Eigenwillige Verzweigung

 

Die seit 1988 in Deutschland lebende iranische Künstlerin und Schriftstellerin wählt in ihrem Gedichtband, der auf dem Cover neun farbige Reproduktionen aus ihrem malerischen Oeuvre zeigt, eine berühmte literarische Figur, die zum Sinnbild kapitalistischer Ausbeutung geworden ist. In der vorliegenden Publikation, auf deren Rückseite Sheila Aghapour mit einem Zitat aus dem Titelgedicht abgebildet ist, wird Oliver Twist zum Symbol der leidenden Straßenkinder von Teheran: „Die Straßenmenschen / sie weinen nicht vor Angst / sie altern vor ihrer Zeit“ (S. 83). Sie sind abhängig von den „Herren des Opiums / deren Seelen längst gestorben / sie rufen die Süchtigen in den Tod.“ (S. 83)

Aghapours Gedichte sind leidenschaftliche Anklageschriften gegen das unmenschliche Regime der Mullahs, deren religiöser Fanatismus voller Zynismus ist, unter deren Gewändern die teuren Anzüge der Haute Couture ihren absurden Hass auf den dekadenten Westen widerspiegeln. Aghapours Verse, die oft apodiktisch ausformuliert sind, sind voller Sehnsucht nach einer heilen Welt, die der kranken Welt diametral entgegensteht: „Ich schaue die Welt / wie sie an den Menschen erkrankt.“ (S. 56). Und diese Menschen tragen „das Lachen – das Weinen – das Leben / die …Vernichtung in sich …“(S. 56) Und das lyrische Ich? Es mäandert zwischen den Welten, dem Kosmos und dem Chaos der Erde, sowie zwischen der Welt des Exils und ihrer Heimat. Noch stärker allerdings erweist sich der Wunsch, „Eins in zwei Welten“ (vgl. S. 9) zu sein: „ich löse mich im Ozean der Welten auf / Ich werde Staub / der kleinste Teil des Kosmos … An der Grenze der Liebe / steige ich – wie ein Keim / in zwei Welten empor.“ (S. 9). Dass der Lyrikerin im Kampf mit den Heucheleien der Mullahs auch weniger glückliche Wendungen verwendet, mag der Übersetzung aus dem Persischen geschuldet sein: „Die Nabelschnur des Schicksals / wurde geschmiedet durch die Rufe des Muezzins / die gewaltsam in mir vertieften / was ich niemals verleugnen kann.“ (S. 9) Auch in „Reisende“ erweisen sich die lyrischen „Bilder“ im Original sicherlich von einer prägenden Kraft, im Deutschen hingegen klingt „Sie kettete / den Hauch der Nacht / an die Ufer …“ (S. 10) ein wenig manieristisch. Ebenso trifft ein solcher Eindruck auf die philosophischen Sentenzen zu. „Chaos des Kosmos“ setzt mit einer einprägsamen Erinnerung an die Kindheit ein, geht zur Bewertung des Philosophen über, der sich „zu jeder Wirkung / … seine Ursache“ schaffe, um im Bild des Derwisch mystisch zu enden: „Für den Derwisch / das alles ist gleichgültig / und ein Dichter kann / als Gefang’nen im Spiegel / den Mond sich halten“ (S. 17).

Deutlich und markant klingt das lyrische Ich von Shahla Aghapour immer dann, wenn es um die Verteidigung der elementaren Menschenrechte im Iran geht. Sie klagt die Männer an, weil sie den Frauen die Wahrheit vorenthalten, wie in „Reise“: „Ich sah einen Mann / der einen Kerker erbaute / um die Wahrheit darin zu verbergen / und eine geduldige Mutter / die all ihre Familie im Kriege verloren ..“ (S. 45) Und sie klagt die iranische Diktatur an: „Wo unser Land ist / das Land der Diktatoren und der Willkür / wo man Frauen steinigt / und Menschen erhängt / dort ist unser Land / – Wo man die Freiheit erniedrigt / und die Menschenwürde foltert …“. Sie weckt den Widerstandswillen der reformerischen Kräfte, indem sie ihre ganze Trauer über den Tod der Studentin Neda zum Ausdruck bringt, die im Sommer 2009 bei Unruhen in Teheran erschossen wurde: „Ich bedecke deinen Hals mit Sternenküssen / er ist rot / rot wie der Mohn / rot wie die Blume Arghavan.“ (S. 78)Andererseits entwirft Aghapour oft Bilder einer idyllischen Erde, die in ihrer persischen Muttersprache augenscheinlich eine blumenreiche Ornamentik entfalten, in ihrer deutschen Verkehrssprache jedoch verschwimmende Eindrücke hinterlassen. In „Traum des Lebens“ vergleicht sie ein anzustrebendes Paradies mit ihrer erlebten Realität, in der Elend, Krieg und Mordanschläge vorherrschen, um nach einer Welt „ohne Schranken, eine ‚Welt ohne Hass’ (S. 60) zu rufen.

Natürlich ist Shahla Aghapour auch eine orientalische Märchenerzählerin, die ihre Hörer und Leser in ein Fest der Sterne am Ende aller Galaxien führen will. Unter dem Titel „1001 Nacht“ entfaltet sie ihre wuchernden Bilder vom duftendem Erdgeruch, den Gesängen der Kanarienvögel und den Geheimnissen der Götter. In dieser ornamental ausgeschmückten Poesie liegt der ganze Reiz des vorliegenden Bandes, dem man sich noch einige handgemalte Bilder der Künstlerin als Illustration gewünscht hätte.

Es bleibt der Eindruck, dass die Mehrzahl der Texte von einer eigenwilligen Verzweigung der lyrischen Felder geprägt ist, so wie es in „Essenz“ lautet. „Ich bin / ein gespaltener Kern / ein Teil der Essenz / aus der Quelle des Alls.“ (S. 97). Sind es die psychischen Leiden des langjährigen deutschen Exils, die Shahla immer wieder in ihrem Gedankenfluss schwanken lassen? Entwickeln ihre lyrisch verdichteten Bilder immer dann erst ihre Wirkung, wenn sie im Bündnis mit ihren künstlerischen Bildern wirken können? Oder sind es die wundervoll geschwungenen Buchstaben der persischen Sprache Firsi, die nach der dürftigen Gestalt der deutschen Lettern greifen, um ihnen eine lautliche Qualität zu verleihen, die in unserer Sprache leider nicht in den Gehörgängen widerhallt.

 

 

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Oliver Twist in Teheran. Gedichte von Shahla Aghapour. Ludwigsburg (Pop Verlag) 2010

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.