Galgenkindes Wiegenlied

 

Schlaf, Kindlein, schlaf,

am Himmel steht ein Schaf;

das Schaf, das ist aus Wasserdampf

und kämpft wie du den Lebenskampf.

Schlaf, Kindlein, schlaf.

 

Schlaf, Kindlein, schlaf,

die Sonne frißt das Schaf,

sie leckt es weg vom blauen Grund

mit langer Zunge wie ein Hund.

 

Schlaf, Kindlein, schlaf.

 

Schlaf, Kindlein, schlaf.

Nun ist es fort, das Schaf.

Es kommt der Mond und schilt sein Weib;

die läuft ihm weg, das Schaf im Leib.

 

Schlaf, Kindlein, schlaf.

 

 

***

Galgenlieder, von Christian Morgenstern. Erschienen im Verlag Bruno Cassirer. Berlin 1905

„In jedem Menschen ist ein Kind verborgen, das heißt Bildnertrieb und will als liebstes Spiel- und Ernst-Zeug nicht das bis auf den letzten Rest nachgearbeitete Miniatür-Schiff, sondern die Walnußschale mit der Vogelfeder als Segelmast und dem Kieselstein als Kapitän. Das will auch in der Kunst mit-spielen, mit-schaffen dürfen und nicht so sehr bloß bewundernder Zuschauer sein. Denn dieses ‚Kind im Menschen‘ ist der unsterbliche Schöpfer in ihm […].“

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.