen Platz für das Biertrinken bezahlen und kam in einen dunkeln Saal, wo man mit dem Licht sparte. Das kam ihm seltsam vor. Im dunkeln Saal war nur eine helle Wand, durch die sah man hinaus auf eine lebendige Welt.

Häcksel dachte: Die Leute sitzen hier wie in der Kirche, und die Dunkelheit ist gruselig, vielleicht ist das das Jüngste Gericht. Denn alle Anwesenden waren totenstill und alle sahen auf Schattenmenschen, die auf einer Wand erschienen und zitternd in einem Lichtstrahl vorüberliefen, lautlos und ohne Stimme, und dazu ertönte von unsichtbaren Musikanten eine Musik. Aber Häcksel nahm sich vor, lieber auch auf das Glas Bier zu verzichten, als sich dem totstillen Jüngsten Gericht auszuliefern und einzugestehen, daß er einen Gurt voll unrechtmäßig erworbener Silbergulden bei sich habe.

Er drehte sich rasch entschlossen auf dem Absatz um und lief wieder auf die Straße hinaus.

Da kam ein erleuchteter langer Straßenbahnwagen gefahren, und Häcksel sah, daß viele Leute dort in den Wagen einstiegen. Und allen Leuten glitzerten bunte Kleider unter den Mänteln, und alle trugen bunte Mützen, und die Frauen hatten Kapuzen überm Kopf, und alle kicherten und lachten und kreischten, und sie waren so vergnügt, als ob sie in den Himmel führen.

Und Häcksel drängte auch mit in den Wagen, und als das Gefährt sich bewegte, begann er zu schwanken und fiel auf den Schoß eines Mannes, der hatte einen pechschwarzen Backenbart um ein rosiges Gesicht hängen. Und er hatte einen breiten Leibgurt und war in tiroler Tracht gekleidet, und auf dem Gurt stand mit silbernen Fäden gestickt: „Andreas Hofer“.

Daß das der Andreas Hofer selbst war, glaubte Häcksel nicht. Er müßte höchstens dann von den Toten auferstanden sein. Aber es war vielleicht ein Verwandter von Andreas Hofer, der den Gurt geerbt hatte, meinte der Bergmann. Und wie er noch ganz verblüfft dem Andreas Hofer im Schoß saß, schien ihm der Mann so anziehend, als wenn er gar kein Mann, sondern eine Frau wäre. Und er blieb ruhig sitzen, wo er warm und weich saß, weil gar kein Platz im Wagen war als auf dem Schoß von Andreas Hofer.

Inzwischen flüsterte ihm dieser heimlich ins Ohr: „Ich heiße Ida Fliegenhitzer. Willst mit? Dann bist gern eingeladen!“

Der Häcksel war zwar ein schwachbrüstiger, sonst aber ein ganz schmucker Bursch. Wenn er nicht die Schwindsucht gehabt hätte, wäre er eine Männerschönheit gewesen. Es fehlte ihm nichts als rote Backen und ein Brustkasten.

Eine wunderschöne Stadt, diese Stadt München! Die Männer verwandeln sich in Weiber, sogar wenn sie vorher Andreas Hofer geheißen haben und einen schwarzen Backenbart besitzen.

Also ging Häcksel mit der Ida Fliegenhitzer in ein Bräu, nachdem sie ihm vorher gezeigt hatte, daß ihr Bart nicht angewachsen war. In dem Brauhaus war es noch erstaunlicher als auf der Straße.

Im Gedräng erschien dort plötzlich ein Mann mit goldener Krone auf dem Kopf, das war der König, und er hatte auch einen roten Mantel und ein goldenes Zepter. Der nahm augenblicklich dem Häcksel die Andreas Hofer vor der Nase weg und hob sie auf seine Schulter und trug sie davon.

Der Häcksel staunte schon bald über gar nichts mehr, auch nicht, als er sich ein Glas Bier bestellte und es ihm von einem vorübertanzenden Neger mitgenommen und ausgetrunken wurde.

In der Straßenbahn war der Bergmann im Gedräng mitgefahren, ohne zu bezahlen; im Kino hatte er das einzige Zehnmarkstück, das er bei sich hatte, aus der Hand verloren oder hatte es dem Andreas Hofer in den Schoß fallen lassen; er wußte es nicht mehr genau. Er wußte nur, daß er plötzlich kein Geld hatte als die ungewechselten altmodischen Silbergulden. Als ihm das Bier ausgetrunken wurde, bezahlte er es nicht, sondern drückte sich heimlich auf die Straße zurück.

Dabei fühlte Häcksel plötzlich, daß ihm viel Leben in die Kleider gekommen war. Denn die Bergwerkflöhin hatte überall im Gedräng Flohgenossen gewittert und diese laut zu sich eingeladen, und die Neuangekommenen untersuchten nun das Vieh, das die Flöhin ritt, um sich zu entscheiden, ob diese Menschenart ihnen zusagte, ehe sie einwilligen wollten, die Reise nach dem Bergwerk mitanzutreten.

Das Zinnoberchen lobte Häcksels Blut über alle Maßen. Es wäre besonders süß, sagte sie, da der Bursch immer Fieber habe, und deshalb sei sein Blut immer um einiges wärmer, als Menschenblut sonst ist.

Die Flöhe aber waren alle zimperliche verwöhnte Stadtherren und fanden gar keinen Gefallen an Häcksel. Sie nahmen sich vor, einer nach dem andern wieder im Gedränge abzuspringen und die Bergwerkflöhin mit ihrem Menschenvieh allein zu lassen, denn sie fanden sein Blut matt und abgestanden. Trotz der Ohrfeige, die, wie die Flöhin ihnen versicherte, das Vieh eben bekommen habe, fanden sie das Bergmannblut nicht süß, sondern säuerlich. Ein älterer Flohherr gab der Bergwerkflöhin noch rasch einen guten Rat, ehe er zum Absprung ansetzte. Sie müsse den Menschenkerl in ein Haftlokal bringen, dort wäre manchmal eine Zufuhr von frischen Arbeiter- und Kroatenflöhen vorrätig. Diese könnten dem Bergwerk gut zur Auffrischung der Lebenslust dienen.

Häcksel, dessen Magen leer und überhungert war, schwankte wieder in das Brauhaus zurück, denn es war ihm zu seinem Hunger auch noch ein großer Schrecken in die Glieder gefahren. Er hatte draußen unter einer Laterne den leibhaftigen Tod aus einer Droschke aussteigen sehen. Eine lange weiße Gestalt mit einer Sense in der Knochenhand hatte er gesehen, und unter einem weißen Laken grinste ihn ein Totenkopf so schaurig an, wie nur die Totenköpfe der Verschütteten ausgesehen hatten, die Häcksel im blinden Stollen ausgegraben, ehe er auf den Geldgurt gestoßen war.

Rasch wendete sich Häcksel, am ganzen Leibe schlotternd, wieder in das Brauhaus zurück und ließ sich vom Gedränge vorwärtsschieben, halb erwürgt von Hunger, Durst, Schwäche und Angst.

Da stand ein hübsches Mädchengesicht vor ihm; das war von einem Vergißmeinnichtkranz umrahmt, und kleine flachsblonde Locken kräuselten sich ihr zierlich um Stirn und Nacken und verdeckten die Ohren. Vom Kopf fiel ein bräutlicher Schleier, der war dem blonden Geschöpf unterm Kinn zusammengebunden und hüllte auch den Körper zart und dicht ein. Auch Silberspangen und Silbergürtel glänzten an ihr.

„Bist du mein Schutzengel?“ stieß der geängstigte Häcksel hervor. Die weiße Gestalt nickte geheimnisvoll und hing sich an seinen Arm und legte ihren weißbehandschuhten Zeigefinger auf ihren Mund, zum Zeichen daß sie schweigen müsse.

Der Bursche war froh, daß er nach dem Anblick des Totenkopfes jetzt von dem vergißmeinnichtbekränzten Mädchen begleitet wurde. Er bestellte bei der Kellnerin zwei Glas Bier und vieles Essen und entschloß sich, die Zeche von seinem Begräbnisgeld zu bezahlen.

„Du bist ja so blaß,“ wisperte der Schutzengel und schmiegte sich am Biertisch, der dichtbesetzt war, auf Häcksels Schoß. Die Bekränzte reichte ihm dann aus ihrem Handtäschchen einen Spiegel und einen roten Stift. Während Häcksel in den Spiegel guckte, malte das Mädchen ihm gesunde rote Backen und eine kräftige rote Nase in sein Gesicht.

Häcksel mußte lachen und sich wundern über das, was die Schutzengel alles verstehen. Er, der kranke blasse Häcksel, sah nun wie das glühende Leben aus. Mindestens so rot, als ob er zwei neue Ohrfeigen links und rechts und einen Faustschlag auf die Nase bekommen hätte.

Während er eben erleichtert aufatmen wollte, fand er sich ums Zwerchfell besonders leicht geworden, und er bemerkte, wie ihm sein Schutzengel den schweren Geldgurt abgeknöpft hatte, indessen er in sein gesundes rotbackiges Spiegelbild vertieft gewesen. Der Schutzengel wollte eben den Gurt in der Tiefe seiner Schleier verschwinden lassen, als Häcksel zugriff und den Gurt heftig an sich riß.

Dieses geschah im gleichen Augenblick, als die Kellnerin mit vielen Tellern und Schüsseln, voll mit leckerem Braten, Kraut, Kartoffeln und Brot und mit Biergläsern beladen, sich über den Tisch beugte und Essen und Trunk vor Häcksel niedersetzte. Die Bratendämpfe stiegen dem schwachen Burschen wunderbar anregend in die Nase, und er vergaß den Schutzengel einen Dieb zu nennen, da Bier und Speisen, die vor ihm hingerückt waren, ihn ganz mit Essensgier erfüllten.

Aber ein lautes Klingeln und Rollen von vielen Silberstücken unter Tisch und Stühlen und der offene leichte Geldgurt, aus dem ihm alle Silbergulden fortgerollt waren, erschreckten [116] ihn, und er fuhr auf. Der helle Schutzengel, der sich noch nach einigen Silbergulden gebückt hatte, verschwand rasch im Gedränge zwischen den nächsten Tischen.

Die Leute in nächster Nähe, die das viele Geldherumrollen hörten, bückten sich alle zugleich und suchten nach dem Geld. Viele halfen die Gulden aufheben. Man lachte und brachte die Gulden zurück, aber viele Gulden blieben auch in den Händen der Suchenden und unter ihren Füßen, die sich fest daraufstellten und nicht weiterrückten.

Häcksel bekam nicht die Hälfte der Gulden zurück, und der Gurt war viel leichter als vorher, und es schmerzte den Burschen sehr, als er dachte, um wievieles weniger schön sein Begräbnis nun werden würde. Und Schuld daran war sein diebischer Schutzengel.

Inzwischen hatten sich auch einige Bratenteller geleert und das Bier war verschwunden, und nur ein Teller mit Brot war vor Häcksel stehen geblieben. Er war eben dabei, ein Brot zu nehmen und den ersten Bissen, den er an diesem Tag bekam, in den Mund zu stecken, als ihm das Brot aus der Hand genommen wurde und der Schutzengel wieder mit einem rothaarigen Menschen vor Häcksel stand und diesen für einen Falschmünzer erklärte.

Die alten Gulden wären nachgemachte Gulden aus Zinn, erklärte der Rothaarige und forderte von Häcksel, daß er ihm augenblicklich den Ledergurt mit den Münzen ausliefere.

Häcksel sagte das, was er sich für alle Fälle vorher zurechtgelegt hatte, er habe die Silbergulden geerbt.

„Es sind Zinnmünzen,“ erklärte der Rothaarige und winkte einem Schutzmann, der den Schutzengel und Häcksel beide zum Saal hinausdrängte. Viel Volk begleitete sie, und draußen wurden beide in die Droschke gepackt, aus der vorher der Tod ausgestiegen war.

Dem Häcksel schwirrte der Kopf. Der Schutzengel aber und der Schutzmann, die mit ihm in der Droschke saßen, flüsterten miteinander. Dann hielt der Wagen, und beide stiegen aus und hießen ihn warten. Der Rothaarige, der beim Kutscher auf dem Bock gesessen hatte, sagte, nachdem er sich mit dem Schutzengel am Wagenschlag leise besprochen hatte, Häcksel müsse aussteigen und an einem Tor warten, bis sie wiederkämen. Wenn er sich aber rühren würde, dann kämen die Bluthunde hinter dem Zaun hervor und würden ihn zerreißen.

Häcksel, der kaum noch vor Hunger und Aufregung sehen und hören konnte, setzte sich auf einen Prellstein am Tor nieder.

Dort fand ihn nach mehreren Stunden ein seltsames Paar. Ein in ein Fell eingenähter Mensch, der einen künstlichen Löwenkopf aufgestülpt hatte, und ein kahlköpfiger Alter in grauem Kaftan, der eine Laterne in der Hand trug, die fanden Häcksel tief eingeschlafen.

Der Löwe beschnupperte den Schlafenden, und der Laternenmann beleuchtete ihn, und dann setzten sich Löwe und Greis zu beiden Seiten neben Häcksel nieder und schliefen neben Häcksel ein. Die Laterne, die auf dem Pflaster stand, beleuchtete alle drei Gesichter, und auf Häcksels Stirn kamen seine Schicksalslenker zusammen. Das waren stattliche Flohkerle, die aus den Polstern der alten Droschkenkissen zu Häcksels Flöhin Zinnoberchen gehüpft waren. Die Flöhe berieten, was aus ihnen werden sollte, denn sie hatten gesehen, wie der Rothaarige, der Schutzmann und der Schutzengel Häcksels ganzes Geld behalten hatten, und sie wußten, daß diese Leute Spitzbuben gewesen waren.

„Seid nur ruhig!“ sagte ein Floh des Laternenmannes. „Wir treffen alle zusammen im Haftlokal wieder. Sie sind schon verhaftet worden, weil die vielen Silbergulden, die sie ausgaben, Verdacht erweckten.“

Und ein Floh aus dem Löwenfell machte Zinnoberchen stark den Hof und tat sehr verliebt und versicherte, ihr bis ans Weltende folgen zu wollen. Als er aber von ihr seinen verliebten Willen erreicht hatte, sprang er vergnügt hoch in die Luft, kam aber aus der Luft nicht mehr zurück. Denn er war heimlich hinter den Plankenzaun gesprungen, wo ein Hühnerhaus stand, und dort ließ er es sich wohl sein bei den Flöhen der Hühner.

Die Laterne brannte noch, als es schon Tag wurde, und der Löwe, der Greis und Häcksel, alle drei schliefen fest und schnarchten wie besessen, trotzdem die Bäckerjungen auf Fahrrädern mit Körben und Säcken voll Brot an ihnen vorbeiradelten und ihr Morgenlied pfiffen.

Einmal aber versah sich einer der Bäcker aus Erstaunen über die drei Schläfer, so daß sein Rad an den Straßenrand stieß und sein Korb mit Brot im Bogen fortflog und gerade dem schlafenden Häcksel an die Stirn fiel.

Häcksel erwachte, sah vor sich einen offenen Korb, der voll duftender frischer Brötchen war. Er griff mit beiden Händen zu, und er hatte bereits zwei Wecken verschlungen, als der gestürzte Bäckerbursche herbeigelaufen kam und ein großes Geschrei aufschlug, weil er Häcksel sah, der ein Brot nach dem andern verzehren wollte. Auch der Löwe und der Greis waren erwacht und griffen, da es sie hungerte, nach dem Brot. Als der Bäcker so sehr schrie, warf ihm der eine die brennende Laterne an den Kopf. Zuletzt aber, wie der Bäcker die drei einträchtlich seine Brötchen verschlingen sah und sie genauer betrachtete, lachte er hellauf und fuhr rasch radelnd davon, denn er war in der Nacht als weiblicher Schutzengel verkleidet gewesen und erkannte plötzlich Häcksel wieder, dem er das Silbergeld gestohlen hatte. Er war entschlüpft, als man seine Kameraden, den Rothaarigen und den Schutzmann, verhaftet hatte und hatte zu Hause seinen Vergißmeinnichtkranz, seine blonde Perrücke und sein Schleiergewand abgelegt und war in seine Bäckerei, wo er Lehrling war, geeilt, weil er die Wecken austragen mußte. Jetzt aber fürchtete er, von Häcksel erkannt zu werden, und eilte schleunigst fort.

In dem Korb waren aber auch Bierbrezeln, und als der Löwe und der Greis sich satt gegessen hatten, ließen sie Häcksel den Korb und sagten, als er ihnen klagte, daß ihm sein Geld gestohlen sei, er solle die Bierbrezeln in den Wirtshäusern verkaufen, damit er Heimreisegeld bekäme. Dann raffte der Greis seine Laterne auf, und der Löwe verbeugte sich, und beide verschwanden am Ende der Straße im Morgennebel.

Häcksel aber, dem der Mund trocken war, ging zu einer Straßenpumpe, wo eben ein Kutscher seinem Gaul Wasser gab. Er bat den Kutscher, daß er ihm vom Wasser aus der Pferdekufe trinken lasse. Als er getrunken hatte und sich aufrichtete, erzählte er auch diesem Kutscher, daß man ihm sein Geld gestohlen hatte. Der sagte, er habe schon davon gehört. Ein Kollege habe ihm heute morgen erzählt, daß zwei Fahrgäste, ein Rothaariger und einer, der als Schutzmann verkleidet war, einem Mann einen Ledergurt mit Silbergulden gestohlen hätten, und daß beide von wirklichen Schutzleuten zum Haftlokal geführt worden seien.

Dem Häcksel wurde ganz wohl, als er das hörte, und er schenkte dem Kutscher die Bierbrezeln und bat, ihn dafür zu jener Polizeistation zu fahren, da er seinen Ledergurt wiederholen wollte.

Der Kutscher tat das auch. Und Zinnoberchen, als es hörte, daß Häcksel freiwillig zum Haftlokal fahren wollte, war vergnügt und guter Dinge und vermißte ihren treulosen Floh aus dem Löwenfell nicht länger.

Aber auch Flöhe bekommen nicht in allem ihren Willen. Häcksel wurde nicht ins Haftzimmer, sondern nur in die Polizeiwachtstube geführt. Dort fand die Flöhin gar nicht, was sie wollte.

Man gab Häcksel seinen Gurt zwar nicht zurück, aber man zeigte ihm denselben, und er erkannte ihn als den seinen.

Dann wurde ein Polizist beauftragt, Häcksel in sein Heimatdorf zu begleiten und dort in Erfahrung zu bringen, wie Häcksel zu dem Silbergeld gekommen sei.

Häcksel behauptete immer noch, er habe es geerbt. So kam Häcksel auf Polizeikosten zurück in sein Heimatdorf. Nach langem Fragen glaubte man endlich Häcksel, und man ließ ihn wieder seine Bergwerkarbeit antreten.

Zinnoberchen bekam inzwischen viele Junge. Es waren Flohkinder, von ihm, der damals in der Nacht über den Plankenzaun in den Hühnerstall geflüchtet war. Die Flohmänner waren ihr unterwegs alle wieder abhanden gekommen. Sie kehrte einsam und nur mit vielen Kindern beschenkt mit Häcksel ins Bergwerk zurück.

Häcksel aber bekam zwar jenen Geldgurt zurück, doch fand sich kein einziger Silbergulden mehr in dem Gurt. Die letzten waren auf der Polizei herausgerollt, und niemand wußte wohin.

Als Häcksel den leeren Gurt umschnallte, wurde er schwermütig. Er fieberte täglich heftiger und heftiger und wollte doch nicht sterben, da ihn kein Begräbnis erster Klasse erwartete.

Häcksel hat sich dann im Bergwerkpferdestall anstellen lassen und kam gar nicht mehr an die Erdoberfläche. Davon, daß er überhaupt nicht mehr die Luft wechselte und immer in der durchwärmten Schachtluft wohlbeschützt dahinlebte, heilte seine Lunge aus, und er genaß von seiner Schwindsucht und dem Fieber.

Aber eines Tages schlug ihm ein Pferd, als er sich eben bückte, mit dem Hinterfuß vor den Kopf, da Häcksels Leibfloh das Pferd unsanfter als sonst in die Weichen gebissen hatte.

Eine ganze Nacht lag Häcksel in seinem Blut unter dem Pferd. Niemand war da, und nur die Flöhe sahen von allen Pferderücken herunter neugierig zu, wie so ein Menschenvieh endlich einmal stirbt. Sie lachten und kicherten, bissen in die Pferdeweichen und hatten es wunderschön, indessen Häcksel nochmals die Nacht durchlebte, da er alles Geld verloren hat. Der Teufel mit zwei Gesichtern setzte sich auf eine Pferdekrippe in die Stallecke, wo der rote Laternenschein den Stall schwach aufhellte, und von der Decke über dem Heu, wo die Spinnweben dick festhingen, löste sich die Königin der Nacht los und krallte eine Hand in Häcksels Kopfwunde, die ihm der Pferdehuf geschlagen hatte.

„Laß mich, laß mich,“ krächzte der Verwundete und wälzte sich zum Vergnügen der jungen Flöhe hin und her. Und er sah dann, wie der schwarzbärtige Andreas Hofer mit der Königin der Nacht zu ringen begann. Es wurde im Stall heller, weil die Nacht von Andreas Hofer besiegt wurde.

Dann nahte der vergißmeinnichtbekränzte Schutzengel und fragte Häcksel streng, ob er noch etwas zu gestehen hätte, er solle sich das Herz durch ein Geständnis erleichtern.

Die Flöhe verfolgten von den Pferderücken herunter dieses Theater im fiebernden Hirn des Sterbenden mit Spannung. Denn da sie ihr Lebenlang mit dem Menschenblut des Häcksels aufgefüttert waren, verstanden sie dieses Blutes Sprache gut und sahen alles, was der Sterbende zu sehen vermeinte.

„Ich wette, er wird nichts gestehen,“ lachte der Jüngste der Flohbrut. „Gesteh nichts, sag nichts, es ist dein gutes Recht zu schweigen,“ rief er mit Eifer zu Häcksel herunter.

„Nein, sage es nur! Er weiß es ja schon selber, daß du die Silbergulden aus dem blinden Stollen gestohlen hast,“ kreischte der Chor der andern frech und lustig.

Häcksel schwieg und ächzte. Er schwieg auch, als alle Toten aus dem blinden Schacht mit vorwurfsvollen Gesichtern an ihm vorüberzogen.

Da winkte der Teufel in der Ecke des Stalles, und herein sprang der Höllenhund und stand wie ein großer Löwe mitten im Stall und schüttelte sich knurrend.

Aber zugleich kam auch ein Greis herein – das war Petrus – und faßte den Höllenhund an der Mähne, so daß er sich nicht auf Häcksel stürzen konnte.

„Gesteh, daß du das Silbergeld nicht geerbt hast,“ drohte der glatzköpfige Petrus und griff nach der Stallaterne und drohte, daß er das Lebenslicht in der Laterne, das dem Häcksel gehörte, ausblasen würde, so daß der Halsstarrige dann vom finstern Höllenhund verschlungen werden müßte.

„Bravo,“ lachten die Flöhe und höhnten, „siehst du, jetzt hast du dein erstklassiges Begräbnis im Bauch des Höllenhundes.“

„Ich habe das Geld – das gar kein Geld war, von dem ich gar nichts ausgegeben habe, von dem ich mir nicht einmal ein Glas Bier bezahlt habe, – im Stollen ausgegraben und nicht geerbt,“ schrie Häcksel.

„Hier hast du ein Stück Holzkohle aus dem Feuerbecken des Teufels. Mit diesem schreibe dein Geständnis an die Kalkwand des Stalles, damit die Leute dein Geständnis schwarz auf weiß haben.“

Dann, als Häcksel geschrieben hatte, sagte Petrus und hob den Zeigefinger drohend:

„Siehst du, mein lieber Häcksel, du hast es erleben sollen, daß unehrlich angeeignetes Gut nicht den kleinsten Genuß bereitet. Und daß Diebstahl einem mehr Mühe, Schweiß und Ärger bereitet als die härteste ehrliche Arbeit, das weißt du jetzt.

Da du aber im Leben bereits deine Tat gebüßt hast, will ich dir nun doch ein Begräbnis erster Klasse auf himmlische Staatskosten bereiten. Komm und steige in die Himmelskutsche, die vor der Stalltüre steht. Mit dir wird aber auch Zinnoberchen den Himmel und das Begräbnis erster Klasse teilen, denn der Pferdehuf hat sie auf deiner Stirn zertreten, als er dich traf.“

Da erst erfuhr die Flohbrut den Tot ihrer Mutter. Und nun duckten sie sich alle vor Schrecken. Und das Pferdeblut und das Menschenblut in ihren Leibern wurde ganz blaß, und sie sprangen für diese Nacht weit fort in das Bergwerk und kehrten erst nach Tagen in den Stall zurück, als man Häcksels Leichnam an die Erdoberfläche gebracht und dort wieder in die Erde gebettet hatte.

Dieses ist die Geschichte von Häcksel und den Bergwerkflöhen. Und wenn die Flöhe inzwischen im Bergwerk nicht doch ausgestorben sind, so leben sie heute noch dort, so frech wie damals.

 

 

Weiterführend →

Die von Farben und Tönen bestimmte ungebundene und rhythmische Lyrik machte Dauthendey zu einem der bedeutendsten Vertreter des Impressionismus in Deutschland. Seine Werke sind bestimmt von der Liebe zur Natur und deren Ästhetik. Mit virtuoser Sprachbegabung setzte er seine Sensibilität für sinnenhafte Eindrücke in impressionistische Wortkunstwerke um. Bereits seine erste Gedichtsammlung von 1893 mit dem Titel „Ultra-Violett“ lässt die Ansätze einer impressionistischen Bildkraft erkennen, die dichterisch gestaltete Wahrnehmung von Farben, Düften, Tönen und Stimmungen offenbart. In seiner späteren Natur- und Liebenslyrik steigerte sich dies bis zur Verherrlichung des Sinnenhaften und Erotischen und traf sich mit seiner Philosophie, die das Leben und die Welt als Fest, als panpsychische „Weltfestlichkeit“ begriff. Rilke bezeichnete ihn als einen „unserer sinnlichsten Dichter, in einem fast östlichen Begriffe“.