Amnesie

 

In sich gekehrt saß er nun auf seinem Hocker, sah sich das Geschriebene an, wunderte sich, dass sein Buch nicht so einfach, so unkompliziert geschrieben werden könnte. Er wusste auch, dass man sich immer selber im Weg steht. Fragte, ob er das nun einfach und ungeprüft losschicken könne. Wie immer wieder der Verzweif- lung nahe, wie immer wieder schwankend zwischen Himmel hoch jauchzend und zu Tode betrübt schaukelte er sich langsam in einen fast schon trancierten Zustand des Weltweglassens. Nein, um sich zu retten, seine Vorstellung und den Rest an Gefühl, an positivem Gefühl, welches er irgendwo doch in sich bergen musste, konnte er gar nicht anders als losschicken, seine Zeilen dem Netz anzuvertrauen, er klickte und sollte wieder mal sehr überrascht werden, denn nur Minuten später brandete die nächste Antwortflaschenpost auf seinen Bildschirm.

„Lieber Nipp,
ein neues Buch, interessant. Hast du das Lächeln vor dem Bildschirm gesehen, das sich von Zeit zu Zeit gar zu einem Grinsen auswuchs?

Lass mich ein bisschen Kritikerin spielen, du weißt ja, es ist mein Beruf; ob Berufung, weiß ich nicht. Vielleicht könntest du mir in zwei Monaten, wenn du nicht mehr so arg beschäftigt bist wie es sich im Moment anhört, und ich mal wieder in der Stadt, einen Vorauszug zukommen lassen. Ich könnte ihn mir natürlich auch selbst abholen kommen.

Bleib am Rechner, schreib mir, ich will noch nicht aufhören, ich will weiterschreiben, dich nicht gehen lassen, mein Bildschirm ist der rettende Strohhalm, der mich aus der Tiefe reißt.

Entschuldige, dass ich ein bisschen vorspringe in der Erzählung, aber das kann man ja ohne Probleme mit einem nippischen Lächeln als Vorgriff oder Rückblende abtun.

Lieber Nipp, lass uns über Kunst reden. Über Kunst schreiben. So fangen viele Dinge an, vielleicht auch dein Buch.
Deine Nelly“

Verdutzt wieder, ja verwirrt saß er da und konnte sich nur noch wundern, hatte er um eine Möglichkeit der virtuellen Kommuni- kation gebeten, war er hier an dieser Stelle schon in einen Strudel hereingerissen, war überflügelt worden, seine Gedanken wurden einfach weitergedacht, schon jetzt bildete sich eine Selbstverständ- lichkeit, die sich leicht zur Sucht auswachsen konnte. Er konnte lächeln und verwundert dreinblicken, gleichzeitig zwischen den Stühlen sitzen und Betten liegen. Was war hier im Schwange?

Hatte sie einfach nur darauf gewartet endlich angesprochen zu werden?

Nicht alle Fragen waren hier auszusprechen, denn sie formten sich nicht einfach und bildeten mit ihren Einschüben und Subfragen ein Gestrüpp, ein Dornendickicht, dem man besser nicht im Harnisch entgegen tritt, immer in Gefahr hängen zu bleiben, wie hundert Jahre lang die Freier bei Dornröschen. Hängen zu bleiben und zu krepieren, elendig. Diese Fragen durften nicht gestellt werden, denn sie betrafen seine Existenz und würden natürlich sein gemachtes Nest zerstören, würden wie ein Buschfeuer wirken, welches nur eine kahle Landschaft hinterlässt oder ein offen da liegendes Schloss.

Stopp, an dieser Stelle sollten wir nicht weiter ins allzu Triviale abgleiten, sollten uns von dieser Mischung aus angloamerikanischen Plattheiten im Stile Follets oder im Geiste „Vom Winde ver- weht“ nicht weiter hingeben, kritischen Abstand nehmen und uns der eigenen Wurzeln besinnen, dachte Herr Nipp, nahm sich statt- dessen seine geliebten Kalliasbriefe zur Brust und stöberte einige Zeilen auf, an die er bisher nicht ernsthaft gedacht hatte. Natürlich musste sein neuestes Buch die Kunst in den Mittelpunkt der Betrachtung stehen, so war schon an dieser Stelle deutlich, dass der erste, dieser fade Beginn sich nicht würde als standhaft erweisen können. Ganz wie ein zerrissener Mensch, wie ein verformtes Wesen aus den Bildern entsprungen, durch die Jahrhunderte von Bosch über Breughel bis hin zu Matta, mit einem weiten Sprung über Goya, über Ernst zu Bacon gelangt, schaute er auf den Bild- schirm. Er löschte Buchstaben um Buchstaben, jedes Wort von hinten, die Botschaft. Er würde sie irgendwann wieder gebrauchen, das wusste er, aber dann würde sie ihm nicht mehr zur Verfügung stehen. Fast feierlich, allerdings ohne den an dieser Stelle von Brown verwendeten Pathos verschwand die Schrift, löste sich in gedacht gewesene Bits und Bytes auf, brannte sich nicht ins Gedächtnis ein, sondern machte zeitgleich einer stillschweigenden Amnesie Platz.

 

***

Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421