Lücke

 

Jahrelang war er an diesem Haus vorbei gelaufen. Die Besitzer hatten sich vor Jahr und Tag nach Spanien zurückgezogen. Auf irgendeine Insel. Niemals aber hatte jemand dort mehr gewohnt. Oft hatte sich Herr Nipp vorgestellt, in diesem Haus, das ein Gefühl von unangestrengtem Wohlstand vermittelte, zu wohnen, den riesigen Garten zu pflegen und nach und nach auszubauen, mit Natursteinen und einem gestuften Hang, durch Mauern abge- fangen, mit Steingewächsen bewachsen.

Immer hatte es geheißen, dass die Besitzer irgendwann zurück- kommen würden, das Haus wieder instand setzen. So jedoch, als leeres Haus mit dunklen Fensterlöchern sprach es der gesamten Straße Hohn. Dort wohnten angesehene Bürger aus meist wohl- habenden Familien, die mit Liebe und Geschmack die Gegend pflegten. Ärzte, Besitzer kleiner Manufakturen, Lehrer, Apotheker. Sie alle ärgerten sich, dass gerade dieses schönste, größte und wohlpatzierteste in der Nachbarschaft langsam verkam, Jahr für Jahr, Risse ansetzte im Putz, eine Scheibe hier platzte, Pflanzen sich in den Ritzen ansiedelten und bald auch das Dach beschädigen würden. Herr Nipp stellte sich vor, wie es sein müsste, wenn das Südlicht die farbigen Gläser in der Empfangshalle durchflutete.

Dann passierte endlich etwas, das Haus schien verkauft, neue Besitzer, allen hier unbekannt. Betrachteten das Haus von allen Seiten, rieben sich das Kinn und diskutierten. Tage später rückte ein Gärtnerunternehmen mit drei Arbeitern an, fällte die Bäume, entfernte die Wurzeln, das Unkraut, die Wiese wurde gepflügt. Endlich würde das Haus in neuer Schönheit erstrahlen. Gestern machte Herr Nipp einen Spaziergang, auch um zu sehen, was in den letzten Tagen weiteres passiert war, vielleicht auch mit den neuen Besitzern ein Gespräch zu führen. Er fand das Haus nicht mehr. Es war entfernt worden, wie die Bäume.

 

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421