Tigersprung ins Vergangene

Kaum jemand hat die die Rolle eines unabhängigen Intellektuellen im 20. Jahrhundert besser ausgefüllt, als der vor 70 Jahren von uns gegangene Walter Benjamin. KUNO erinnert an dieser nonkonformistischen Denker.

Man solle das Werk Benjamins nicht mit „unbilligen Konsistenzanforderungen konfrontieren“, hat Jürgen Habermas im Hinblick auf die Vielzahl der auseinanderdriftenden Motive seines Schreibens angemerkt. Der Literaturwissenschaftler und Avantgarde-Theoretiker Peter Bürger befand über den Werkcharakter von Benjamins Schriften, dass er „a-systematisch“ sei. Anders als bei Adorno, bei dem die Widersprüche in seinem „Anti-System“ dialektisch vermittelt seien, stehen sie bei Benjamin „nebeneinander, ohne dialektische Vermittlung“. Benjamin habe „das avantgardistische Prinzip der Montage auf den Essay zu übertragen versucht. Montage aber ist Zusammenfügung von Heterogenem mit dem Ziel, dass eben daraus etwas ‚aufblitzen‘ möge, das in keinem der montierten Teilstücke enthalten ist“. Nicht als „a-systematisch“, sondern als „fragmentarisch“ charakterisierte der Literaturwissenschaftler Detlev Schöttker die Formbestimmtheit von Benjamins Werk. In seiner Habilitationsschrift wählte er dafür die Bezeichnung „konstruktiver Fragmentarismus“.

Charakteristisch für Benjamins Schreibweise ist das „Bilddenken“, das Denken in Bildern (statt in Begriffen). In einem Bereich zwischen Philosophie und Literatur wirken Denkbilder als vieldeutige Figuren anschaulicher Erkenntnis, gleichsam als „erkenntnistheoretische Modelle, die […] ein Problem im bildhaften Aphorismus umreißen“. Gedanke und Anschauung, Begriff und Bild treten in eine unauslösliche Beziehung. Mit der Kurzprosa des Bandes Einbahnstraße bietet Benjamin ein Kaleidoskop von literarisch-philosophischen Miniaturen, die dem später geprägten Begriff der Denkbilder präzise entsprechen. Die unter dem Titel Städtebilder, Reisebilder, Denkbilder im November 1933 mit dem Pseudonym Detlef Holz in der Frankfurter Zeitung veröffentlichte kleine Sammlung von Texten besitzt keinen spezifischen Status im Hinblick auf die Theorie des Genres Denkbild.

Eine grundlegende Leitidee für sein Denken und Schreiben ist zudem die Kategorie der „Rettung“. Wie der Marburger Literaturwissenschaftler Heinrich Kaulen hervorhebt, überschneiden sich in ihr „begriffsgeschichtliche Linien aus Erkenntnistheorie, Theologie und Literaturkritik“. Erkenntnistheoretisch zieht der Begriff eine Grenze zur Methodologie der Naturwissenschaften, indem er „im Verzicht auf begriffliche Subsumption und abstrakte Generalisierung noch das Andere, Nicht-Begriffliche der Objektwelt in die geschichtliche Erinnerung einzuholen sucht“, das was Adorno mit „Rettung des Besonderen und Nichtidentischen“ bezeichnet hat. Als philosophisch-eschatologischer Begriff steht er gegen „das Wissenschaftsideal des Historizismus“ mit der Intention, die „verschütteten Elemente der Tradition“, die „uneingelösten Momente von Glück und Befreiung im Vergangenen“ im Bruch mit dem bisherigen Geschichtsverlauf zu bergen. Unter literaturgeschichtlichen Aspekten zielt die Kategorie auf „die Neubewertung und Reaktualisierung gänzlich übersehener oder […] peripherer Traditionsbestände“. Historiographisch kommt der „Rettung“ die Aufgabe zu, „die Tradition der Unterdrückten gegen die Vereinnahmung der Geschichte durch die Sieger zu bewahren“, an „die Opfer der Geschichte“ zu erinnern. Auch in der Tätigkeit des Sammlers sieht Benjamin die Rettung des Anderen, des Versäumten und Verkannten, sein Ziel ist, alles Ausgesonderte und Übriggebliebene „bis zu dem (utopischen) Punkt zu sammeln, an dem es nichts Ausgesondertes, nicht Übriggebliebenes mehr gibt“. Der Sammler wird damit zu einem Revolutionär. „Jeder von ihm gerettete Fetzen, jede Aussonderung führt am Ende dazu, sich gegen die bestehende Ordnung zu verschwören, um das kompakte Gefüge der jeweiligen Epoche in Frage zu stellen“.

Als konstitutiv für Benjamins geschichtsphilosophisches Denken klassifiziert der Literaturwissenschaftler Günter Hartung den Begriff des Mythos (auch mythische Ordnung, mythisches Zeitalter). In seiner Studie über Benjamins Mythos-Begriff erklärt Winfried Menninghaus sogar, dass die (Re)Konstruktion von „Benjamins Gebrauch dieses Wortes“ zugleich heiße, „ein Gesamtporträt seines Denkens in nuce zu geben“. Festzuhalten bleibt, dass Benjamins Mythos-Begriff „sowohl zweideutig wie vieldeutig“ ist. Adorno zufolge ist die „Versöhnung des Mythos“ das Thema von Benjamins Philosophie, und das „Spannungsfeld von Mythos und Anti-Mythos“ sei „das Spannungsfeld des ganzen Benjaminschen Denkens“. Vom Früh- bis zum Spätwerk, konstatiert Menninghaus, bleiben „Gewalt und Verblendung […] integrale Momente seines Mythos-Begriffs“. So versteht er als „mythisch beherrscht“ auch noch die aktuelle Geschichte, weil „auch in der Moderne der Mensch sich unverändert einer übermächtigen Wirklichkeit gegenübersieht“. Andererseits erfährt der Begriff in seiner „Theorie der Traumbilder“ im Passagen-Werk eine vom Surrealismus übernommene Bedeutung: die der kollektiven Bildphantasien, die den Blick für „Zeit und Raum der je gegenwärtigen Geschichte […] schärfen“. Gegen den Mythos-Begriff des Surrealisten Aragon, der im Traumbereich verharre, grenzt sich Benjamin im Passagen-Werk durch die „Konstellation des Erwachens“ ab, bei dem es um die „Auflösung der ‚Mythologie‘ in den Geschichtsraum“ gehe. Überdies bezeugen seine Schriften bei aller rigorosen Kritik am Mythos eine Sympathie für die im Mythos als Poesie gegenwärtigen Wahrheitsgehalte, die es gegen die durch die wissenschaftliche Vernunft erzeugte Verminderung von Sinnhaftigkeit und Bedeutung zu retten gelte. In der „künstlerischen Schönheit“ erblickt er eine „versöhnliche Beerbung des schrecklichen Mythos“. Menninghaus bringt es auf die Formel: Brechung und Rettung des Mythos.

Eine eigenständige Theorie Benjamins ist schwer zu bestimmen. Nachdem er sich von der Jugendkulturbewegung gelöst hatte, setzte er sich mit der Philosophie Kants bzw. der neukantianischen Universalphilosophie und in diesem Zusammenhang mit der Sprachphilosophie auseinander. Davon zeugt der 1916 geschriebene Text Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. Im Gegensatz zu dem positivistischen, an den Einzelwissenschaften orientierten Modell von Philosophie opponiert er gegen die ubiquitäre Verdinglichung der Sprache zum bloßen Zeichensystem und will das in Begriffen nicht Fixierte, überhaupt begrifflich nicht Fixierbare dennoch einholen. Durch die emphatische Beziehung der Philosophie auf die Sprache versuchte Benjamin, den herrschenden naturwissenschaftlich orientierten Erkenntnisbegriff derart umzubilden, dass dieser wieder der Erfahrungen der Theologie mächtig werde. Spätestens seit seiner Dissertation bildet die Kunstkritik ein weiteres Essential in seiner theoretischen Architektur. Bernd Witte zufolge wäre eine eigenständige Theorie Benjamins als „Synthese von Geschichtsphilosophie, Literaturkritik und Sprachtheorie“ zu denken, wobei seiner Geschichtsphilosophie freilich die von Benjamin so zahlreich bemühten theologischen Motive, insbesondere das des utopisch-messianischen, einzuschreiben wären. Nicht ohne Grund spricht einer seiner Interpreten von „Benjamins Geschichtstheologie“. Wie Geschichte zu schreiben sei, beschäftigte Benjamin während seiner gesamten Schaffenszeit.

Zu Benjamins Lebzeiten erschienen von ihm vier Bücher und drei Bände mit Übersetzungen von Baudelaire und Proust. Sie wurden nach der Erkenntnis Schöttlers „zu Lebzeiten nicht zitiert, sie haben keine Debatten hervorgerufen und ihrem Verfasser keine Anerkennung im Literaturbetrieb der Zeit eingebracht“. Unter den Büchern befanden sich seine Dissertation (Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, 1920) und die abgelehnte Habilitationsschrift (Ursprung des deutschen Trauerspiels, 1928), ferner der Aphorismenband Einbahnstraße (1928) und die kommentierte Briefsammlung Deutsche Menschen (1936).

Die Einbahnstraße mit ihren literarischen Miniaturen erschien zunächst als Broschüre mit einem von dem russischen Fotografen Sasha Stone gestalteten Umschlag. Sie gehört zu den bekanntesten Werken Benjamins und wurde als Literaturgattung zum Vorläufer und Vorbild der Miniaturen- und Aphorismensammlungen von Ernst Blochs Spuren (1930), Max Horkheimers (unter dem Pseudonym Heinrich Regius veröffentlichter) Sammlung Dämmerung (1935) und Adornos Minima Moralia (1951). In einem Brief an Scholem hatte er die Sammlung als „Aphorismen, Scherze, Träume“ angekündigt.

Seiner Dissertation Der Begriff der Kunstkritik der Romantik (1920) liegt eine intensive Beschäftigung mit der Literatur der deutschen Romantik zugrunde; in ihr findet sein Kritikbegriff eine den Frühromantikern, zuvörderst Friedrich Schlegels Dichtungstheorie nachempfundene Begründung, Dieser zufolge ist sie „ganz im Gegensatz zur heutigen Auffassung ihres Wesens, in ihrer zentralen Absicht nicht Beurteilung, sondern […] Vollendung, Ergänzung, Systematisierung des Werks“.

In den frühen Zwanziger Jahren hatte er Gedichte von Baudelaire (Tableaux Parisiens) übersetzt; sie erschienen 1923 in einer Luxusausgabe mit einer Auflage von 500 Exemplaren im Heidelberger Verlag Weißbach, zusammen mit dem programmatischen Vorwort Die Aufgabe des Übersetzers. Ihm zufolge sei der „Begriff der Übersetzung in der tiefsten Schicht der Sprachtheorie zu begründen“.

Bereits in der Schweiz erschien mit Benjamins Einleitung und Kommentaren die Publikation Deutsche Menschen (1936), unter dem Pseudonym Detlef Holz, das Benjamin seit 1933 am häufigsten verwendet hatte. Das Buch besteht aus einer Folge von Briefen, von denen die Frankfurter Zeitung schon zuvor einige veröffentlicht hatte. Nach einer Neuauflage des gut zu verkaufenden Buches hatte ein Zensor das Pseudonym durchschaut, worauf es auf den Index des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda gesetzt wurde.

Neben seinen Büchern veröffentlichte er etwa 50 Aufsätze, 400 Zeitungsbeiträge und 80 Rundfunkarbeiten. Nach dem Scheitern der Habilitation hatte sich Benjamin Publikationsmöglichkeiten in den beiden bedeutendsten Zeitungen der Weimarer Republik – Frankfurter Zeitung und Literarische Welt – geschaffen. Als Literaturkritiker und Rezensent veröffentlichte er zwischen 1926 und 1933 zahlreiche Artikel, mit der Buchbesprechung als wichtigster Publikationsform. Obwohl beide Zeitungen mindestens zweimal monatlich Arbeiten von ihm brachten, ließen die spezifischen Publikationsbedingungen des Mediums „die Herausbildung einer Autorenpersönlichkeit nicht zu“.

Mit dem Aufsatz Zur Kritik der Gewalt (erschienen 1921 im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik) diskutierte Benjamin verschiedene Gewaltformen: rechtsetzende und rechtserhaltende, rechte und gerechte (‚göttliche‘) Gewalt. Axel Honneth bezeichnet ihn als „religionsphilosophischen Traktat“ von „höchst irritierender Subtilität“, weil er von einer nüchternen akademischen Leitfrage einen „kaum merklichen Übergang zu religiösen Erwägungen vollzieht“. Sein Gewaltbegriff ist moralisch konnotiert, bezogen auf die Erzwingung „sittlicher Veränderungen in der Gesellschaft“ in Formen des Rechts. Dazu übernimmt er auch Überlegungen aus Georges Sorels Buch Über die Gewalt, insbesondere die Idee „einer moralisch begründeten, proletarischen Gewalt, […] die in der Apotheose des Generalstreiks mündete“.

Mit den Essays und Vorträgen zu Franz Kafka und Karl Kraus befasste sich Benjamin mit zwei (nicht nur) zu ihrer Zeit bedeutenden und einflussreichen literarischen Autoren, deren gemeinsame Leitbegriffe mit theologischen Konzepten korrespondierten. Mit beiden beschäftigte er sich über ein Jahrzehnt. Über Kafka veröffentlichte er drei Arbeiten (Kavaliersmoral in Literarische Welt 1929; Franz Kafka. Beim Bau der Chinesischen Mauer, Rundfunkvortrag 1931; Franz Kafka. Eine Würdigung in Jüdische Rundschau 1934). Mit der Polemik Kavaliersmoral verteidigte er Max Brod gegen den Vorwurf, dieser habe Kafkas Testamentvorschrift missachtet, die Manuskripte seiner unabgeschlossenen Werke zu vernichten. Gegen diese „kümmerliche Arroganz“ des Kritikers habe Brod mit „echter Treue gegen Kafka“ gehandelt. Bei der Würdigung handelt es sich um den Teilabdruck zweier von vier Abschnitten eines umfangreicheren Manuskripts: Frank Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages, welches erstmals 1955 in Walter Benjamins Schriften veröffentlicht wurde. Über Kraus erschienen fünf Arbeiten (die Miszelle Kriegerdenkmal im Band Einbahnstraße; Karl Kraus liest Offenbach in der Literarischen Welt 1928; die Theaterkritik über Wedekind und Kraus in der Volksbühne 1929; der dreiteilige Essay Karl Kraus. Allmensch – Dämon – Unmensch, den die Frankfurter Zeitung 1931 in vier Folgen abdruckte). Benjamin hatte bei den gut besuchten Bühnenauftritten von Kraus im Publikum gesessen und hatte ihn im Radio vortragen gehört, er verkörperte für ihn eine Elementarkraft; in dessen kritischen Aktionen sah er etwas „Menschenfresserisches“, das die Zielobjekte seiner satirischen Kritik durch Nachahmung sich von innen aneignet und so verschlingt. Nicht müde sei er geworden, Heine als „Schöpfer des Feuilletonismus“ zu denunzieren und ihm Nietzsche, als Schöpfer des Essayismus, der anderen „chronischen Krankheit“, an die Seite zu stellen und beide der „Unechtheit“ zu bezichtigen. Nach Adornos Urteil bestand zwischen Benjamin und Karl Kraus eine Wahlverwandtschaft, nämlich die, „profane Texte so zu betrachten, als wären es heilige“.

Der Essay Goethes Wahlverwandtschaften, niedergeschrieben 1921/22, bildet nach Burkhardt Lindner, neben der Dissertation und der Habilitationsschrift, die „dritte große philosophisch-ästhetische Abhandlung des Frühwerks“. Ohne bestimmten Auftrag geschrieben, ist sie häufig mit dem Zerfall seiner Ehe in Verbindung gebracht worden. Die Widmung an Julia Cohn, um die er damals vergeblich geworben hatte, legt diese Vermutung nahe, ohne dass dies zum Verständnis der Abhandlung beiträgt. Als Sachgehalt des goetheschen Werkes, befindet Lindner, habe Benjamin, entgegen der damaligen Goethephilologie nicht die Ehe bestimmt, sondern das Mythische, mit dem die Kräfte gemeint sind, die der Zerfall der Ehe freisetzt. Hugo von Hofmannsthal, der die Arbeit außerordentlich bewunderte, veranlasste ihre Veröffentlichung in den Neuen Deutschen Beiträgen in zwei Teilen 1924 und 1925.

In der als Habilitationsschrift abgelehnten Arbeit Ursprung des deutschen Trauerspiels (1925 als Manuskript abgeschlossen, 1928 als Buch publiziert) findet der Begriff der Allegorie eine „eindringliche Prägung“. Als „philosophisch komplex angelegter“ Begriff steht er für die „Destruktion des Schönen Scheins und Ausdrucksform der Melancholie“. Für Burkhardt Lindner stellt die Arbeit „die ‚Summe‘ des Benjaminschen Frühwerks“ mit der Inanspruchnahme der Esoterik dar. Alle seiner vorangegangenen Texte sind darin als Verweis oder verbogenes Selbstzitat eingegangen. Wichtig ist ihm die Unterscheidung von Tragödie und Trauerspiel. Während in der antiken Tragödie das mythische Opfer des antiken Heros einen „Vollzug im Kosmos“ darstellt, sind die Personen des Trauerspiels ausgeliefert an die „Natur-Geschichte“, als deren allegorischen Ausdruck die Melancholie sich darstellt.

Zunächst zögernd, seit Anfang der dreißiger Jahre immer entschiedener, vertrat Benjamin Positionen des dialektischen Materialismus. In dieser letzten Phase fanden seine Freundschaften mit Adorno und Brecht einen produktiven Niederschlag. Als „größter Katalysator“ der sich in seinem Werk durchsetzenden „marxistischen Tendenz“ erwies sich die Freundschaft mit Brecht. Mit ihm trat, nach Scholems Worten, „eine Elementarkraft im wahrsten Sinne“ in sein Leben. Benjamin gehörte bald zu dessen innerem Kreis. Brecht machte ihn mit dem marxistischen Politiker und Theoretiker Karl Korsch bekannt, der zu einer der Hauptquellen von Benjamins Marxismus-Kenntnissen wurde. Aus der Freundschaft und Zusammenarbeit gingen mehrere Arbeiten und Rundfunkvorträge Benjamins über das Werk von Brecht hervor (u. a. Kommentare zu Gedichten von Brecht; Was ist das epische Theater?; Brechts Dreigroschenroman).

Nachdem einer seiner ältesten Freunde, der Komponist Ernst Schoen, eine verantwortliche Position beim Südwestdeutschen Rundfunk angetreten hatte, begann Benjamin durch seine Vermittlung ab Ende der Zwanziger Jahre regelmäßig für den Hörfunk zu arbeiten. In einem weitgefächerten Gebiet von Themen war er mehr als 80-mal in den verschiedensten Formaten am Mikrofon zu hören. Obwohl er diese Arbeiten als „Brotarbeit“ ansah, gestaltete er voller Experimentierfreude „Hörmodelle“, Sendungen für jüngere Zuhörer, Hörspiele für Kinder, Lesungen und Fachvorträge.

Ein wichtiger Beitrag zur Theorie der Fotografie ist der 1931 erschienene Aufsatz Kleine Geschichte der Photographie. Er greift die lang geführte Diskussion auf, ob Fotografie überhaupt Kunst sei. Fotografie lasse sich nach Benjamin nicht mit einem „antitechnischen Begriff von Kunst“ analysieren. Er möchte Fotografie als Kunst vor allem vor dem Hintergrund von Technik und ihrer Entwicklung verstehen. Anlass für den Aufsatz waren einige Veröffentlichungen zur historischen und zeitgenössischen Fotografie. So stellt er auch die Eigenheiten der neuen Technik an frühesten Fotografien heraus. Diese besäßen einen magischen Wert, den ein gemaltes Bild nicht unbedingt erreichen könne. Auch wird in dem Aufsatz bereits der Begriff der Aura erläutert, der später im Kunstwerkaufsatz eine exponierte Rolle spielt. Aura verweist hier wie dort vor allem auf die Einmaligkeit von Zeit- und Raumerfahrungen. Für die Fotografie sieht Benjamin die Aura dennoch ambivalent. Zum einen haben die frühen Fotografien einen magischen, auratischen Mehrwert, der transzendent ist. Zum anderen lobt er aber auch ausdrücklich Fotografien, die ihr Objekt von der Aura befreit haben. Fotografien ohne solche auratischen Momente können demnach das Verhältnis von Mensch und Umwelt differenzierter darstellen und dienen so einem ideologiefreien politischen Diskurs. Nicht zuletzt aufgrund dieses Aufsatzes wird Benjamin heutzutage als der bedeutendste Fotografietheoretiker der Weimarer Republik bezeichnet.

Die Erfahrungen mit dem Rundfunk und die Überlegungen zur Fotografie gingen ein in den 1935 in der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlichten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Der Titel ist zu einer Art geflügeltem Wort geworden. Die unbegrenzte Vervielfältigung von Musik, Malerei, ja aller bildenden Künste führte nach Benjamin zum Verlust ihrer „Aura“. Damit ist auch der veränderte Rezeptionszusammenhang gemeint: Mussten sich die Kunstliebhaber früher in ein Konzert oder in eine Galerie begeben, um ihrer Leidenschaft nachzugehen, so kam es durch die technischen Reproduktionen, seien es Schallplatten-, Radioaufnahmen oder Kunstdrucke, zu einer „Entwertung des Originals“. Beruhten in der traditionellen Kunst die utopischen Gehalte auf dem schönen Schein, der „Aura“ von Kultwerten, so analysiert Benjamin an der modernen Kunst seit Baudelaire (vgl. Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus [1969]) einen fortschreitenden Verfall des Auratischen, mit dem die Kunst – vor allem der Surrealismus und das epische Theater Brechts (vgl.Versuche über Brecht [1966]), auf andere Art der Film – in den Dienst einer materialistischen Entmythologisierung eintritt und unmittelbar eine Funktion im Emanzipationskampf der Gesellschaft übernimmt. Mit seiner positiven Orientierung auf die Massen geht Benjamin über die Kritische Theorie von Adorno und Horkheimer hinaus, weil er weder deren Vorbehalte noch deren Klage teilt, „dass die Massen Zerstreuung suchen, die Kunst aber vom Betrachter Sammlung“ verlangt. Durch Fotografie und Film wird laut Benjamin das Ende der traditionellen Kunst eingeläutet, ein Vorgang, in dem er das Wirken geschichtsbildender Kräfte am Werke sah.

Von den im Umkreis des Passagen-Werks, an dem Benjamin seit 1927 arbeitete, entstammenden Baudelaire-Aufsätze erschien nur einer zu Lebzeiten: Über einige Motive Baudelaires (1939 in der Zeitschrift für Sozialforschung).

 

 

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Zum 70. Todestag von Walter Benjamin erinnert KUNO an diesen undogmatischen Denker und läßt die Originalität und Einzigartigkeit seiner Gedanken aufscheinen. Bei KUNO präsentieren wir Essays über den Zwischenraum von Denken und Dichten, wobei das Denken von der Sprache kaum zu lösen ist. Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.
Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.