Die Kiste VI

 

Aus voller Brust und mit Inbrunst, wenn dieses Wort überhaupt noch Teil des aktiven deutschen Wortschatzes sein sollte, hatte er geniest. Nichts. Keine Antwort, obwohl um ihn herum einige Bekannte stehen. Früher galt es als höflich, dem anderen “Gesundheit” zu wünschen. Man wollte nicht darauf aufmerksam machen, dass der Andere, das Gegenüber krank ist, sondern den Nieser als Anlass nehmen. “Ich wünsche dir Gesundheit, ich nehme Anteil an deinem Leben.” Auch wenn dies ganz elliptisch auf ein Wort verkürzt war. Meistens konnte man damit eine kleine Freude bereiten. Heute aber Schweigen. Vor einigen Jahren haben einige selbsternannte Kniggenachfolger in die Welt gesetzt, dieser Wunsch sei eine Unsitte und damit auch noch unhöflich, weil man den Anderen eben auf einen bereits bekannten Zustand aufmerksam mache. Das habe, so wurde in der Folge diskutiert, schon fast diskriminierende Züge.

Herr Nipp blickt sich verwundert um, auch seine Bekannten, die er sonst jeden Tag sieht, halten sich wohl neuerdings an diese neue Gepflogenheit. Trotzdem sagt er aus alter Gewohnheit “Danke”. Da meint einer seiner engeren Bekannten: “Wenn schon, dann solltest du dich entschuldigen.” Soweit ist es also gekommen. Weil irgendwelche Leute irgendetwas in die Welt setzen, dies in der einschlägigen Presse veröffentlichen und in Boulevardmagazinen auch noch diskutieren, glauben die restlichen Mitbürger daran. Aus einer kulturellen Höflichkeitsfloskel wird eine Unmöglichkeit, neudeutsch dann wohl no go. Demnächst soll dann wahrscheinlich, denkt Herr Nipp, auch noch der freundschaftliche, der höfliche, der geschäftliche Handschlag abgeschafft werden, weil man dem Gegenüber ja irgendwelche Bakterien in die Hand drücken könnte.

Herr Nipp macht sich auf dem Heimweg verstimmte Gedanken. Zu Hause angekommen zieht er aus alter Gewohnheit einen Zettel aus der Kiste und findet nur ein Wort: “Gesundheit”

 

 

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Die Angst perfekter Schwiegersöhne, Edition Das Labor 2011

Weiterführend →

Dieser short-short gehört zu einer Reihe, die KUNO anläßlich des Erscheinens von Die Angst perfekter Schwiegersöhne präsentiert. Im kommenden Jahr erwartet die Leserschaft ein Zyklus, der nicht in diesem Buch zu finden ist. Das Taschenbuch ist schlüssigerweise kein Künstlerbuch. Was aber, wenn doch ein Originalholzschnitt auf dem Deckblatt der Vorzugsausgabe zu finden sind?

Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus ab 2017 Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp.

Weiterführend → Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie einen Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Die Künstlerbucher sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421

 

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