Zu Ines Hagemeyers Gedichtband Bewohnte Stille

 

Bewohnte Stille klingt ungewohnt. Erst recht, wenn sie – kaum verklungen – im Nachwort widerhallt.

Das Leitmotiv des Gedichtbandes ist die Dissonanz von Schreiben und Schweigen, von Stille und Stimme. Sie gründet im Bruch zwischen Leben und Geschichte. Dem gerade geborenen Kind wird das Leben im Vaterland und in der Muttersprache von der Deutschen Geschichte abgesprochen (Stück-). Leben ist nur als Überleben möglich, als ständige Erinnerung an vergangenen und künftigen, an fremden und eigenen Tod, an Mord (überlebt; postrituell; eine Zeit). Der historische Exodus wird zum existentiellen Exil des Ich, zum universalen Exitus von Sinn (lebensort).

Leise versuchen Muttermilchstories (Berlin 33) den Schmerz des Verlusts mittels Sprechen zu stillen. Auf der Flucht in die Fremde dient die Dichtung als Zuflucht, das Ich richtet sich ein im Papierhaus des Gedichts (Nomade; Findel). Die Stille wird bewohnt von einer fremd klingenden Sprache, einer durch innere und äußere Mehr- und Fremdsprachigkeit veränderten und vertieften Sprache (largo assai; betroffen; Clair de lune; canción para guitarra, canción a Madrid). Ein zuhörendes und ein sprechendes, ein lesendes und ein schreibendes, ein zusammengehörendes Ich und Du begegnen sich in der Stille des Buchs, das den Bruch der Geschichte zu verarbeiten sucht. Im dualen Selbstgespräch versuchen das Du und das Ich den Mißklang von Stille und Stimme, von Aufschrei und Schreiben in Einklang zu bringen (tja; ein; Flucht).

Bisweilen glückt dies in überraschend gefügten Bildern und Klängen, insbesondere an den Übergängen zwischen den Sprachen. Die Bild- und Klangfolgen bilden ein ausgedehntes Netz von Assoziationen, das die Gedichte der Sammlung subtil miteinander verknüpft. So spiegelt sich das finstere Fluchtmeer der Kindheit (Stück-) im lichten Naturmeer der Gegenwart (Cala d’Or). Wechselseitig verdunkeln und erhellen die Meeresbilder einander; oder sie verstärken sich wie der stumme Einbaum am Ufer (TREIBhaus) und das verlorene Segel auf dem Atlantik (Stück-). Daheimgebliebene und Heimkehrende treffen sich zu fugalem Klagegesang (largo assai), der angesichts sich unverhofft einfindender Kinder zum Hohen Lied der Hoffnung wird. Die Tränenkrüge, die Sulamit und Margarethe an der Trauerquelle füllen, lassen sich daher – assoziativ –  zurückverwandeln in den lebenspendenden Wasserkrug der Brunnen- und Frühlingsheiligen Margarethe und in den Lebens- und Liebesbronn der biblischen Sulamit.

Im Gespräch der Sprachen liegt die vielleicht wichtigste Botschaft der Gedichte. Der Entzug des sprachlichen Mutterbodens (Exilfoto) bringt eine neuartige Fremd- und Mehrsprachigkeit hervor; die sprachliche Notgeburt wird zur dichterischen Tugend. Sie versucht den Urgrund der Dichtung, die zu sich selbst kommende Sprache, welche vielsprachig und weltsprachig ist, sprachenvergleichend zu erkunden. Die deutsche Muttersprache wird gewissermaßen noch einmal erlernt, und zwar auf dem Hintergrund des lateinamerikanischen Spanisch, der Sprache des Exils, und weiterer Sprachen wie Französisch, Italienisch, Englisch, Lateinisch und Katalanisch. Die ungewohnte Fremdheit der Muttersprache wird begleitet von einer zunehmenden Vertrautheit mit der Fremdsprache, wodurch insgesamt ein neues Sprachgebilde, ein Interlekt, entsteht.

Wenn auch die überwiegende Menge der Gedichte des Bandes eine deutschsprachige Oberfläche hat, so ist diese doch von fremden Klang- und  Bedeutungslinien durchzogen, die ihr eine polyglotte Marmorierung verleihen,  beginnend mit bedeutsamen, bisweilen seltsamen Fremdwörtern, die bald im Titel bald im Text als Schlüsselwörter erscheinen. So wird in einem der eindringlichsten Gedichte, in Fall, die Echtheit der Erinnerung an die Vergangenheit durch das doppelt entfremdende Wort „Souvenir“ in Frage gestellt. Dagegen wird in dem skeptischen Clair de lune mittels eines spiegelverkehrten  Echos – „Luna verklärt“ – ein subliminaler, beinahe sublimer Einklang zwischen den Sprachen geschaffen. Eine ähnliche Wirkung ruft der zwischensprachliche Zusammenklang von „largo“ und „Margarethe“ in largo assai hervor.

Einige Gedichte treten in einer deutsch-spanischen Doppelfassung auf (Korrespondenz / correspondencia, Cala d’Or, Djang, schau mal / mira). In ihnen sind Original und Übersetzung nicht zu erkennen. Analog dem rhetorischen Umkehrverfahren des Hysteron Proteron, der zeitlichen Verdrehung des Späteren und des Früheren, das in der numerischen Abfolge der Strophen II (1) und I (2) in der deutschen wie in der spanischen Fassung von Cala d’Or vorliegt, können die deutsche und die spanische Fassung wechselweise als Original oder als Selbstübersetzung gelesen werden. Die Übersetzung hat keine bloße Nutzfunktion, sondern versteht sich als sprachenvergleichende Korrespondenz, als dichterische Übersprachlichkeit. Als Gegenprobe dienen zwei spanische Gedichte, canción para guitarra und canción a Madrid, die unübersetzt bleiben und als reine Lieder, als in einem anderen Sinne übersprachliche canciones, wirken.

Das in meinen Augen gelungenste Gedicht, betroffen, mischt als einziges ausgedehnte deutsche und spanische Sequenzen. Nachdem zunächst die deutsche und die spanische Sprache, beginnend mit der deutschen, alternierend auf einzelne Sequenzen verteilt wurden (I-III), kreuzen sich die Sprachen innerhalb derselben Sequenz (IV), bevor das Gedicht eine Wende nimmt und in einer spanischen Strophe (V) endet. Die Dichterin inszeniert auf der ozeanischen Bühne des Lebens und der Geschichte ihre eigene Lebensgeschichte als Sprachgeschichte. In dem wogenden Sprachentheater setzt sie abwechselnd die Masken des Deutschen und des Spanischen auf. Der „Stacheldraht“ – des Lagers und des Krieges – wird verwandelt in „bambalinas“, in eine rituelle Kulisse, „cumpliendo ritos als ob nichts sei“. Quer über den Ozean knüpft sich von Norden nach Süden, „de norte a sur“, entlang eines ergrauten Kabelzopfes, „una larga trenza … un cabo ya vuelto gris“, ein Bildnetz, das den Klang der Meeres- und Mehrsprachigkeit einzufangen sucht. Das Sprachentheater entfaltet sich auf der inneren Bühne des Ich, heißt aber auch den Leser als Mitbewohner der Stille des Buches willkommen: „esperando que alguno / se ponga a escuchar“ – „in Erwartung von jemand, der hinhört“.

 

 

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Bewohnte Stille, Gedichte von Ines Hagemeyer. Pop, Ludwigsburg 2007

Weiterführend  Eine Einführung in das Werk von Ines Hagemeyer.

 Fragen im Schlepptau, Gedichte von Ines Hagemeyer. Ludwigsburg: Pop Verlag 2021. Lesen Sie hierzu Kein Ankerplatz, nirgendwo.

 handverlesen: Gedichte von Ines Hagemeyer. Mit 15 Tuschezeichnungen von PAPI. POP-Verlag, Ludwigsburg 2015 – Lesen Sie hierzu ÜBER SCHATTEN UND NEBEL.

 aus dem Gefährt das dir Träume auflädt, Gedichte von Ines Hagemeyer, mit 14 Tusche-Zeichnungen von PAPI. POP-Verlag, Ludwigsburg 2011 – Lesen Sie hierzu Über den Welten.