Ist es möglich, dass ein in Belgien lebender Pakistaner einen deutschsprachigen Lyrikkalender ediert? Und noch dazu einen außerordentlich guten? Lehnen Sie sich für einen Augenblick zurück und denken Sie nach. Halten Sie das für wahrscheinlich oder handelt es sich um eine jener mysteriösen Geschichten, bei denen Sie im Fernsehen nach dem Ende des Kurzfilms raten sollen, ob sie erfunden wurde oder auf (angeblichen) Tatsachen basiert? Das Phänomen, mit dem ich Sie für die Dauer dieser Rezension vertraut machen möchte, ist so wahr wie die Zeilen, die Sie gerade lesen. Im belgischen Bertem erscheint im alhambra Verlag von Shafiq Naz tatsächlich seit einigen Jahren eine überaus lesens- und besitzenswerte Kalender-Anthologie mit deutschsprachiger Lyrik. „Der deutsche Lyrikkalender. Jeder Tag ein Gedicht“ umfasst sowohl klassische Dichtung als auch Gedichte der klassischen Moderne, sowie solche der unmittelbaren Gegenwart. Die nunmehr fünfte Ausgabe (2009) wurde am 8. November mit einer opulenten Leseveranstaltung im Rahmen der von Christoph Leisten organisierten „Tage der Poesie“ im Würselener Rathaus der Öffentlichkeit vorgestellt. Nahezu zwanzig Lyrikerinnen und Lyriker, darunter Hellmuth Opitz, Francisca Ricinski, Theo Breuer und Axel Kutsch, haben dort in einer dreistündigen Veranstaltung die eigenen Kalender-Gedichte und eine Auswahl von Fremdtexten gelesen. Die Zeit reichte gerade, um einen exemplarischen Querschnitt des reichhaltigen Kalenderinhalts zu präsentieren.
Poetisches (Über)Lebensmittel
„Der deutsche Lyrikkalender“ enthält 365 Gedichte, die man sich (zum Beispiel am brotberuflichen Schreibtisch) nach dem alltäglichen Umblättern als poetisches (Über)Lebensmittel einverleiben kann. So handhabt es auch Hauke Hückstädt: „Wir nutzen ihn im Büro. Zwischen zwei Anrufbeantwortern stehend das Einzige, was wirklich antwortet.“ Insgesamt sind in dem Tischkalender 300 Dichterinnen und Dichter vertreten. Das lyrische Spektrum erstreckt sich auf jede Regung menschlichen Empfindens, Erlebens, Schauens und Denkens. Für hohe bis höchste literarische Qualität bürgen Namen wie Hölderlin, Celan, Zuckmayer, Loerke, Mayröcker, Brecht, Conrady, Aichinger, Domin, Kunert, Saalberg, Gernhardt, Benn, Krolow, Pastior, Morgenstern, Fried, Heine, Kirsch, Wedekind, Grass, Fontane, Enzensberger, Hesse, Rühmkorf, Ausländer, Bender, Ringelnatz, Deppert, Härtling, Jacobs, Krüger, Mörike, Storm, Bachmann, Trakl, Beyer, Rilke, Nietzsche, Tucholsky und viele andere renommierte Dichterinnen und Dichter aus dem Dies- und Jenseits. Die Kalenderblätter enthalten neben den Gedichten und dem Tagesdatum auch die jeweiligen Wochentage bis zum Jahr 2011. Wer sich von seinem im Jahresverlauf lieb gewonnenen Exemplar am 31. Dezember 2009 nicht trennen möchte, kann es daher noch zwei Jahre länger nutzen und sich weiterhin an der filigranen Kalenderkomposition erfreuen. Dass der Begriff „Komposition“ nicht zu groß gewählt ist, beweist eine stattliche Anzahl von Gedichten, die dort wo sie stehen, nicht zufällig platziert sind, sondern offenkundig (oder im Stillen) Bezug nehmen auf Dichter, Jahreszeiten, Feier-, Fest-, Geburts- und Todestage.
Tadellos gebaut
Shafiq Naz erweist sich in der Gedicht- und Autorenauswahl als ein so profunder Kenner der deutschsprachigen Lyrik in Vergangenheit und Gegenwart, dass man geneigt ist, ein Mysterium zu vermuten, das man bis dahin für unmöglich gehalten hatte. Verwundert rätselt man und überlegt, wie es dem Herausgeber wohl gelingt, die deutsche Lyrikwelt auch im Detail und abseits des Hauptstroms besser zu überblicken als so mancher Lyriker und die meisten Feuilletonisten. Ebenso erscheint seltsam und kaum nachvollziehbar, dass „Der deutsche Lyrikkalender“ trotz der bekanntesten Dichterinnen und Dichter, die er beherbergt, bislang selbst so wenig bekannt ist, dass Feuilleton und Buchhandel ihn noch nicht wahrgenommen haben. Zumindest aber die Dichterinnen und Dichter wissen, was sie an „Der Deutsche Lyrikkalender“ haben: „Der Kalender … ist als Anthologie intelligent (anregend) gefügt und als Ding tadellos gebaut“ (Elke Erb). „Ich stellte den Kalender auf den Küchentisch – da steht er nun, in glücklichem Gelb, blitzt von Ideen und Worten und erhellt meine Tage“ (Ulrike Draesner). Selbst einen Karl Otto Conrady („Ich habe Ihre Lyrik-Kalender wirklich sehr bewundert. … Eintönigkeit kommt nicht auf.“) hat die Auswahl rundum überzeugt. „Vergessen Sie“ also „Fernseh- und Zeitungs-Nachrichten“ und „lesen Sie stattdessen um 19 oder 20 Uhr“ lieber „das Gedicht im deutschen Lyrikkalender. Der Kalender bietet“ Ihnen „jeden Tag eine gute, große, gewichtige Nachricht. Garantiert.“ (Theo Breuer).
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Der deutsche Lyrikkalender 2009. Jeder Tag ein Gedicht, Hrsg. Shafiq Naz, alhambra PUBLISHING, Bertem (Belgium) Auch in Französisch, Englisch, Spanisch und Italienisch. 410 Seiten, Ringbindung, 25,95 EUR
KUNO widmet dem Gedicht auch in diesem Jahr den genauen Blick, das aufmerksame, geduldige, ins Denken gedrehte Lesen und Wiederlesen, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.